06.12.2020, 19:05
„Es sind nur noch ein paar Zentimeter! Vielleicht, wenn ich mich hier so rüberbeuge, und irgendwer hält mich an den Füßen fest –?“
Trevor hing schon jetzt beinahe kopfüber von der Reling. Aber es fehlte noch immer mindestens eine halbe Mannslänge (er hatte das ein bisschen beschönigt, zugegeben), bis er mit dem Ende des weit ausgestreckten Wischmops das vorbeitreibende Fass erreichen konnte. Vor einer gefühlten Ewigkeit hatte die Mannschaft ihres Beuteschiffs es über Bord geworfen, warum auch immer, Ballast loswerden oder so was. So eine Chance konnte man sich nicht entgehen lassen! Trevors zu höchster Wichtigkeit auserkorenes Ziel war es, besagtes Fass in die Nebelbank zu schubsen. Wenn er nur ein paar Zentimeter näher herankam …
Immerhin tat ihm der Nebel den Gefallen und rückte näher. Das tat er jetzt schon eine ganze Weile, immer ein kleines Stückchen, wenn man gerade nicht hinsah – viel zu langsam für Trevors Geschmack. Alles war viel zu langsam! Wie lange jagten sie diesem Schiff jetzt schon hinterher? Es war ihm völlig unverständlich, wie die Neulinge beim Wort „Kampf“ das Gesicht verziehen konnten. Warterei! Ewige Warterei brachte einen in Lagen wie diese, halb über der Reling hängend, mit einem Wischmop in der Hand – er wusste, wovon er da redete. Er hatte wirklich alles getan: Das Schiff war inzwischen blitzblank, er hatte sogar das Steuerrad poliert, um Shannys eisern daran festhaltende Hände herum selbstverständlich. Anschließend hatte er die Putzsachen ordentlich(!) verstaut, sein Hemd angezogen und sofort wieder ausgezogen, es ausgewrungen und schließlich doch wieder übergestreift – hey, es war jetzt sogar sauberer als vorher, man konnte fast das Gelb durchschimmern sehen! In der Zwischenzeit war das erbsengroße Handelsschiff zu einem daumengroßen angewachsen und Trevor stöhnte theatralisch auf.
Er durchwühlte den Waffenhaufen (zwei Mal), fand aber keine Waffen, die ihm besser gefielen als seine eigenen. Apropos. Er brauchte nicht lange, um seine Waffen auf Vordermann zu bringen – die eine Sache, bei der er immer absolut ordentlich und gewissenhaft war, war ja klar, das ihm das mal zum Verhängnis werden würde! Er lud sogar seine Pistolen. Und das Handelsschiff war immer noch nicht viel größer geworden.
Er hörte sich Ceallaghs Vogelgeschichte und einen Teil von Rúnars Pferdegeschichte an, verlor die Geduld, sah nach, ob Greg in Ordnung war und versicherte ihm, dass er definitiv ihn retten würde und nicht so ein doofes Pferd, vorausgesetzt, die auf dem Handelsschiff hatten ein Pferd und er kam in die Bredouille, sich entscheiden zu müssen. Was er jetzt noch nicht sagen konnte, weil das Schiff noch nicht nahe genug war, um Pferde ausmachen zu können. Danach durchwühlte er den Waffenhaufen ein drittes Mal und fand den Wischmop. (Vielleicht hatte er die Putzsachen doch nicht so ordentlich weggeräumt.)
Und jetzt stand er hier mit den anderen zusammen an der Reling. Na ja, die anderen standen, er hing.
„Es ist für die Wissenschaft! Wenn das Fass im Nebel zerhackt wird, wissen wir, dass die Schatten Vögel sind. Wenn es zertrampelt wird, sind es Pferde, und wenn wir nur ein lautes PLOP und ein Gurgeln hören, ist es das zehnbeinige oder -armige oder -schwänzige oder -köpfige Ungeheuer, das es unter die Wasseroberfläche gezo–“
Talins Ruf unterbrach ihn abrupt. Sofort vergaß Trevor das Fass, sprang zurück auf seine Füße und das keinen Moment zu früh. Kanonendonner ließ die Sphinx erbeben, etwas, das ihn leicht über Bord hätte werfen können, so viel immerhin hatte er in vier Jahren Piratendasein gelernt. Er scherte sich nicht weiter darum, sondern rannte hinüber zum Bug, um einen besseren Blick auf das andere Schiff zu haben.
Falls sie Pferde an Bord hatten, verfrachteten sie nicht in die Rettungsboote. Sie hissten auch keine weiße Flagge. Trevor kniff die Augen zusammen. Genaugenommen sah es nicht so aus, als würde sie irgendetwas Besonderes tun. Nebelfetzen zogen über das Deck der Sphinx und vermischten sich mit dem Rauch der eben gezündeten Kanone. Trevor wedelte beides mit der Hand weg und drehte sich strahlend zu den anderen an Bord um.
„Sieht ganz so aus, als wird das nichts mit der ‚friedlichen Übernahme all ihrer Besitztümer‘!“
[bei "den anderen", wer auch immer das alles ist, an bzw. über der Reling, dann am Bug]