15.11.2020, 10:22
Rúnar lachte leise und hatte kurz das Bedürfnis ihr den Ellbogen in die Seite zu stupsen, aber er ließ es sein. "Es wird wohl noch etwas dauern, bis ich mich dran gewöhnt habe, aber ausschließen würde ich es jetzt nicht." Und vielleicht hatte er sich geirrt. Auf ihre nächste Frage hin zögerte er kurz, aber sagte dann doch: "Du bist aufmerksam." Das war ein ernst gemeintes Kompliment. "Ich hatte kurz überlegt, ob ich dich fragen soll, wie dein Leben aussah, bevor du zur Crew gestoßen bist. Ich hab mich bislang mehr als einmal wie der letzte Idiot gefühlt, weil ihr alle so wirkt, als seid ihr als Piraten geboren worden." Wenn das so war, dann würde ihn das auch nicht wundern. "Und ich hab euch auch noch gezielt aufgesucht -- und bin letztendlich doch ziemlich unfähig. Oder unnütz. Oder beides." Er wollte kein Mitleid oder nach Komplimente angeln. Es war nur eine Tatsache.
Mit einem etwas schrägen Grinsen versuchte Shanaya sich ihr Gegenüber als mutigen, tollkühnen Seefahrer vorzustellen, der einer Geschichte nach der anderen hinterher jagte. Das passte in ihrem Kopf nicht zusammen, aber sollte er weiter mit ihnen segeln, konnte sie sich selbst ja ein Bild davon machen. Viel mehr lag die Konzentration der jungen Frau jedoch auf dem Blonden und seinem Verhalten und bei seiner kleinen Anmerkung lachte Shanaya auf. „Merk dir das, mir entgeht kaum etwas.“ Ein vielsagendes Grinsen lag nun auf den Lippen der Dunkelhaarigen, während sie abwartete, ob Rúnar weiter sprechen würde. Was er dann zu sagen hatte, ließ die junge Frau erneut auflachen. „Ich sagte doch bereits, man kann mich fragen, was man will… manchmal kriegt man eben nur keine Antwort.“ Sie strich sich eine der nassen Strähnen aus dem Gesicht, überlegte kurz. „Stell also eine genauere Frage und ich überlege mir, ob ich antworte. So viel vorweg – ich wurde nicht als Piratin geboren.“ Seine letzten Worte ließen den Ausdruck dann wieder ein wenig hämischer werden. „Da gibt es nur ein Mittel gegen. Tu etwas dafür, dass es nicht so ist. Sonst bestehst du nicht lange.“ Keine Wertung lag in ihrer Stimme – das war schlicht eine Tatsache.
Rúnar musste nun auch grinsen. Er nickte. "Stimmt, ja. Das hattest du gesagt. Offensichtlich bin ich nicht ganz so aufmerksam." Seine Mine wurde wieder etwas ernster, aber er behielt das Lächeln auf den Lippen. "Dann habe ich zwei Fragen: Hast du eine Familie? Ich meine -- im Sinne von Blutsverwandten oder Menschen die dich aufgezogen haben." Denn ihm schien so, als würde sie diese Leute hier als ihre Familie bezeichnen. "Und: Was kann ich tun?" Rúnar konnte sich die Antwort darauf eigentlich ausmalen: Leg mal deine feinen Klamotten ab, die sind unnötig. Werd mal ein bisschen entspannter, das hier ist nicht der königliche Hof. Und so weiter. Er arbeitete gerade daran aus seiner designierten Kiste auszubrechen, also würde er sich nicht direkt wieder in eine andere zwängen lassen.
Shanaya wog nur mit einem zustimmenden Ausdruck auf dem Gesicht den Kopf etwas zur Seite, ging sonst aber nicht weiter auf die Worte ihres Gegenübers ein. Konnte ja nicht jeder die gleichen Fähigkeiten wie sie haben. Viel mehr konzentrierte sich die junge Frau auf seine Frage, die ihr zuerst ein Lachen entlockte. „Habe ich. Aber über Blutsverwandtschaft geht das nicht hinaus.“ In keinem Fall, von keiner der beiden Seiten. Diese Verwandtschaft zählte für keinen von ihnen. Rúnars nächste Frage ließ die Schwarzhaarige jedoch nur leise schnaufen. „Dafür bin ich wirklich der denkbar schlechteste Ansprechpartner. Mir ist egal, wie man sich einbringt, was man tut, um nicht hinterher zu hinken. Hauptsache, man tut es. Und wenn nicht… auch dann bin ich nicht da, um Händchen zu halten. Mach dir selbst darüber Gedanken, nur wenn etwas wirklich von dir kommt, kannst du dahinter stehen.“ Wieder lag keinerlei Wertung in Shanayas Stimme. Das war das, was sie dazu sagen konnte. Jeder musste selbst seinen Weg finden – und sich darum bemühen, dass er ihn nicht wieder aus den Augen verlor.
Hm. Rúnar musste schmunzeln. "Bei mir ist es genau anders herum. Nun, nicht genau, aber ... " Er nahm einen tiefen Atemzug. "Der Grund warum mein Vater und ich uns gestritten haben bevor er verschwunden ist, war, weil ich mein Leben lang aufopferungsvoll für unsere Familie da war. Ich als Erbe. Das war ihm ja so wichtig. Und dann finde ich heraus, dass er gar nicht mein Vater ist. Und ich nicht sein Erbe. Und er es die ganze Zeit gewusst hat." Er schnalzte mit der Zunge. "Na ja. Ich möchte nicht schon wieder jammern. Bist du also bei der Crew gelandet, weil du von deiner Familie weg wolltest?" Und auch auf Shanayas zweite Antwort hin ging Rúnars Schmunzeln in ein echtes Lächeln über. Damit hatte er nicht gerechnet. "Das bekomme ich hin." Er nickte zufrieden. Irgendetwas konnte er beitragen. Und er hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass er es mit Leuten zu tun hatte, die jemanden für das schätzten was er mitbrachte und nicht für das, was sie selbst wollten.
Kurz ließ Shanaya den blauen Blick zu der Straße wandern, auf dem sich ein Rinnsal nach dem anderen bildete. Rúnar erzählte seine Geschichte, die junge Frau hob erst wieder den Blick, als sie glaubte, seine Erzählung sei beendet. Auf ihren Lippen lag ein amüsiertes Lächeln. Würde sie irgendetwas von dieser Geschichte im Kopf behalten? Vermutlich nicht, auch wenn es nicht ausgeschlossen war. „Weißt du… das klingt ziemlich hart, aber mir sind die Geschichten unserer Crewmitglieder eigentlich egal. Ich urteile nach dem, was ich zu sehen bekomme.“ Sie wog den Kopf ein wenig zur Seite, atmete dann tief durch und antwortete dann auf seine nächste Frage. „So kann man es sagen, ja.“ Das traf die Sache schon sehr genau. „Warum interessiert dich das?“ Eine ruhige Frage, in der ehrliches Interesse mit schwang.
Rúnar nickte verständnisvoll. "Ich hätte auch nicht von dir erwartet, dass du darauf eingehst. Es war aber gut, es mal loszuwerden." Zumindest, es laut loszuwerden. Er hatte bislang mit niemandem darüber gesprochen. Außer mit Nótt. Aber Nótt war nicht da -- sie war Tinte auf einem Stück Papier. Nur das. Im ersten Moment dachte Rúnar, dass er vielleicht eine Linie übertreten hatte -- wenn Shanaya sich selbst nicht für die Vergangenheit anderer interessiert, hielt sie es vielleicht für taktlos wenn einer direkt danach fragte. Aber ihre Frage klang nicht so. Rúnar zuckte mit den Schultern und gab ein verlegenes Lächeln. "Weil ich neugierig bin. Und weil ich andere dann besser einschätzen kann, denke ich. Im Sinne von, dass ich gewisse Verhaltensweisen dann besser deuten kann und entsprechend darauf reagieren kann."
Shanaya konnte nicht wirklich wissen, was Rúnar mit seinen Fragen bezweckte, selbst bei seiner Antwort hatte sie keine vollkommene Sicherheit. Aber was sollte er mit diesem Wissen schon anfangen? Die, die an sie heran kommen wollten, würden das ohne irgendwelche Informanten schaffen. Und vielleicht wusste Rúnar nicht einmal etwas von dem gesuchten Piraten, der ihr persönlich nach dem Leben trachtete? „Soso. Und? Meinst du, du kannst mich jetzt besser einschätzen und meine Beweggründe besser verstehen?“
Rúnar legte bewusst den Kopf schief und sah Shanaya an. "Hm. Nein. Aber ich weiß ja auch noch nicht wirklich viel." Er grinste. Sie waren eindeutig nicht auf der selben Wellenlänge. Zumindest noch nicht. Er würde ihr Fragen stellen und sie würde ihm keine stellen und dann müsste er es drauf ankommen lassen, ob sie darauf antwortete. Wie eine Katze, die vor einem Mauseloch saß und geduldig darauf wartete, dass zumindest die Nase der Maus einmal kurz hervorlugte. Geduldig. Das war er. Einfühlsam. Nicht besonders. (Außerdem war er wahrscheinlich eher die Maus und Shanaya eher die Katze -- wenn auch nicht in gerade dieser Situation.) "Du redest nicht gerne über deine Vergangenheit, oder?"
In einer zustimmenden Geste nickte Shanaya ruhig mit dem Kopf. Gut, da hatte er Recht. Ob er noch mehr fragen würde? Was ihn wohl noch so interessierte, um sie besser einschätzen zu können? Sie blieb dabei – jeder konnte sie fragen, was er wollte. Aber es gab eben auch Dinge, auf die würde sie nicht antworten, nicht bei irgendwem. Dazu… gehörte schon deutlich mehr. Die Frage des Blonden ließ die junge Frau schließlich auflachen. Tja… „Ich habe überhaupt kein Problem damit, von meiner Vergangenheit zu sprechen. Aber erstens finde ich sie nicht wichtig… und zweitens erzähle ich nicht jedem alles, was er wissen möchte. Die meisten geht es einfach nichts an…“ Ein leises Schnaufen folgte, ehe sie weiter sprach. „Außerdem bin ich ein sehr… misstrauischer Mensch. Und wer weiß, wie du diese Infos irgendwann gegen mich verwenden könntest.“ Ein lauerndes Grinsen legte sich auf die Lippen der Schwarzhaarigen, während sie Rúnar mit einem festen Blick betrachtete.
Rúnar hob verteidigend die Hände, aber musste weiter grinsen. "Nichts liegt mir ferner, als Informationen gegen jemanden zu verwenden. Aber Misstrauen hat so an sich, dass du mich dabei wahrscheinlich nicht beim Wort nehmen wirst," sagte er. "Das ist schlau. Und wahr. Eigentlich ist es nicht wichtig. Aber vielleicht hast du einen besseren Sinn dafür, was für eine Art Mensch jemand ist, ohne konkrete Dinge über ihn zu wissen. Ich kann das nicht. Du bist praktisch eine tabula rasa für mich. Außer, dass ich jetzt weiß, dass du Bücher magst." Er zeigte auf den Stapel hinter Shanaya. "Zum Beispiel. Aber warum magst du Bücher? Sowas muss ich wissen, um dich einschätzen zu können. Eigentlich." Er kniff kurz die Augen zusammen und sah zur Seite, dann wieder zu Shanaya. "Ergibt das Sinn?"
Als Rúnar die Hände hob und seine guten Absichten aussprach, im fast gleichen Atemzug aber schon ihre Antwort darauf nannte, deutete Shanaya zustimmend mit der Hand auf den Blonden. „Exakt, das hast du ganz richtig erkannt.“ Seine nächsten Worte ließen sie kurz überlegen, ehe sie leicht den Kopf schüttelte. „Meine Menschenkenntnis ist ziemlich gut… aber wie gesagt, ich urteile nach dem, was ich sehe. Wenn du dich in meiner Nähe wie ein Idiot verhältst entgeht mir das nicht. Andersrum genauso. Mir entgeht quasi nichts.“ Dazu brauchte sie keine langen Gespräche – auch wenn nur das Verhalten ihr Gegenüber wirklich für die zählte. Die Erwähnung der Bücher ließ ihren hellen Blick kurz zu dem kleinen Stapel wandern. „Das ist einfach. Wissen ist Macht. Als Navigatorin muss ich wissen, welche Route die taktisch klügste ist, welche man nehmen kann, ohne auf Grund zu laufen – und welche am besten ist, um Verfolger eben dieses Schicksal zu verpassen. Und die Romane… ich kann vermutlich in meinem Leben nicht so viel erleben, dass es meinen Abenteuerdurst stillen könnte… also muss ich das auf anderem Weg unterstützen.“ Damit legte sich ihr Blick wieder auf den Blonden. „Jeder hat so seine Angewohnheiten, nicht wahr?“ Und wenn es so für ihn Sinn ergab…
"Genau das meinte ich," sagte Rúnar. Und ihre Antwort sagte ihm nicht nur etwas darüber, warum sie gerne las, sondern auch darüber, wie misstrauisch sie tatsächlich war. Mehr als er zunächst dachte. Vielleicht entging ihr deshalb nichts. Vielleicht musste sie deshalb alles wissen -- damit sie nicht Gefahr lief sich auf etwas oder jemanden zu verlassen, von dem sie sich nicht zuerst selbst überzeugt hatte. Nur das mit den Abenteuern ... "Als Angewohnheit würde ich das nicht bezeichnen. Angewohnheit impliziert, dass es etwas ist, das man so oft gemacht hat, dass es auf eine vornehmlich negative Art außerhalb der eigenen Kontrolle liegt. Reiten ist zum Beispiel etwas, das ich immer und immer wieder machen muss, weil ohne es mein Leben nicht vollkommen wäre -- das macht es aber nicht zu einer Angewohnheit."
Das stete Tropfen des Regens auf dem Dach, unter dem Shanaya mit Rúnar stand, wurde allmählich leiser, weckte in der jungen Frau das Wissen, das sie bald zur Sphinx zurück kehren können würde. Ohne dabei vollkommen aufgeweichte Bücher. Zuerst lauschte sie jedoch den Worten des Hellhaarigen, hob dabei eine Augenbraue leicht in die Höhe. Einen Moment hielt sie diese Miene aufrecht, ehe sie auflachte und mit einem leisen Schnaufen endete. „Du machst es dir einfach viel zu kompliziert.“ Sie klopfte dem Älteren kräftig mit einer Hand auf die Schulter, ehe sie sich an ihre Bücher wandte, sie wieder anhob und mit dem Kopf entlang die Gasse deutete. „Ich mache mich auf den Weg zurück zur Sphinx? Wie sieht es bei dir aus?“ Vielleicht fielen ihm ja auf dem Weg zum Schiff noch irgendwelche tiefgehenden Fragen ein, um sie besser verstehen zu können.
Rúnar musste laut auflachen. "Das höre ich nicht zum ersten Mal." Ganz kurz, jedoch nicht sichtbar, durchfuhr ihn ein Schreck, als Shanaya ihm auf die Schulter klopfte -- aber der Schreck wandelte sich sofort zu einem warmen Gefühl in seiner Brust. Das. Genau das. Von Leuten gut behandelt zu werden, weil er so war wie er war, nicht weil er der Sohn eines neureichen Landadligen war, oder ein vielversprechender Geschäftspartner, oder ein Teil der Familie. Er fühlte sich weniger fehl am Platz als bislang. "Ich komme mit. War ohnehin auf dem Weg zur Sphinx." Er streckte die Hände aus. "Kann man dir was abnehmen?"
Mit einem etwas schrägen Grinsen versuchte Shanaya sich ihr Gegenüber als mutigen, tollkühnen Seefahrer vorzustellen, der einer Geschichte nach der anderen hinterher jagte. Das passte in ihrem Kopf nicht zusammen, aber sollte er weiter mit ihnen segeln, konnte sie sich selbst ja ein Bild davon machen. Viel mehr lag die Konzentration der jungen Frau jedoch auf dem Blonden und seinem Verhalten und bei seiner kleinen Anmerkung lachte Shanaya auf. „Merk dir das, mir entgeht kaum etwas.“ Ein vielsagendes Grinsen lag nun auf den Lippen der Dunkelhaarigen, während sie abwartete, ob Rúnar weiter sprechen würde. Was er dann zu sagen hatte, ließ die junge Frau erneut auflachen. „Ich sagte doch bereits, man kann mich fragen, was man will… manchmal kriegt man eben nur keine Antwort.“ Sie strich sich eine der nassen Strähnen aus dem Gesicht, überlegte kurz. „Stell also eine genauere Frage und ich überlege mir, ob ich antworte. So viel vorweg – ich wurde nicht als Piratin geboren.“ Seine letzten Worte ließen den Ausdruck dann wieder ein wenig hämischer werden. „Da gibt es nur ein Mittel gegen. Tu etwas dafür, dass es nicht so ist. Sonst bestehst du nicht lange.“ Keine Wertung lag in ihrer Stimme – das war schlicht eine Tatsache.
Rúnar musste nun auch grinsen. Er nickte. "Stimmt, ja. Das hattest du gesagt. Offensichtlich bin ich nicht ganz so aufmerksam." Seine Mine wurde wieder etwas ernster, aber er behielt das Lächeln auf den Lippen. "Dann habe ich zwei Fragen: Hast du eine Familie? Ich meine -- im Sinne von Blutsverwandten oder Menschen die dich aufgezogen haben." Denn ihm schien so, als würde sie diese Leute hier als ihre Familie bezeichnen. "Und: Was kann ich tun?" Rúnar konnte sich die Antwort darauf eigentlich ausmalen: Leg mal deine feinen Klamotten ab, die sind unnötig. Werd mal ein bisschen entspannter, das hier ist nicht der königliche Hof. Und so weiter. Er arbeitete gerade daran aus seiner designierten Kiste auszubrechen, also würde er sich nicht direkt wieder in eine andere zwängen lassen.
Shanaya wog nur mit einem zustimmenden Ausdruck auf dem Gesicht den Kopf etwas zur Seite, ging sonst aber nicht weiter auf die Worte ihres Gegenübers ein. Konnte ja nicht jeder die gleichen Fähigkeiten wie sie haben. Viel mehr konzentrierte sich die junge Frau auf seine Frage, die ihr zuerst ein Lachen entlockte. „Habe ich. Aber über Blutsverwandtschaft geht das nicht hinaus.“ In keinem Fall, von keiner der beiden Seiten. Diese Verwandtschaft zählte für keinen von ihnen. Rúnars nächste Frage ließ die Schwarzhaarige jedoch nur leise schnaufen. „Dafür bin ich wirklich der denkbar schlechteste Ansprechpartner. Mir ist egal, wie man sich einbringt, was man tut, um nicht hinterher zu hinken. Hauptsache, man tut es. Und wenn nicht… auch dann bin ich nicht da, um Händchen zu halten. Mach dir selbst darüber Gedanken, nur wenn etwas wirklich von dir kommt, kannst du dahinter stehen.“ Wieder lag keinerlei Wertung in Shanayas Stimme. Das war das, was sie dazu sagen konnte. Jeder musste selbst seinen Weg finden – und sich darum bemühen, dass er ihn nicht wieder aus den Augen verlor.
Hm. Rúnar musste schmunzeln. "Bei mir ist es genau anders herum. Nun, nicht genau, aber ... " Er nahm einen tiefen Atemzug. "Der Grund warum mein Vater und ich uns gestritten haben bevor er verschwunden ist, war, weil ich mein Leben lang aufopferungsvoll für unsere Familie da war. Ich als Erbe. Das war ihm ja so wichtig. Und dann finde ich heraus, dass er gar nicht mein Vater ist. Und ich nicht sein Erbe. Und er es die ganze Zeit gewusst hat." Er schnalzte mit der Zunge. "Na ja. Ich möchte nicht schon wieder jammern. Bist du also bei der Crew gelandet, weil du von deiner Familie weg wolltest?" Und auch auf Shanayas zweite Antwort hin ging Rúnars Schmunzeln in ein echtes Lächeln über. Damit hatte er nicht gerechnet. "Das bekomme ich hin." Er nickte zufrieden. Irgendetwas konnte er beitragen. Und er hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass er es mit Leuten zu tun hatte, die jemanden für das schätzten was er mitbrachte und nicht für das, was sie selbst wollten.
Kurz ließ Shanaya den blauen Blick zu der Straße wandern, auf dem sich ein Rinnsal nach dem anderen bildete. Rúnar erzählte seine Geschichte, die junge Frau hob erst wieder den Blick, als sie glaubte, seine Erzählung sei beendet. Auf ihren Lippen lag ein amüsiertes Lächeln. Würde sie irgendetwas von dieser Geschichte im Kopf behalten? Vermutlich nicht, auch wenn es nicht ausgeschlossen war. „Weißt du… das klingt ziemlich hart, aber mir sind die Geschichten unserer Crewmitglieder eigentlich egal. Ich urteile nach dem, was ich zu sehen bekomme.“ Sie wog den Kopf ein wenig zur Seite, atmete dann tief durch und antwortete dann auf seine nächste Frage. „So kann man es sagen, ja.“ Das traf die Sache schon sehr genau. „Warum interessiert dich das?“ Eine ruhige Frage, in der ehrliches Interesse mit schwang.
Rúnar nickte verständnisvoll. "Ich hätte auch nicht von dir erwartet, dass du darauf eingehst. Es war aber gut, es mal loszuwerden." Zumindest, es laut loszuwerden. Er hatte bislang mit niemandem darüber gesprochen. Außer mit Nótt. Aber Nótt war nicht da -- sie war Tinte auf einem Stück Papier. Nur das. Im ersten Moment dachte Rúnar, dass er vielleicht eine Linie übertreten hatte -- wenn Shanaya sich selbst nicht für die Vergangenheit anderer interessiert, hielt sie es vielleicht für taktlos wenn einer direkt danach fragte. Aber ihre Frage klang nicht so. Rúnar zuckte mit den Schultern und gab ein verlegenes Lächeln. "Weil ich neugierig bin. Und weil ich andere dann besser einschätzen kann, denke ich. Im Sinne von, dass ich gewisse Verhaltensweisen dann besser deuten kann und entsprechend darauf reagieren kann."
Shanaya konnte nicht wirklich wissen, was Rúnar mit seinen Fragen bezweckte, selbst bei seiner Antwort hatte sie keine vollkommene Sicherheit. Aber was sollte er mit diesem Wissen schon anfangen? Die, die an sie heran kommen wollten, würden das ohne irgendwelche Informanten schaffen. Und vielleicht wusste Rúnar nicht einmal etwas von dem gesuchten Piraten, der ihr persönlich nach dem Leben trachtete? „Soso. Und? Meinst du, du kannst mich jetzt besser einschätzen und meine Beweggründe besser verstehen?“
Rúnar legte bewusst den Kopf schief und sah Shanaya an. "Hm. Nein. Aber ich weiß ja auch noch nicht wirklich viel." Er grinste. Sie waren eindeutig nicht auf der selben Wellenlänge. Zumindest noch nicht. Er würde ihr Fragen stellen und sie würde ihm keine stellen und dann müsste er es drauf ankommen lassen, ob sie darauf antwortete. Wie eine Katze, die vor einem Mauseloch saß und geduldig darauf wartete, dass zumindest die Nase der Maus einmal kurz hervorlugte. Geduldig. Das war er. Einfühlsam. Nicht besonders. (Außerdem war er wahrscheinlich eher die Maus und Shanaya eher die Katze -- wenn auch nicht in gerade dieser Situation.) "Du redest nicht gerne über deine Vergangenheit, oder?"
In einer zustimmenden Geste nickte Shanaya ruhig mit dem Kopf. Gut, da hatte er Recht. Ob er noch mehr fragen würde? Was ihn wohl noch so interessierte, um sie besser einschätzen zu können? Sie blieb dabei – jeder konnte sie fragen, was er wollte. Aber es gab eben auch Dinge, auf die würde sie nicht antworten, nicht bei irgendwem. Dazu… gehörte schon deutlich mehr. Die Frage des Blonden ließ die junge Frau schließlich auflachen. Tja… „Ich habe überhaupt kein Problem damit, von meiner Vergangenheit zu sprechen. Aber erstens finde ich sie nicht wichtig… und zweitens erzähle ich nicht jedem alles, was er wissen möchte. Die meisten geht es einfach nichts an…“ Ein leises Schnaufen folgte, ehe sie weiter sprach. „Außerdem bin ich ein sehr… misstrauischer Mensch. Und wer weiß, wie du diese Infos irgendwann gegen mich verwenden könntest.“ Ein lauerndes Grinsen legte sich auf die Lippen der Schwarzhaarigen, während sie Rúnar mit einem festen Blick betrachtete.
Rúnar hob verteidigend die Hände, aber musste weiter grinsen. "Nichts liegt mir ferner, als Informationen gegen jemanden zu verwenden. Aber Misstrauen hat so an sich, dass du mich dabei wahrscheinlich nicht beim Wort nehmen wirst," sagte er. "Das ist schlau. Und wahr. Eigentlich ist es nicht wichtig. Aber vielleicht hast du einen besseren Sinn dafür, was für eine Art Mensch jemand ist, ohne konkrete Dinge über ihn zu wissen. Ich kann das nicht. Du bist praktisch eine tabula rasa für mich. Außer, dass ich jetzt weiß, dass du Bücher magst." Er zeigte auf den Stapel hinter Shanaya. "Zum Beispiel. Aber warum magst du Bücher? Sowas muss ich wissen, um dich einschätzen zu können. Eigentlich." Er kniff kurz die Augen zusammen und sah zur Seite, dann wieder zu Shanaya. "Ergibt das Sinn?"
Als Rúnar die Hände hob und seine guten Absichten aussprach, im fast gleichen Atemzug aber schon ihre Antwort darauf nannte, deutete Shanaya zustimmend mit der Hand auf den Blonden. „Exakt, das hast du ganz richtig erkannt.“ Seine nächsten Worte ließen sie kurz überlegen, ehe sie leicht den Kopf schüttelte. „Meine Menschenkenntnis ist ziemlich gut… aber wie gesagt, ich urteile nach dem, was ich sehe. Wenn du dich in meiner Nähe wie ein Idiot verhältst entgeht mir das nicht. Andersrum genauso. Mir entgeht quasi nichts.“ Dazu brauchte sie keine langen Gespräche – auch wenn nur das Verhalten ihr Gegenüber wirklich für die zählte. Die Erwähnung der Bücher ließ ihren hellen Blick kurz zu dem kleinen Stapel wandern. „Das ist einfach. Wissen ist Macht. Als Navigatorin muss ich wissen, welche Route die taktisch klügste ist, welche man nehmen kann, ohne auf Grund zu laufen – und welche am besten ist, um Verfolger eben dieses Schicksal zu verpassen. Und die Romane… ich kann vermutlich in meinem Leben nicht so viel erleben, dass es meinen Abenteuerdurst stillen könnte… also muss ich das auf anderem Weg unterstützen.“ Damit legte sich ihr Blick wieder auf den Blonden. „Jeder hat so seine Angewohnheiten, nicht wahr?“ Und wenn es so für ihn Sinn ergab…
"Genau das meinte ich," sagte Rúnar. Und ihre Antwort sagte ihm nicht nur etwas darüber, warum sie gerne las, sondern auch darüber, wie misstrauisch sie tatsächlich war. Mehr als er zunächst dachte. Vielleicht entging ihr deshalb nichts. Vielleicht musste sie deshalb alles wissen -- damit sie nicht Gefahr lief sich auf etwas oder jemanden zu verlassen, von dem sie sich nicht zuerst selbst überzeugt hatte. Nur das mit den Abenteuern ... "Als Angewohnheit würde ich das nicht bezeichnen. Angewohnheit impliziert, dass es etwas ist, das man so oft gemacht hat, dass es auf eine vornehmlich negative Art außerhalb der eigenen Kontrolle liegt. Reiten ist zum Beispiel etwas, das ich immer und immer wieder machen muss, weil ohne es mein Leben nicht vollkommen wäre -- das macht es aber nicht zu einer Angewohnheit."
Das stete Tropfen des Regens auf dem Dach, unter dem Shanaya mit Rúnar stand, wurde allmählich leiser, weckte in der jungen Frau das Wissen, das sie bald zur Sphinx zurück kehren können würde. Ohne dabei vollkommen aufgeweichte Bücher. Zuerst lauschte sie jedoch den Worten des Hellhaarigen, hob dabei eine Augenbraue leicht in die Höhe. Einen Moment hielt sie diese Miene aufrecht, ehe sie auflachte und mit einem leisen Schnaufen endete. „Du machst es dir einfach viel zu kompliziert.“ Sie klopfte dem Älteren kräftig mit einer Hand auf die Schulter, ehe sie sich an ihre Bücher wandte, sie wieder anhob und mit dem Kopf entlang die Gasse deutete. „Ich mache mich auf den Weg zurück zur Sphinx? Wie sieht es bei dir aus?“ Vielleicht fielen ihm ja auf dem Weg zum Schiff noch irgendwelche tiefgehenden Fragen ein, um sie besser verstehen zu können.
Rúnar musste laut auflachen. "Das höre ich nicht zum ersten Mal." Ganz kurz, jedoch nicht sichtbar, durchfuhr ihn ein Schreck, als Shanaya ihm auf die Schulter klopfte -- aber der Schreck wandelte sich sofort zu einem warmen Gefühl in seiner Brust. Das. Genau das. Von Leuten gut behandelt zu werden, weil er so war wie er war, nicht weil er der Sohn eines neureichen Landadligen war, oder ein vielversprechender Geschäftspartner, oder ein Teil der Familie. Er fühlte sich weniger fehl am Platz als bislang. "Ich komme mit. War ohnehin auf dem Weg zur Sphinx." Er streckte die Hände aus. "Kann man dir was abnehmen?"