08.11.2020, 21:47
Unter dem strengen Regime seines Vaters auf der Mytilus hätte sich Lucien im Traum nicht vorstellen können, wie es sich anfühlte, sein eigenes Schiff zu befehligen. Auch wenn es von Beginn an Kalems Ziel gewesen war, seinen Sohn zu seinem Nachfolger als Kapitän zu machen und auch wenn es nicht das erste Manöver war, das Lucien koordinierte, überraschte ihn unterbewusst doch, wie selbstverständlich er entschied und weitergab, was er vorhatte – und wie souverän und entschlossen jeder einzelne dem nachkam. Es war, als hätten sie als Crew schon dutzende Überfälle zusammen geplant und als einte sie alle – mehr oder weniger – die Vorfreude auf ein kommendes Abenteuer, das sie alle an einem Strang ziehen ließ.
Das Kommando auf der Mytilus war für ihn ein jahrelanger, erbitterter Kampf mit nur wenigen treuen Anhängern gewesen. Das Zusammenspiel auf der Sphinx hingegen erinnerte ihn vielmehr an ein frisch geschmiedetes Uhrwerk: Neu und noch etwas kantig, aber ineinander greifend. Mal sehen, wie lange sie diesen Zustand halten konnten.
Während Lucien seine Anweisungen gab, bekam er den kurzen Austausch zwischen Ceallagh und Shanaya nicht mit. Erst, als er seine Aufmerksamkeit wieder auf den Blonden richtete und ihn mit heiterem Plauderton dazu aufforderte, seine Idee auszuführen, widmeten sie sich beide wieder dem jeweils anderen und der Suche nach einer geeigneten Strategie.
Ein kurzer, gespielt drohender Seitenblick galt zwischenzeitlich der Schwarzhaarigen, der ihr versprach, dass ihr Captain sie doch noch in irgendeinem Labyrinth verscharrte, wenn sie für ein paar Seeungeheuer ihre Beute entkommen ließ. Doch dann konzentrierte Lucien sich gänzlich auf Ceallaghs Erläuterung und konnte nicht verbergen, dass auch ihn die Aussicht auf eine Begegnung mit ein paar spektakulären und möglicherweise todbringenden Bestien ziemlich reizte. Er folgte dem Fingerzeig des Blonden zunächst zu einem Punkt auf der Karte, bevor er den Blick hob und ihm mit nun deutlich ernsthafterem Interesse ins Gesicht sah.
Inzwischen hatte sich auch Tarón zu ihnen gesellt, der die Idee aufgriff, seinen zuvor geäußerten Gedanken daran spann und damit Luciens Blick auf sich zog. Ein flüchtiges Schmunzeln huschte über seine Lippen, während er auch diesen Gedankengängen aufmerksam folgte und dabei die Arme vor der Brust verschränkte. Wer hätte gedacht, dass sie sich trotz des Risikos, das die Fahrt in den Nebel und in das Territorium der Vögel mit sich brachte, alle dafür begeistern konnten? Gut, bei Shanaya hätte er ohnehin mit nichts anderes gerechnet und auch bei Ceallagh nicht. Tarón hingegen offenbarte damit eine Abenteuerlust, in der er sich selbst unerwartet wiederfand. Und das machte ihm den Seemann sichtlich noch ein Stück sympathischer.
„Gut, ich hatte ohnehin vor, auf irgendetwas zu schießen. Lärm sollte also kein Problem sein... Bei der ganzen Sache stellen sich mir nur zwei Fragen... Erstens, nur damit wir uns richtig verstehen: Wie groß meint 'groß'?“ Er warf Ceallagh einen kurzen, neugierigen Blick zu und sah dann wieder auf die Karte und die gedachte Linie der Nebelbank östlich ihrer Position. „Und wie kommen wir hinterher an unsere Beute, ohne selbst Opfer dieser Vögel zu werden?“
Lucien hatte kaum zu Ende gesprochen, als James' entsetzter Zwischenruf ertönte und sie in ihrer Überlegung unterbrach. Er hob den Kopf – zunächst überrascht, dann belustigt. Ein Schmunzeln erschien auf seinen Lippen.
„Wo bleibt denn deine Abenteuerlust, James? Keine Sorge, das klingt verrückter, als es in Wahrheit ist.“
Nein, viel wahrscheinlicher war das Gegenteil, aber das würde er dem Frischling nicht auf die Nase binden. Darüber hinaus lenkte ihn eine weitere Gestalt ab, die schwer bepackt auf das Achterdeck hinauf kam und ihnen Meldung machte. Nur am Rande nahm Lucien mit dem Blick in ihre Richtung auch Skadi und Liam wahr, die an Deck kamen - der eine von oben, die andere von unten - und Talin, die sich zu Isala gesellt hatte, um ihr mit dem Log zu helfen. Unwillkürlich fühlte er sich an die Tage erinnert, an denen er ihr oben auf dem Kliff erklärt hatte, was für Arbeiten auf einem Schiff anfielen. Unter anderem, wie man die Geschwindigkeit maß. Er hatte ihr die Spule mit ein paar Ästen symbolisch sogar nachgebaut, damit sie es besser verstand. Alles, um Kelekuna irgendwann mit ihr zusammen zu verlassen.
Kopfschüttelnd vertrieb er die Erinnerung und sah zurück zu Soula. Dann lächelte er, nickte und wies aus der Bewegung heraus mit dem Kopf in Richtung des Hauptdecks.
„Leg die Taue am Bug bereit und die Waffen am Hauptmast. Wer unbewaffnet ist, soll sich dort bedienen.“ Noch einmal huschte sein Blick zum Deck zurück und er runzelte unwillkürlich leicht die Stirn, bevor er nach unten rief: „Und seht zu, dass ihr das Deck trocken bekommt. Sonst brechen wir uns alle das Genick, bevor irgendjemand irgendetwas entert.“