03.11.2020, 23:01
Frau Tóta machte Anstalten Skaðis Hand zu nehmen - das machte sie immer, wenn sie jemanden trösten wollte; sie nahm jemandes Hand in ihre eine und tätschelte sie liebevoll mit ihrer anderen, während sie einem beruhigende Worte zusprach - aber sie zog ihre Hände wieder zurück.
"Ich denke wir sind in Ordnung," sagte Jón und versuchte überzeugend zu klingen.
Frau Tóta seufzte und legte den Kopf schief. "Na ..." Es klang, als hätte es zu einem zweifelnden Na ja werden sollen, aber sie seufzte nochmal und sagte: "Na gut." Sie stand auf, strich ihren Rock glatt, aber griff abermals angespannt in den Stoff. Sie warf Rúnar einen Blick zu und er nickte, auch, wenn seine geröteten Augen andeuteten, dass er alles andere als in Ordnung war. "Klingelt einfach, wenn ihr mich braucht, ich werde mit Hrafn und Hekla in ihrem Kinderzimmer sein."
Kjartan machte im Türrahmen platz für Frau Tóta und kam dann mit einem Tablett auf dem drei gemusterte Porzellantassen standen auf die Sitzgruppe zu. "Die arme Frau Tóta. Ich hätte ihr besser nichts gesagt. Ich hoffe, sie hat euch nicht noch mehr aufgewühlt." sagte er, als er die Tassen auf den Tisch stellte.
"Morgen weiß es eh die ganze Stadt," sagte Jón. Normal hätte er das in einem amüsierten Ton gesagt, aber diesmal war es emotionslos und abgeschlagen. Und Kjartan hätte gelächelt, weil er wusste, dass es stimmte, weil es immer so war, aber er tat es nicht.
Nói Freyssons gesegnetes Pferd war brutal umgekommen, weil sein Sohn und sein Neffe zu unfähig waren.
Sólfari. Bisher hatte Rúnar nur an Sólfari gedacht. Wenn nicht die Bären sein Todesurteil gewesen waren, dann der Bruch. Rúnar schloss die Augen, ehe die Tränen wieder flossen. Aber für Sólfari war alles nur sehr kurz und sehr schmerzhaft gewesen. Und jetzt war es wahrscheinlich schon vorbei. Nói hingegen ... wie wütend würde er sein, wie traurig, wie viel Unglück malte er sich aus? Und wie lange würde es anhalten?
Hatte sie die ganze Zeit ruhig neben den anderen gesessen und war allmählich eins mit der Stille und dem Polster geworden, auf dem sie saß, weiteten sich die Augen der Nordskov voller Schrecken bei Jóns Worten. Wenn die halbe Stadt davon erfuhr, dann vielleicht auch die ganze Insel. Ihr Vater würde derart zornig werden, dass der erste Gedanken, der in ihrem Kopf daraufhin aufblitzte, all zu verlockend war. Lieber erfror sie draußen in dieser hellen, weißen Kälte, als sich dem Zorn ihres Vaters zu stellen. Und dem, was damit einher ging.
"Ich..." Wie von selbst hatte sich der schmale Körper erhoben. Von etwas Unsichtbarem aufgescheucht, das gleichwohl Rúnar heimsuchte. Skadi hatte dafür allerdings keinen Blick mehr, sah noch immer gehetzt vom Boden zu Kjartan hinauf und schob sich die Hände beinahe fröstelnd über die Ellenbogen.
"... ich bin gleich wieder da."
Und schon floh die junge Nordskov aus dem Raum heraus. Stolperte über den Flur und stapfte fast blind durch das Anwesen, das so weit von der Heimat, der Wärme und ihrer Mutter war.
Rúnar hatte nicht mehr genug Nerven beisammen. Er saß nur da und sah zu, wie Skaði den Raum verließ. Starrte auf den leeren Türrahmen. Dann verließ Jón den Raum. Oder er war zumindest dabei -- er hielt im Türrahmen an und dreht sich um, hob die Schultern. "Kommst du?"
Rúnar blinzelte. "Ich?" Seine Stimme war noch etwas belegt.
"Ja, du! Rumsitzen macht nichts besser."
Aber ich kann nicht mehr. Er stellte seine halb leere Kakaotasse auf den Tisch und stand auf. Zögerte noch einen Moment -- und folgte Jón. Als Rúnar auf Jóns Höhe war tätschelte dieser ihm kurz die Schulter, dann lief er los.
Rúnar versuchte Schritt zu halten. Er konnte wirklich nicht mehr. Die mentale Anstrengung hatte ihm mindestens genau so viel abgerungen wie die körperliche.
"Skadi!" rief Jón.
Die erste Wand gegen die sie krachte, brachte sie fast zu fall. Wie angeschossen stand die junge Nordskov auf einer Kreuzung von Wegen und wusste nicht recht, wo sie hin sollte. Hinter sich hörte sie Jóns Stimme, die erst jemand anderem, dann ihr galt. Darauffolgend Schritte, die immer näher kamen. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Mit solcher Kraft, dass sie sich immer wieder zu räuspern versuchte und doch am Ende nur noch panisch nach Luft rang. Wie ein aufgescheuchtes Reh sprang sie zur Seite, hetzte den Gang hinab und verfehlte mit nach hinten gerichteten Augen die ersten Treppenstufen vor sich. Rumpelnd segelte der schmale Körper die Stufen hinab und lag fluchend und zusammengekrümmt am Fuße der Treppe. Mit aufgeschürftem Knie und Ellenbogen. Kinn und Handrücken gleichfalls ramponiert. Das war einfach nicht ihr Tag.
Rúnar hätte das Krachen durch Jóns Rufe fast nicht gehört, aber gerade als Skaðis Name abgeklungen war, hörte er etwas. Im ersten Moment dachte er, es seien die Tritte eines Pferdes gegen eine Boxenwand gewesen, aber die Ställe waren außer Hörweite und die Pferde waren auf der Weide. Es war von der Treppe gekommen.
O-oh.
Rúnar zupfte Jón am Ärmel und ging Richtung Treppe.
"Huh?" machte Jón. Aber er verstand sofort. Er war schneller bei beim Treppenabsatz als Rúnar und Rúnar sah, wie Jóns ganzer Körper sich anspannte. "Oh, Götter."
Jón hastete die Treppe runter. Rúnar traute sich gar nicht hinzusehen, aber als er es tat, sah es weniger schlimm aus, als er es sich ausgemalt hatte.
Mit einem tiefen Atemzug versuchte sich Skadi aufzurichten und presste die Lippen aufeinander. Dass Jón bereits die Treppe hinab rannte, war ihr nun gänzlich egal. Der Schmerz, der sich durch ihren Körper zog, lenkte jegliche Aufmerksamkeit auf sich. Ohnehin war es jetzt zu spät weiter davon zu laufen.
"Alles... alles gut." Wenig überzeugend hob sich ihre Hand einige Zentimeter empor. Ihre Schulter zog. Entlockte ihr ein schweres Seufzen.
"Ja, ist klar", sagte Jón. Er war schon bei ihr, machte Anstalten ihr aufzuhelfen, seine Arme ausgestreckt, bereit sie hochzuziehen, falls sie das wollte.
Rúnar war noch nicht ganz unten -- und hörte ein paar schwere, hektische Schritte aus dem Flur. Sein Herz begann sofort zu rasen. Ihre Väter...
Niedergeschlagen und mit mattem Ausdruck auf den Zügen griff Skadi nach Jóns Händen. Zu sehr damit beschäftigt den Kloß in ihrem Hals und den Stein auf ihrer Brust zu entfernen. Und nur ein Blick über die Schulter und an dem dunklen Haar vorbei in Richtung Treppe verriet, dass es Rúnar ähnlich erging.
“Können wir uns irgendwo verstecken? Nur für eine Weile?“
Fast flehend huschten die braunen Augen zurück in ihre Winkel. Musterten den jungen Mann, dessen Hände sie auch dann nicht los ließ, als ihre Füße festen Boden unter sich spürten.
Jón und Skaði hielten sich fest, als hinge ihr Leben davon ab. Rúnar tat dasselbe mit dem Treppengeländer. Er fühlte sich auch so, als hinge sein Leben davon ab. Als würde er in Ohnmacht fallen, wenn er sich nicht an irgendwas klammerte, das ihn Aufrecht hielt.
Jón sagte: "Ich würde mich gerne für den Rest meines Lebens verstecken." Es war ein Scherz gewesen, aber das verständnisvolle Lächeln und das Nicken das er Skaði gab waren ernst.
“Rúnar?“
Skadi war Jón nur wenige Schritte gefolgt, kaum dass er ob ihres zustimmendes Nickens den Gang hinab lief. Sah sich zu dem Weißhaarigen um, der noch immer an der Treppe stand, als habe er sich keinen Millimeter bewegt. Das Poltern in ihrem Rücken schien nun so nah, dass selbst sie es nicht mehr unter dem starken Herzschlag überhören konnte.
Einem Reflex folgend löste sich die Nordskov von dem Jungen neben sich. Schritt auf Rúnar zu, der wie eingefroren am Geländer der Treppe festhing.
“Sie werden uns nicht finden, wenn wir es nicht wollen.“, flüsterte sie ihm zu. Berührte seinen Handrücken nur weniger Sekunden mit ausgestreckten Fingern.
“Du bist nicht allein.“
Weder in diesem Haus, noch in der Mensch gewordenen Angst, die ihn so starr und bewegungslos machte. Skadi konnte sich an allen Fingern abzählen, was auf sie wartete, sobald sie mit ihrem Vater allein war. Womöglich erging es Rúnar nicht anders- die Nordskov glaubte sogar fest daran. Sie kannte es nicht anders.
Rúnar schnappte aus seiner Starre heraus, als Skaðis Finger seinen Handrücken berührten. Reflexartig nahm er ihre Hand. Etwas Lebendes, an dem er sich festhalten konnte. Als würde man sich die Angst teilen, obwohl man genau so viel Angst hatte, wie die andere Person.
Er gab Skaði ein schiefes Lächeln, ein Nicken.
"Jón!" Onkel Nóis Stimme von oben. "Rúnar!" Rúnar konnte seine Tonlage nicht richtig deuten. Er klang nicht wirklich wütend. Aber irgendwie doch.
Jón zuckte fast unmerklich zusammen. Sein Blick schnellte nach oben, zum Treppenanfang, dann wieder zurück zu Skaði und Rúnar. Er winkte den beiden, ihm zu folgen. "Der Weinkeller."