18.10.2020, 18:33
Es dauerte keine Minute, bis Liam die Entfernung geschätzt hatte und eine entsprechende Antwort nach unten rief. Etwa fünf Meilen – plus, minus, denn das ließ sich auf offener See ohne Fixpunkte nur schwer abschätzen – und mindestens zehn Mann an Deck. Zehn Mann war gut, wenn es bei dieser Zahl blieb, denn dann wären sie nicht nur schneller, sondern auch in der Überzahl.
Lucien nickte bestätigend, ohne darüber nachzudenken, ob der Mann im Krähennest die Geste überhaupt mitbekam. Ohnehin dachte der junge Captain gerade an nichts, was nicht dem ins Auge gefassten Ziel diente und es waren genau diese Situationen, die er so genoss, weil er keine Zeit für die üblichen Sorgen hatte und keine Gedanken verschwendete an Dinge, die ihn vielleicht oder vielleicht auch nicht hätten belasten können. Er handelte, traf innerhalb weniger Herzschläge Entscheidungen aufgrund kühler Berechnung und nüchterner Erfahrung. Und wo ihm die fehlte, konnte er sich Hilfe holen. Zum Beispiel Ceallagh. Oder Tarón.
Als der Ältere eine mögliche Strategie einwarf, huschten die tiefgrünen Augen kurz zu ihm, dann zu Shanaya hinüber, die ihre Zustimmung ausdrückte, und ein nachdenkliches Stirnrunzeln folgte. Ihre Beute in die Nebelwand drücken...? Er winkte Tarón zu sich hinauf aufs Achterdeck.
„Das musst du mir nochmal genauer erklären, sobald Ceallagh hier ist. James!“ Damit wandte er sich an den Leichtmatrosen und trat mit einer Hand am Tau zur Seite, um ihm deutlich zu machen, dass er übernehmen sollte. „Pass auf, dass das Segel gut vor dem Wind bleibt.“
Lucien ging nicht davon aus, dass sich die Windrichtung ändern würde, weshalb er wohl auch nicht daran dachte, auch zu erklären, was James dann hätte tun müssen. Seine Gedanken huschten längst weiter zu dem Plan, den Tarón angeschnitten hatte und der möglicherweise von Erfolg gekrönt sein könnte. Trotzdem wollte er dazu Ceallaghs Meinung wissen, der die Gewässer seiner Heimat sicherlich am Besten kannte. Vielleicht war ihm auch das Phänomen dieses Nebels vertraut. Etwas, das es hier oben öfter gab?
Er kehrte zu Shanaya zurück, kaum dass James das Segel übernommen hatte und blieb vor dem Kartenpult stehen, wo er auch Tarón erwartete. Das kurze Wortgeplänkel zwischen der Schwarzhaarigen und ihrem Frischling entlockte dem 21-Jährigen dabei ein amüsiertes Schmunzeln. Doch da in diesem Augenblick Ceallagh die Stufen zum Achterdeck erklomm, erübrigte sich jeder Einwand seinerseits.
Lucien sah auf, sah dem Blonden entgegen und bemerkte auch das Auftauchen seiner kleinen Schwester nur Augenblicke später. Dann kehrte seine Aufmerksamkeit zu seinem alten Freund zurück, der sich bereits zu ihm gesellte und dessen Züge nachdenklich in die Ferne wiesen. Sah ganz so aus, als hätte er sich in Ceallagh nicht getäuscht. Ihm schien tatsächlich etwas einzufallen, dass ihnen in dieser Gegend von Nutzen sein konnte – ganz unabhängig von den Karten und den Eigenheiten des Meeres hier, die Shanaya ganz gewiss ausführlichst recherchiert hatte, bevor sie Calbota verlassen hatten. Allerdings erschloss sich ihm der Sinn hinter den Worten des Blonden nicht sofort. Einen Riesenkraken? Unwillkürlich zog Lucien eine Braue in die Höhe und sein Mundwinkel verzog sich zu einem amüsiert-spöttischen Schmunzeln.
„Auf mein Verhältnis zu Glück sollten wir uns gerade jetzt lieber nicht verlassen.“, erwiderte er mit einem selbstironischen Unterton in seiner ansonsten belustigten Stimme. „Ich wollte nur ein kleines Handelsschiff überfallen... nicht die Sphinx versenken.“
Nur kurz, fast beiläufig huschte sein Blick dabei übers Hauptdeck, wobei er registrierte, dass sich Rúnar, Trevor und Josiah um die vorderen Segel kümmerten. Genug Hände, um diese Aufgabe zu erfüllen, sodass Isala nicht weiter von Nutzen sein konnte. Nicht für die drei dort unten. Allerdings durchaus für ihn, Tarón und Ceallagh, wenn sie vor hatten, einen Plan zu schmieden.
Dass Rúnar sich ebenfalls an die junge Frau wandte, bemerkte Lucien gar nicht, als er unter das Kartenpult griff, die Spule und das Log hervor holte und die Stimme über das Knattern der Segel erhob.
„Isala!“ Er wartete nur ein paar Augenblicke, bis sie ihn bemerkte und zu ihm aufsah, ehe er Log und Spule vom Achterdeck zu ihr hinunter warf. „Wir brauchen unsere Geschwindigkeit. Jetzt und noch mal in ungefähr zehn Minuten. Kriegst du das hin?“
Seine Frage war eher rhetorischer Natur, denn aus purer Gewohnheit ging er wie zuvor auch bei James davon aus, dass jeder wusste, was er zu tun hatte. Und wenn nicht, würde sicherlich Trevor oder sein blasser Freund ihr erklären, wie sie mit einem Log umging.
„Aber red' weiter. Meine Neugier hast du in jedem Fall geweckt.“
Und dieses Mal grinste er Ceallagh kurz zu, bevor James ihn noch einmal unterbrach und Lucien mit einem gutmütigen Abwinken antwortete.
„Keine Sorge, den kannst du später noch holen, wenn es nicht jemand anderes für dich tut. So schnell haben wir die nicht eingeholt.“