11.10.2020, 16:30
“Vielleicht weiter oben im Norden.“ Mit beiden Händen drehte der Hüne die Karte auf den Kopf und tippte mit zusammengezogenen Augenbraue auf eine kleinere Inselgruppe.
“Es gibt einige Erzählungen über Wälder und Seen, in denen Mädchen und junge Frauen verschwunden sein sollen.“ Für einen kurzen Moment lugten die blaugrünen Augen aufmerksam unter dem Rand seiner Augenbrauen zu Talin empor, die am anderen Tischende gegenüber stand. Seit Minuten diskutierten sie über mögliche Ziele und Abenteuer. Warfen mit Ideen, Geschichten und Gerüchten um sich, nur um Notizen, Symbole und Kreuze auf grobschlächtigen Karten zu hinterlassen, bei deren Anblick Shanaya wohl in Ohnmacht gefallen wäre.
“Auch wenn ich die Vorstellung eines geheimnisvollen Wesens, das in Gestalt eines Mannes seine Opfer mit seinem Liebreiz bezirzst, durchaus interessant finde…“, begann Ceallagh mit einem verhaltenen Schmunzeln auf den Zügen, “… bin ich doch etwas skeptisch, ob nicht mehr an den Gerüchten dran ist, dass…“
Mitten im Satz drang aufgeregtes Gepolter vom Deck hinab. Verstärkte sich, je weitere der Schmuggler sich aufrichtete und mit skeptischem Blick von Talin zur Tür der Kapitänskajüte hinüber sah. Irgendetwas mischte sich unter den Klangteppich, das ihn aufhorchen ließ. Etwas, das nicht von der Sphinx stammte. Entfernter. Über mehrere Meter. Oder gar Meilen? Noch immer verstand er die Worte nicht, die sich über Deck zugebrüllt wurden. Doch der Tonfall ließ keinen anderen Schluss zu, als dass sie sich in Alarmbereitschaft befanden. Gerade als sich der hohe Körper herum wandte und in Richtung Türrahmen schritt, tauchte Alex‘ lockiger Hinterkopf in seinem Blickfeld auf. Wenig später die scharmanten Worte, die den Blonden amüsiert auflachen und die grünblauen Augen zu Talin herumfahren ließen.
“Schätze unsere Abenteuersuche hat ein jähes Ende gefunden.“
Wie sehr er sich darüber freuen würde, überließ er dem, was sich ihm innerhalb weniger Schritte an Deck bot. Worauf Lucien es abgesehen hatte, konnte er zwar nur unter Vorbehalt erahnen, doch ging er nicht davon aus, dass sie geradewegs auf eines der Marineschiffe zusteuerten. Sofern es sich hier überhaupt um einen Angriff, statt einer Seeflucht handelte.
Binnen weniger Schritte und einem beherzten Griff in die dichten Haare des Carpenters – zur Belustigung seiner selbst und um sich an den Beleidigungen zu stärken, die dieser ihm zweifellos zuwarf – trat der Hayes ins Freie. Verschwendete kaum Zeit, um den Arbeiten am Segel beizuwohnen, sondern führte seinen Weg hinauf auf Achterdeck fort. Gerade rechtzeitig, als Tarón seine Worte erhob und Ceallagh die letzte Stufe erklomm.
Wie aufs Stichworte wandte sich der Hüne herum. Ließ den Blick einige Sekunden auf der herannahenden Nebelbank ruhen, ehe er sich wieder abwandte und an Lucien vorbei neben Shanaya trat.
“Wie nah sind wir bereits an Ritus Küste?“
Für einen kurzen Moment musterte der Blonde die Navigatorin aus den Augenwinkeln. Hielt die blaugrünen Augen eine unendliche Atempause lang auf dem Handelsschiff, dessen winzige Punkte an Deck aufgeregt vor und zurück liefen. Zehn Mann. Mindestens, wenn er den lauten Rufen Liams im Krähennest Glauben schenkte. Offensichtlich hatte das Schiff mit den roten Segeln weitreichende Bekanntheit erlangt. Hoffentlich wurde ihnen das in naher Zukunft nicht noch zum Verhängnis.
“Mh…“ Nur langsam wandte Ceallagh seinen Blick über das Deck in Richtung Asanu, dessen Küste backboard lag und kaum mehr am Horizont zu erkennen war. Die letzte Zuflucht vor dem Nebel, der sich wie eine undurchsichtige Wand des Grauens auf sie zubewegte. Unter das anhaltende Rauschen und Schmatzen der Wellen am Schiffsrumpf mischten sich zusehends die Stimmen der Crew. Gepolter von Stiefeln auf den dunklen Planken. Kreischende Möwen nicht unweit des Schiffes. Erkennbar als helle Flecken auf dem Wasser und kaum vom grellen Horizont zu unterscheiden.
Augenblicklich verengten sich die blaugrünen Augen des Schmugglers.
„Du wolltest doch schon immer mal Kreaturen sehen, die… vergleichbar mit einem Riesenkraken sind, oder Lucien?“
Nun war es der dunkle Haarschopf des Captains, den Ceallagh einen Moment in Augenschein nahm, um sich dann mit verschränkten Armen zu ihm herum zu drehen. Mit einem Lächeln auf den Lippen und einem Funkeln in den Augen, das vor Abenteuerlust nur triefte.
“Vielleicht ist heute dein Glückstag.“
[ Erst in der Kapitänskajüte mit Talin | dann auf dem Achterdeck bei Lucien, Shanaya, James & Tarón | in Hörweite von Liam ]