30.09.2020, 17:48
New Horizons
Morgen des 25. Mai 1822Lucien Dravean, Shanaya Árashi & Soula Veniel
Es reichte ihr. Mit jedem neuen Tag, den Shanaya mit ihrer Krücke verbrachte, überlegte sie, dass Ding einfach ins Hafenbecken zu schmeißen. Das Fieber war endlich verschwunden, ihre Kräfte längst jedoch noch nicht zurück gekehrt. Ihr Bein schmerzte noch immer bei falscher Belastung, aber sie hütete nicht mehr nur noch das Bett. Sie war es Leid. Zwar entfernte sich die Schwarzhaarige nie weit vom Bordell, was schlimm genug war, aber wenigstens ein paar Schritte wollte sie jeden Tag gehen. Die Wunde heilte gut… und bald würde sie diese ganze Sache endlich überstanden haben. Und was sie dann alles erledigen würde… ihre Liste schien unendlich. Jetzt hatte es sie früh nach draußen gelockt, die Sonne kroch langsam hinauf, tauchte die Straßen in ihr erstes, malerisches Licht. Und Shanaya lehnte gegen einen der Holzpfeiler, an denen die Schiffe fest gebunden waren. Ihr heller Blick war sehnsüchtig auf das Meer gerichtet, die Krücke neben sich gegen das Holz gelehnt. Wie lange würde es wohl noch dauern, die Sphinx zu reparieren? Ihretwegen hätten sie heute noch aufbrechen können.
Auch Soula konnte es nicht schnell genug gehen, deswegen suchte sie heute direkt nochmal erneut den Hafen auf. Sie hatte zwar irgendwie Kontakt zu einer Crew aufbauen können, allerdings war es nie gut, wenn man sich nur auf sein Glück verließ. Man musste auch selber etwas dafür tun. Sie wollte es definitiv nicht darauf ankommen lassen sich nur EINE Crew gesucht zu haben, die Calbota verlassen würde. Falls es mit ihnen irgendwie doch nicht klappen sollte, aus welchen Gründen auch immer… darauf wollte sie es wie schon gesagt, nicht drauf ankommen lassen. Deswegen ging sie mit langsam Schritten den Hafen ab und schaute sich die Schiffe genauer an. Notfalls würde sie sich auf eines schleichen oder so… Auch keine prächtige Idee, denn sie wusste, was man mit Frauen machte, die unaufgefordert und ungebeten plötzlich gefunden wurden. Das wollte sie nicht erleben und sie konnte sich vorstellen, dass wenn die Schergen sie finden würden, dass ihr so etwas auch blühen würde. Soula bekam eine Gänsehaut, als sie darüber nachdachte und schüttelte den Kopf, um an etwas anderes denken zu können, als eine Frau in ihrem Blickfeld auftauchte. Sie hatte Krücken und machte es sich gerade mehr oder weniger bequem, um aufs Meer hinaus zu sehen. Soula erkannte eine gewisse Sehnsucht und ihre eigenen Gesichtszüge wurden direkt ein bisschen weicher. Kurzerhand entschloss sie einfach auf die junge Frau zuzugehen, die kaum älter als sie selber wirkte. „Guten Morgen.“, sprach sie die Fremde also einfach an. „Ist eines davon Eures?“, fragte sie höflich und lächelte.
Shanaya verlagerte leicht ihr Gewicht, stand jedoch noch immer auf ihrem rechten Bein. Ihr heller Blick lag fest auf dem Meer, als gäbe es in diesem Moment nichts anderes für sie. Auch die Schritte, die näher kamen, ließen die Schwarzhaarige zuerst nicht aufblicken. Es gab viele Menschen auf dieser Insel, der ein oder andere würde sich auch um diese Zeit am Hafen herum treiben. Nichts, was ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Erst, als eine weibliche Stimme erklang, merkte Shanaya leicht auf, ohne jedoch den Kopf herum zu drehen. Es konnte auch jeder andere angesprochen sein, auch wenn… sie aus den Augenwinkeln niemanden sehen konnte, der in der Nähe war. Und die zweite Frage ließ die junge Frau leicht eine Augenbraue heben. Ob eines der Schiffe ihres war? „Wenn du meinst, ob ich Teil der Crew eines dieser Schiffe bin… nein. ‚Mein‘ Schiff steht in der Werft und ist hoffentlich bald wieder seetüchtig.“ Die Stimme der Schwarzhaarigen klang vollkommen ruhig, ohne Wertung darin. Aber sie richtete den Blick auch nicht zu der anderen Frau herum, ließ die Augen weiterhin auf das Meer gerichtet.
Die junge Frau sah zwar sehr beschäftigt aus, wie sie aufs Meer hinaussah. Sie reagierte nicht mal auf Soulas Schritte. Trotzdem wagte sie es sie anzusprechen. Vielleicht hatte sie eine Crew, vielleicht suchte sie Mitglieder. Wenn irgendetwas in diese Richtung ging, dann war Soula schon sehr froh. Nicht jede Crew pinnte immer Anfragen ans Anschlagbrett oder krakelte laut herum. Nachfragen fand Soula auch eine gute Taktik. Und wenn es nicht zutraf, dann hatte sie eben Pech gehabt. Vermutlich würde man sich dann sowieso nie wieder sehen. Die Höflichkeit, die sie von klein auf beigebracht bekommen hatte, vergaß sie aber nicht. Die junge Frau zeigte kaum Reaktionen, als Soula sie ansprach und leicht verengte sie die Augen und wartete, was darauf folgen würde. Soula würde definitiv nicht damit klar kommen, wenn sie sie einfach ignorieren würde. Dann kam eine Antwort und sie entspannte sich etwas. Das Schiff… nein, IHR Schiff wurde wohl gerade repariert. Das klang zumindest erst mal gut. Sie hoffte auch, dass es bald wieder Seetüchtig war. Auch das klang gut. „Und bis es wieder flott ist, seid Ihr hier gefangen?“ Ob die Fremde der Captain des Schiffes war? Soula sollte auf jeden Fall aufpassen, dass sie es sich nicht verscherzte. „Ich würde Silvestre auch gerne wieder verlassen“, erklärte sie. „Sucht ihr noch Mitglieder? Oder kann man sich eurer Crew eine Zeit lang anschließen, um diesen Ort zu verlassen?“ Soula war nicht dafür gemacht, um um den heißen Brei herumredete.
Nach wie vor ließ Shanaya den blauen Blick auf den Horizont gerichtet. Auf die Wellen, die sich aufbäumten, auf die kleinen Schaumkronen, die sie aus dieser Entfernung sehen konnte. Auf winzige Wolken, die am blauen Himmel an ihr vorbei zogen. Und beinahe hätte sie die Fremde vergessen, die bei ihr stand. Aber eben leider nur fast. Die nächste Frage der Dunkelhaarigen entlockte Shanaya ein leises, zustimmendes Brummen. Das war die richtige Bezeichnung für ihren Zustand. Sie konnte es kaum erwarten, dass die Sphinx wieder in See stach. Was die andere Frau dann sagte, hätte Shanaya fast ein ‚Dann schwimm los‘ entlockt, aber sie schluckte es herunter, ließ sie aussprechen und wog bei ihrer direkten Frage leicht den Kopf zur Seite. Brauchten sie noch Crewmitglieder? Auch ihre Antwort darauf verkniff Shanaya sich, indem sie sich auf die Zunge biss. Contenance. „Für eine Zeit, um diesen Ort zu verlassen – sicherlich. Alles andere wirst du mit einem der beiden Captains besprechen müssen.“ Nach wie vor blieb die Stimme der jungen Frau ruhig, erst jetzt wandte sie jedoch den Kopf herum, musterte ihr Gegenüber mit offen abschätzender Miene. Ein kurzes Ziehen in ihrer Brust ließ Shanaya schlucken, so versuchte sie sich damit abzulenken, dass sie die Dunkelhaarige einmal von oben bis unten musterte. Hm. „Bist du denn für ein Leben auf See gemacht?“ Nun lag ein amüsiertes Lächeln auf den Lippen der jungen Frau.
Ihr entging nicht die Haltung, die die junge Frau einnahm und Soula glaubte zu verstehen, was sie damit ausdrücken wollte. Es wirkte eher abweisend und Soula konnte eine gewisse Sturheit erkennen. Dies ließ sie aber eher ein bisschen schmunzeln, denn es erinnerte sie an sich selbst. Die Fremde schien weder wirklich mit ihr sprechen zu wollen, doch Soula merkte nicht, dass ihr sogar eine abwertende Antwort auf der Zunge lag. Nun gut, wenn sie nicht mit der Dunkelhaarigen sprechen wollte, dann würde sie die Fremde sicher nicht dazu zwingen. Es war außerdem noch sehr früh am Tag, vielleicht spielte das ein wenig mit rein. Soula ließ sich allerdings nicht beirren und stellte noch eine Frage. Wenn darauf nichts kommen würde, dann hatte sie wenigstens ihr Bestes getan und würde es auch dabei belassen. Sie wollte niemandem auf die Nerven gehen. Einige Momente wartete die Diebin ab, dann erhielt sie eine Antwort, mit der sie nicht wirklich gerechnet hatte. Es gab also eine Chance zumindest Silvestre zu verlassen. Das klang hervorragend und Soula musste sich zusammenreißen, um nicht euphorisch zu reagieren. Das Letzte Wort war schließlich noch nicht gesprochen, wie die Fremde deutlich machte. Es galt also mit dem Captain zu sprechen. „Auf dieses Gespräch würde ich mich sehr gerne einlassen.“, antwortete sie also ebenso ruhig und konzentriert. Hier zeigte sich wieder die Selbstbeherrschung, die sie sich während der Spielpartien angeeignet hatte. Sie ließ sich nichts anmerken, auch wenn ihr inneres nun ein wenig nervös war, nichts drang nach außen. Dann blickte die Fremde Soula an und musterte sie eindringlich. Soula kam nicht umhin ein amüsiertes schmunzeln zu zeigen. Es war fast so, als würden sich die beiden Frauen beschnuppern, wie zwei Wölfe, die sich noch nicht sicher waren, ob sie Freund oder Feind gegenüber standen. Soula ließ sich davon nicht beirren, denn nun stellte die Fremde eine frage und hatte ein amüsiertes Lächeln aufgesetzt. „Ich war noch nie auf See. Das werden wir dann sehen.“, antwortete sie offen. Ihre Stimme ließ allerdings keinen Zweifel zu, dass sie es sich nicht zutraute. „Was verbindest du mit der See?“ Sie war interessiert und neugierig.
Einen Moment lang fragte Shanaya sich, was besser war. Hier mit dieser Fremden zu sprechen oder im Bordell auf ihrem Bett herum zu rollen – allein, wohlgemerkt. Ein lautloses Seufzen ließ sie diesen Gedanken jedoch beiseite schieben. Die Dunkelhaarige antwortete und Shanaya hob ganz leicht eine Augenbraue. Sie wollte sich auf dieses Gespräch einlassen? Noch ein tonloses Seufzen. Die Fremde grinste, auch bei Shanayas Musterung, was die junge Frau jedoch nur einen kurzen Augenblick die Augen schließen ließ. Sollte sie einfach…? Aber die nächsten Worte ihres Gegenübers ließ sie eine zweite Augenbraue heben. Okay, jetzt sollten die beiden Captains sich definitiv mit ihr befassen. Sie war raus. „Kannst du wenigstens sehen, wenn jemand eine Kugel in den Kopf bekommt?“ Keinerlei Ironie lag in der trockenen Stimme der Schwarzhaarigen, es war ihr voller Ernst. Selbst wenn diese Crew neuen Mitgliedern offen gegenüber stand, wenn sie etwas ganz gewiss nicht brauchten – und dieser Gedanke hinterließ einen sehr, sehr bitteren Beigeschmack – war es irgendein Prinzesschen, das keine Blutspritzer auf der feinen Kleidung ertrug. Und wenn die Fremde nicht einmal einen Fuß auf ein Schiff gesetzt hatte… Himmel. Wieso konnte Talin nicht aus dem Nichts auftauchen und sich um die Fremde kümmern? Es hatte doch Gründe, wieso sie nicht einmal im Traum des Posten des Captains anstrebte. Andererseits war sie nicht dazu verpflichtet, hier irgendwen durch die Gegend zu führen. Der blaue Blick schweifte kurz über den Teil des Hafens, den sie von ihrem Platz aus sehen konnte. Einige Gedanken schlichen sich in ihr Bewusstsein, ehe sie sich von der Säule weg lehnte, an der sie bis gerade gestanden hatte. Mit einer Hand griff sie nach der Krücke, machte damit wohl überdeutlich den Aufbruch klar. Die nächste Frage der Fremden ließ sie auflachen. Ihre Stimme klang bei ihren Worten neutral, nicht schklecht gelaunt, aber eben auch nicht sonderlich begeistert. „Ich bringe dich zum Captain, erwarte nicht von mir, dass ich dir auf so eine Frage antworte. Es würde mich nicht wundern, wenn du nach zwei Tagen freiwillig vom Schiff springst. Oder… bei einer großen Welle über Bord gehst. Von daher.“ Dieser Gedanke amüsierte die Schwarzhaarige dann doch so, dass sie ehrlich amüsiert auflachte.
Das Auftreten der Fremden war ziemlich… arrogant. Aber auch das erinnerte Soula an sich selber. Deswegen stand es ihr auch gar nicht zu die Fremde irgendwie zu verurteilen. Vielleicht hatte sie auch einfach nur einen schlechten Tag, wer wusste das schon. Soula war tatsächlich noch nie zur See gefahren und wusste selber nicht, ob sie dafür gemacht war. Aber das spielte auch gar keine Rolle. Soula war Abenteuerlustig genug, um es herauszufinden. Die Reaktion der Fremden schien darauf allerdings etwas anders auszufallen. Auch die Worte, die Soula nun hörte trieften nur so von Vorurteilen. ‚Wenigstens‘, das klang fast so, als hätte die Fremde sich bereits ein Urteil gebildet, welches nicht mit Soulas Charakter übereinstimmte. Auch der trockene Tonfall gefiel der Diebin nicht besonders. „Wenn du wüsstest.”, sprach sie dann ebenso trocken aus und hielt dem Blick der Fremden stand. Beim Glücksspiel hatte man nich timmer so viel Glück und wurde auch mal direkt über den Haufen geschossen. Immerhin war Soula zuletzt deswegen auch ziemlich in der Bredullie gelandet. Sie ließ sich jetzt sicher nicht von einer Fremden in eine Schublade stecken, obwohl diese wirklich keine Ahnung hatte. Auch auf die nächste Frage, die von Soulas Seite aus eher nett gemeint war (und neugierig), bekam sie wieder eine halbfertige Antwort. Soula erhielt fast den Eindruck, als hätte die Fremde noch nie zum ersten Mal ein Schiff betreten. In diesen kurzen Momenten hatte die Fremde Soula schon einiges über ihren Charakter offenbart. Dabei auch einige Schwächen. Soula musterte sie aufmerksam, während sie sich auf den Weg zur Werft machten. „Ich verstecke mich einfach pausenlos unter Deck, dann kann gar nichts passieren, ist doch klar.” Soula schenkte der Fremden ein übertriebenes Grinsen und konnte sich fast ein bisschen vorstellen, dass sie ihr das auch noch glaubte.
Was die Fremde nun konnte und was nicht, war Shanaya eigentlich ziemlich egal. Es war nicht ihre Aufgabe, Mitglieder aufzunehmen oder abzulehnen. Das durften schön die machen, die den passenden Posten dazu gewählt hatten. Ihre Antwort war ziemlich ernüchternd und konnte alles oder nichts heißen. Die Schwarzhaarige ging nicht weiter darauf ein, sollte sie der Crew beitreten, würde sie sich schon ein Bild machen können… und wenn nicht, war es eh keine Information, die sie abspeichern würde. Dann hätte sie die andere Frau in wenigen Tagen schon wieder vergessen. Sie hinkte einfach mit ihrer Krücke weiter, hielt kurz Ausschau nach der Werft, die man schon erahnen konnte, auch wenn sie noch ein Stückchen entfernt lag. Sie wusste nicht, wo Talin war – also blieb ihr nur Captain Nummer zwei. Gestern hatten sie noch darüber gesprochen, dass Lucien zur Werft wollte… jetzt konnte sie sich diese Information zu Nutze machen. Immerhin schlug sie so zwei Fliegen mit einer Klappe. Sie wurde die Dunkelhaarige los, zumindest fast, und bekam dazu noch… bessere Gesellschaft. Vielleicht der einzige Grund, wieso sie sich dazu herab ließ, hier die Fremdenführerin zu spielen. Was die andere Frau dann sagte, ließ Shanaya sofort einen Gedanken in den Kopf schießen, der sie den himmelblauen Blick zu der Fremden herum wenden ließ. Selbst, wenn Shanaya ihre Worte – aufgrund ihres Lächelns – nicht ernst nahm, wusste sie, was sie dazu zu sagen hatte. „Solltest du das tun, darf ich dir laut unserer Carta ohne Vorwarnung selbst eine Kugel in den Kopf jagen. Befehlsverweigerung.“ Die junge Frau zuckte mit einer Schulter, lächelte beiläufig, ehe sie den Blick wieder nach vorn wandte und die Werft ins Auge fasste.
Was der Fremden nun alles durch den Kopf ging, wusste Soula nicht. Das Gespräch verebbte zunehmend. Irgendwie auch nicht schlimm, fand Soula, denn sie hatte nicht gerade den Eindruck bekommen, dass die Fremde sich sehr über Gesellschaft freute. Soula war ein sehr harmoniebedürftiger Mensch und mochte es nicht besonders, wenn es Streitereien gab. Oft war die Dunkelhaarige da aber auch selber dran schuld, denn sie ging Konflikten schnell aus dem Weg, da sie einfach hoffte, dass sie sich damit nicht auseinander setzen musste. Das klappte manchmal auch. Aber eben nicht immer. Trotzdem war sie bemüht, dass es nicht zu solchen Konflikten kam. So auch jetzt. Sie hoffte, dass sie mit ihrem Humor um so etwas herum kam, denn sie glaubte ein bisschen gespürt zu haben, dass die Fremde ein bisschen auf Krawall aus war. Dabei konnte Soula sich durchaus irren. Die Reaktion fiel dann aber in die Richtung aus, die sich Soula vorgestellt hatte. Sie schmunzelte, während sie die Werft schon sehen konnte. „In dem Fall wäre es mir ein Vergnügen, wenn du die Waffe führen würdest.“, antwortete sie amüsiert. Noch hatten sie keine Förmlichkeiten ausgetauscht, wie Namen oder sonstiges. Aber auch bei der Sache hatte Soula eher das Gefühl, dass die Fremde daran kein sonderliches Interesse haben würde. Sie ließ sich aber gerne eines Besseren belehren.
Warum brachte sie eigentlich niemanden um, einfach, weil dessen Nase ihr nicht passte? Vermutlich weil sie einfach ein viel zu guter Mensch war. Und trotzdem… in solchen Momenten wünschte sie sich etwas von dieser Kaltblütigkeit. Wobei es dann vermutlich verdammt wenig Frauen geben würde. Allerdings wäre das auch nicht ihr Schaden. Ein leises Seufzen verließ die Lippen der jungen Frau, während sie einfach immer weiter hinkte. „Sag das lieber nicht zu laut, ich vergesse so etwas nicht.“ Und das meinte Shanaya sogar ernst, auch wenn das hämische Lächeln deutlich in ihrer Stimme zu hören war. „Was erhoffst du dir davon, einer Piratencrew bei zu treten?“ Auch hier lag kein ehrliches Interesse in der Stimme der Schwarzhaarigen – zumindest keines an der Person der anderen Frau. Viel mehr daran, mit wem sie es zukünftig zu tun haben würden.
Soula verstand nicht so wirklich, was das Problem der Fremden eigentlich war. So viele Vorurteile konnte man doch gar nicht haben, dass man jemanden, den man eben erst getroffen hatte so sehr verurteilte? So, wie die Fremde sich benahm, war es offensichtlich, dass irgendetwas an Soula ihr nicht passte. Was, das war ihr gerade echt noch ein Rätsel. Sie würde sich davon aber sicher nicht abschrecken lassen, soweit kam es noch! Auf die Verletzung kam Soula auch nicht wirklich zu sprechen. Nachher musste sie sich noch anhören, dass sie ihre Nase nicht in Fremde Angelegenheiten zu stecken hatte. So war es schließlich, auch wenn Soula es nur höflich gemeint hätte. Ihre Höflichkeit hatte aber auch einfach ein Ende, wenn jemand kein Interesse daran hatte. Und genau das spürte sie hier gerade. Prinzipiell konnte ihr das ja gänzlich egal sein. Aber nicht dann, wenn sie irgendwann ein Schiff mit der Fremden teilen musste. Im Bruchteil von Sekunden gingen Soula diese Gedanken durch den Kopf und sie wusste echt nicht, wie das werden würde. Aber sie wollte auch nicht direkt aufgeben. Das war eh etwas, für das sie nicht gemacht war. Deswegen ließ sie sich auf das kleine Spiel auch einfach ein. „Das glaube ich dir aufs Wort. Aber wenn das nach so einem Verhalten dann sowieso passiert, dann am liebsten von dir.“, gab sie also zurück. „Männer können Frauen gegenüber oft nicht so konsequent sein, wie sie es gerne wollen. Aber du, du würdest treffen, da bin ich mir sicher.“, sprach sie weiter und blickte die Fremde direkt an. Soula wusste, dass sie sich hier gerade weit aus dem Fenster lehnte und sie hoffte auch, dass es zu so einer Situation niemals kommen würde. Zumindest würde sie sich sicher nicht die ganze Zeit unter Deck verstecken, das stand fest. Demnach konnten sie hier nun spekulieren wie sie wollten. Die nächsten Worte überraschten sie dann aber ein bisschen. Eine Piratencrew? Das hatte Soula nicht gewusst, immerhin wusste sie nicht mal, mit wem sie hier gerade überhaupt sprach. „Ich erhoffe mir in erster Linie von dieser Insel verschwinden zu können.“, sprach sie dann vorsichtig. Vielleicht war es ganz gut, wenn es Piraten waren, dann war sie dort mit ihrer zwielichtige Vergangenheit ganz gut aufgehoben. Ob sie der Crew für einen längeren Zeitraum beitreten wollte, stand noch in den Sternen. „Sucht ihr bestimmte Leute mit bestimmten Fähigkeiten?“, fragte sie dann. Soula konnte stehlen und sich unbemerkt in Häuser einschleichen oder Verführen, um an Gegenstände heranzukommen. Sie war dabei recht kreativ. Ob das ausreichte, wusste sie aber auch noch nicht. Die beiden Frauen hatten inzwischen die Werft erreicht und man hörte schon, wie hier hart gearbeitet wurde.
Shanaya machte sich kaum noch Gedanken um die Fremde. Immerhin würde sie, sollten sie Lucien in der Werft treffen, alles an ihn abgeben können. Ein weiterer Grund, wieso sie nicht für den Posten des Captains gemacht war. Kurz huschten die blauen Augen zu der anderen Frau hinüber, musterten sie. Das kleine Ziehen in ihrer Brust verging mit dem nächsten Atemzug wieder, trotzdem war es da gewesen. Und es wurmte die Schwarzhaarige. Auf die Worte der Anderen ging sie nicht mehr ein. Sollte sie der Crew wirklich beitreten und die Carta unterzeichnen… tja. Wobei sie selbst auch nach wie vor nicht der Typ war, der einfach irgendwelche Leute umlegte. Manchmal… leider. Dass sie erst einmal nur von dieser Insel weg wollte, entlockte Shanaya fast ein leises Lachen. Aber eben nur fast. Sie freute sich auf den ersten Moment, in dem die Fremde blutende Kameraden vor sich liegen sah. Ob sie es bereuen würde? Etwas, was Shanaya mit Genugtuung beobachten würde. „Pass aber auf, dass du dir bloß keinen Fingernagel an den Tauen abbrichst, ja?“ Sie warf der Gleichalten aus blauen Augen einen charmanten Blick zu. „Heb dir die Frage für den Captain auf, ich bin da die falsche Ansprechpartnerin.“ Aus gutem Grund. Damit betrat Shanaya jedoch mit den nächsten Schritten das große Tor der Werft, ließ den Blick zur Sphinx schweifen, ehe er durch die Halle glitt. „Luuuuuhuuuuuc.“ Sie blieb nicht stehen, schmunzelte nur über das Wort, das sie herunter geschluckt hatte. Sie gab ihm noch eine kleine Galgenfrist. Und das war vielleicht nicht für die Ohren der anderen Frau bestimmt. Also ließ sie den hellen Blick schweifen und suchte nach dem Dunkelhaarigen.
Auf die Spielerei, auf die Soula sich einließ, ging die Fremde inzwischen nicht mehr ein. Etwas merkwürdig fand sie diese Unterhaltung schon und sie wusste wirklich nicht, was sie von der Fremden halten sollte. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, wenn sie diese niemals angesprochen hätte. Allerdings war der Drang, diesen Ort verlassen zu können sowie Soulas Entschlossenheit um einiges stärker. Sie ging also weiter neben der Fremden her und hoffte, dass sie auf jemanden treffen konnte, mit dem sie vielleicht besser umzugehen wusste. Die nächsten Worte der Fremden trieften nur so vor Oberflächlichkeit. Dieses Mal verdrehte Soula tatsächlich die Augen. Sie verstand nicht, wie man sich so benehmen konnte. Die Fremde wusste nichts über Soula und glaubte irgendwie doch alles zu wissen. Das war absolut lächerlich und deswegen glaubte sie auch nicht wirklich, dass es noch viel brachte mit der Schwarzhaarigen weiter zu sprechen. Es wunderte sie nun um so mehr, warum sie Soula dann überhaupt zu ihrem Captain brachte, wenn ihr ihre Anwesenheit so offensichtlich missfiel. Wenn Soula und Loki wirklich dieser Crew beitreten würden, dann konnte die Begegnung zwischen den beiden Frauen wirklich noch spannend werden. Sie war nun sehr gespannt auf den Captain und erhob gegenüber der Fremden nicht nochmal das Wort.
Obwohl von dem zum Hafenbecken geöffneten Tor her frische Luft eindrang, hielt unter dem hohen Dach der Werfthalle augenscheinlich bereits der Juni Einzug, der bald kommen wollte. Die Luft war warm, wärmer als in den Gassen der Stadt, und so von Holzstaub und Teerdämpfen geschwängert, dass der Schweißgeruch der arbeitenden Männer dagegen glücklicherweise unter ging. Die Sphinx lag in einem trockenen Becken, aufgebockt auf zwei gewaltige hölzerne Keile, die sie gerade und gute zwei Meter über dem Boden hielten. Links und rechts entlang ihres Rumpfes verliefen Gerüste, um die Arbeiten von außen zu erleichtern, und an Deck wie an den Außenwänden, an den Masten wie in der Takelage hingen, saßen, standen oder krabbelten Werftarbeiter, die das Holz mit großen Schleifblöcken bearbeiteten. Als Lucien selbst zum Werkzeug gegriffen und sich an die Arbeit gemacht hatte, merkte er schnell, dass es sinnvoller war, das Hemd auszuziehen und es sich als Schutz vor dem feinen Staub vor Mund und Nase zu binden. Innerhalb von Minuten rann ihm der Schweiß über den Rücken und nach ein paar Stunden stumpfen Schleifens hatte sich das feine Holzpulver längst mit der Feuchtigkeit auf seiner Haut verbunden und Brust, Stirn und Nacken mit lästigen Krümeln überzogen. Er wischte sich gerade mit dem ebenfalls staubigen Unterarm übers Gesicht, um besagte Krümel loszuwerden, als eine nur zu vertraute Stimme laut durch die Werft hallte. Lucien verzog ob der grausamen Verstümmelung seines Vornamens missmutig das Gesicht und richtete sich auf dem Gerüst in eine kniende Position auf, von dem aus er die Außenwand der Sphinx bearbeitet hatte, zog sich das Hemd vom Mund und warf einen Blick nach unten. „Ich bin hier“, war das erste, was er Shanaya wissen ließ, damit sie nicht auf die Idee kam, noch mal nach ihm zu rufen. Dann erst erkannte er, dass sie nicht allein gekommen war. Neben ihr stand eine zweite junge Frau, etwa in ihrem und Talins Alter. Der Dunkelhaarige runzelte kurz die Stirn, wischte sich eher beiläufig mit dem Hemd den Schweiß aus dem Nacken und entschloss sich, zunächst herauszufinden, wie wichtig ihr Anliegen war, bevor er die Entscheidung traf, ob es sich lohnte, dafür vom Gerüst zu klettern. „Was wollt ihr?“ Die Frage ging an beide. Ihm war egal, wer antwortete.
Shanaya beachtete die Frau an ihrer Seite einfach nicht mehr. Sie sagte nichts, also auch kein Grund, sich zu ihr herum zu wenden. Außer den üblichen, prüfenden Blicken, die auch mehr ein Betrachten der Umgebung hätten sein können. Viel mehr war sie damit beschäftigt, sich auf das Atmen zu konzentrieren, darauf, nicht zu viele von den Spänen einzuatmen, die die Luft erfüllten. Erst als dann eine andere Stimme als die der Frau ertönte, rieb die Schwarzhaarige sich einmal mit dem Ärmel über das Gesicht und hob den Blick, um nach Lucien zu suchen. Er stand über ihnen auf einem Gerüst und… ja. Shanaya kniff kurz die Augen zusammen, blinzelte und warf dann einen kurzen Blick der zu der Fremden, ehe sie sich, nach Luciens recht knapper Frage, wieder zu ihrem Captain nach oben wandte. Shanaya schluckte nur kurz trocken. Draußen war es erträglich, in dieser Halle schien die Luft jedoch zu stehen und die junge Frau hätte es ihm gern gleich getan, sich ihrer Bluse entledigt. Vielleicht auch aus manch anderem Grund… vorrangig kam sie hier jedoch ziemlich ins Schwitzen. „Ich weiß nicht, wo Talin sich herum treibt, also dachte ich mir, schaue ich nach, ob du Zeit hast für jemanden, der sich uns anschließen möchte. Ansonsten muss sie eben warten.“ Sie lächelte ruhig nach oben, in ihrer Stimme lag jedoch auch der Hinweis an die andere, dass sie eben warten musste, wenn Lucien keine Zeit hätte. Wäre auch kein Weltuntergang.
Gut, damit hatten die beiden Frauen sich wohl dafür entschieden, dass sie aktuell nicht mehr miteinander sprechen wollten. Das konnte in Zukunft wirklich noch sehr spannend werden. Die Spannung stieg bei Soula aber gerade tatsächlich an, da sie demnächst den Captain treffen würde. In der Werft selber war die Luft ziemlich staubig und sie bemühte sich, nicht tiefer einzuatmen. Als sie die Stimme des Captains hörte, nach dem die Fremde wohl eben gerufen hatte, sah sie zum Gerüst auf. Auf die Frage, was sie wollten, antwortete ihre Begleiterin auch recht zügig. Es wurde noch ein zweiter Name erwähnt – Talin. Gab es zwei Captains? Oder zumindest jemand, mit dem sie auch sprechen konnte? Es war ihr zwar lieber, wenn sie so schnell wie möglich diese Insel verlassen konnte, doch sie wollte auch nicht ungeduldig wirken. Deswegen nickte sie. „Ich kann auch zu einer verabredeten Zeit wiederkommen“, sagte sie deswegen entspannt.
„Sich uns anschließen?“, wiederholte er Shanaya Worte unwillkürlich. Allerdings nicht, weil er nicht sicher war, ob er sie richtig verstanden hatte, sondern schlicht als Ausdruck seiner Überraschung. Erneut kehrten die tiefgrünen Augen zu ihrer Begleiterin zurück, musterten sie nun genauer. Schlank, dunkles Haar, einfache aber ordentliche Kleidung – viel mehr konnte er auf die Entfernung nicht erkennen. Also schüttelte er auf ihrer beider Vorschlag, später wieder zu kommen, nur den Kopf, legte den Schleifklotz dort ab, wo er später weiter machen würde und erhob sich. „Nein, schon gut“, versicherte der Dunkelhaarige in versöhnlicherem Ton und machte sich, das Hemd an seinem Hosenbein abklopfend, auf den Weg nach unten. Die letzte Ebene überwand er kurzerhand mit einem Sprung, klemmte sich das Hemd in den Gürtel und ging zu den beiden Frauen hinüber. „Das ist wohl der Vorteil daran, wenn der einzige Lohn für eine Arbeit der ist, der Werft hinterher weniger bezahlen zu müssen: Man kann aufhören, wann immer man will“, meinte er beiläufig. Zwei Schritte von Shanaya und Soula entfernt blieb Lucien schließlich stehen, richtete den Blick auf die Fremde und maß sie nun noch einmal mit einem Blick. Hübsch war sie und auf seine Lippen stahl sich darüber ein Schmunzeln. „So. Du willst also bei uns anheuern.“ Er warf der Schwarzhaarigen neben ihr einen kurzen Seitenblick zu. „Hat unsere reizende Shanaya dir zufällig auch schon erklärt, worauf du dich da möglicherweise einlässt?“ War ihr klar, dass sie gerade mit Piraten sprach?
Shanaya hätte mit beidem leben können – wenn Lucien sie weg schickt, um weiter zu arbeiten (in diesem Fall hätten sich die Wege der beiden Frauen sehr schnell getrennt) oder aber, wenn er zu ihnen herunter kam. Die andere Frau versicherte ihm, dass sie auch noch einmal zu einem anderen Zeitpunkt wieder kommen konnte, aber Lucien entschied sich für Zweiteres. „Nicht, dass wir dich noch an die Werft verlieren.“ Ein neckisches Lachen galt dem Dunkelhaarigen. Sie bezweifelte es sehr stark. Dann stand er bei ihnen, musterte erst einmal Soula, während Shanayas Blick zu der Sphinx wanderte, über den Rumpf, den Kiel. Sie konnte es wirklich kaum erwarten, dass sie fertig wurden. Sie lauschte nur halbherzig auf das Gespräch der anderen beiden, wandte ihre Aufmerksamkeit erst zu Lucien herum, als er ihren Namen nannte. Mit einem gut gelaunten Lächeln nickte sie auf seine Worte hin, wobei ihr etwas auffiel. Sie zögerte einen Moment. „Natürlich habe ich das. Du denkst doch nicht von mir, dass ich irgendwen in ein Messer laufen lasse?“ Sie wussten es beide besser. „Sie wollte trotzdem mit einem von euch sprechen.“ Kurz richteten sich die blauen Augen auf die Fremde, ehe sie sich wieder zu ihrem Captain herum wandte. Es störte sie noch etwas. Sie haderte, hob dann aber doch die Hand, um die recht große Holzspäne, die sich in Luciens Haaren verfangen hatte, heraus zu zupfen. Eine vorsichtige Bewegung, eine kurze Berührung, ehe sie das Stück Holz auf den Boden fallen ließ und dem Mann dabei ein kurzes, sachtes Lächeln zu warf. Dann wandte sie den Blick erneut zur Sphinx herum, die weiter von den anderen Arbeitern hergerichtet wurde. So konnte sie etwas anderes einfach besser ausblenden. Sie räusperte sich kurz, rieb sich noch einmal mit dem Ärmel über die Stirn. „Ihr kommt gut voran, oder?“ Die Hoffnung in ihrer Stimme war nicht zu überhören, die Sehnsucht dahinter, bald wieder in See zu stechen.