25.09.2020, 23:08
Seit die Sphinx den Hafen von Calbota hinter sich gelassen hatte, besserte sich Luciens Stimmung zusehends. Umso länger die nicht enden wollende Reparatur ihres Schiffes gedauert hatte, umso unerträglicher nämlich erschien ihm das Land, das sie gefangen hielt. Bis ihn das Warten derart rastlos und cholerisch machte, dass er nur noch wenig aß, noch weniger schlief und deutlich öfter zur Flasche griff. Bis er am Ende nicht mehr hätte bestimmen können, ob die Kopfschmerzen vom Schlafmangel oder vom Kater kamen. Sein Geduldsfaden war gerade in der letzten Woche vor ihrem Aufbruch entsprechend kurz und dass es bis auf die ein oder andere Tätigkeit in der Werft, nächtliche Straßenkämpfe und ein paar „Besorgungen“ mit Ceallagh schlicht und ergreifend nichts zu tun gab, machte es nicht unbedingt besser. Am Ende erinnerte er sich mehr an ein im Käfig rastlos auf und ab streunendes Tier, als an den Mann, der er eigentlich war.
Doch mit dem vertrauten, tröstlichen Schwanken der Wellen unter einem dahin gleitenden Schiffsrumpf war dem Dunkelhaarigen leichter zumute. Sie bewegten sich wieder. Ihm war vollkommen egal, wohin. Hauptsache, der Abstand zwischen der Sphinx und dem, was ihn in seinen Gedanken stets verfolgte, schrumpfte nicht weiter dahin wie Kerzenwachs unter der Flamme. Als sie den Hafen hinter sich ließen, löste sich etwas in ihm, ließ ihn wieder atmen. Und essen.
Dementsprechend guter Stimmung war er schon den ganzen Vormittag. Der penetrante Nieselregen, der die Planken in eine schmierige Rutschbahn verwandelt hatte, mochte eher nervig gewesen sein. Doch die schwüle, feuchte Wärme, die er hinterließ, betrübte Lucien augenscheinlich nicht im Geringsten.
Shanayas Bemerkung, mit der sie ihn begrüßte, als er zu ihr ans Steuer trat, entlockte ihm deshalb einen amüsierten Seitenblick in ihre Richtung, in dem Spott einerseits und andererseits die schon vertraut gewordene herausfordernde Erwiderung ihrer Zweideutigkeit lag. Trotz ihrer Scharfzüngigkeit klang sie nicht so, als freute sie sich sonderlich über das Wetter. Was den jungen Captain auch nicht verwunderte, als er sich ihre Herkunft ins Gedächtnis rief. Ihm hingegen machte die Hitze gerade so weit zu schaffen, dass er sich die Ärmel seines hellen Hemdes bis zu den Ellenbogen aufgekrempelt hatte und keine Weste trug.
Und dann rief Liam ihnen auch schon das Auftauchen fremder Segel zu. Gerade, als sich der Nieselregen verzogen hatte und sich nur noch eine Nebelbank an steuerbord drohend über das Wasser erhob. An der sie wahrscheinlich längst vorbei wären, bevor sie ihre Höhe erreichte. Neugierig trat der junge Captain an die Reling des Achteraufbaus, spähte an den Segeln der Sphinx vorbei nach vorn. Der Zweimaster vor ihnen wirkte annähernd so klein und wendig, wie ihr eigenes Schiff, lag aber genauso schwer beladen im Wasser. Was einerseits für viel Fracht und andererseits geringere Geschwindigkeit sprach. Noch dazu hatte der Nieselregen das andere Schiff vor ihren Blicke verborgen und anders herum musste es sich genauso verhalten haben. Andernfalls wären sie nie so dicht heran gekommen, ohne bemerkt zu werden.
„Das wollte ich schon immer mal machen...“,
meinte Lucien mehr zu sich selbst, als zu Shanaya. Doch er sprach laut genug, um bis zu ihr gehört zu werden. In seinem Unterton lag ein unüberhörbares Schmunzeln, bevor er die Stimme erhob und der Mannschaft übers Deck zurief:
„Setzt die übrigen Segel und alle Mann an Deck! Wir nehmen die Verfolgung auf.“ Dann warf er einen Blick über die Schulter, sah zu Shanaya zurück und wandte sich mit dem selben entschlossenen, eine Spur provokanten Lächeln an sie. „Mit ein bisschen Glück sind wir schneller. Bring uns backbord an sie ran, nah genug für die Enterhaken. Meinst du, das kriegst du hin?“