26.07.2020, 20:12
Wrap it around me like a sheet.
I know I'm not forgiven,
But I need a place to sleep.
Shanaya & Lucien
19. Mai 1822 | nachts | Bordell in Silvestre - Shanayas Zimmer
Wie ein schützender Mantel legte sich die Nacht über das Bordell, doch im Innern der Mauern erwachte das Leben erst jetzt so richtig. Mit geschlossenen Augen lauschte Lucien dem Stimmengewirr, das durch das Fenster ins Zimmer drang. Lauschte auf das sanfte Lachen der Frauen, das Plätschern des Wassers im großen Außenbecken und die Stimmen der Gäste, die nur als leises Brummen bis zu ihm hinauf drangen. Hin und wieder durchbrochen vom verzückten Stöhnen zweier – oder auch mehr – Menschen während des Liebesspiels.
Doch in diesem Moment lockte ihn nichts davon – was für ihn ungewöhnlich genug war. Schon die erste Nacht in Silvestre hatte er nicht in dem Zimmer verbracht, das man ihm und ein paar anderen Mannschaftsmitgliedern zur Verfügung stellte, sondern sich die Stunden unten bei den Damen des Hauses vertrieben. Die erste Nacht und auch die darauf.
Weshalb er heute ausgerechnet hier Zuflucht suchte, wusste er selbst nicht. Oder... vielleicht doch. Zum Teil. Der Dunkelhaarige lehnte den Hinterkopf gegen die Wand und konzentrierte sich auf das leise Atmen der drei Menschen im Raum. Er saß neben Shanayas Bett auf dem Boden, hatte die Beine aufgestellt an den Körper gezogen und die Unterarme auf die Knie gestützt. Nur eine Kerze spendete flackerndes Licht, das hinter seinen geschlossenen Lidern tanzte, und bis auf die Geräusche von draußen und das leise Rascheln, wenn sich einer der drei im Schlaf bewegte, herrschte um ihn herum vollkommene Stille.
Träge öffnete Lucien die Augen, blinzelte nur ein paar Mal, um sich an das dämmrige Licht zu gewöhnen. Dann sank sein Blick auf den Verband, der sich ordentlich um seine rechte Hand schlang, und der Anblick entlockte ihm ein leises Seufzen. Wieder einmal kehrten seine Gedanken zu Talin zurück. Zurück zu dem Abend vor ein paar Tagen. Zu den Dingen, die sie einander erzählt hatten. Und denen, die sie einander nicht erzählten. Zu dem, was zwischen ihnen gesagt worden war. Und dem, was nicht gesagt worden war.
Ihr kleines Trinkspiel war das, was einer Aussprache am nächsten kam und doch hinterließ es in seinem Inneren einen bitteren Beigeschmack. Der bittere Beigeschmack eines Geheimnisses, das er hinter sich gelassen glaubte, als er zu seiner letzten Fahrt mit der Mytilus aufbrach. Ein Geheimnis, das es nicht mehr gab. Nicht zwischen ihnen. Und doch würde es nun wieder so sein, wie es einst war. Er war dazu verflucht, niemals glücklich zu werden.
‚Es müsste nicht so sein...‘ Talins Stimme hallte in seiner Erinnerung nach. Sanft und resignierend zugleich. Wissend, dass sie sich irrte.
Doch. Es musste so sein. Denn nie zuvor war ihm die Dunkelheit, die ihn beherrschte, so deutlich bewusst geworden, wie an jenem Abend. Tiefer, undurchdringlicher noch, als Beiros sie einst in ihm erkannt hatte. Damals war Talin sein Licht gewesen, hatte seine Wut auf die Welt in Schach gehalten. Doch die Monate auf der Renaissance hatten etwas in ihm zerbrochen, hatten dieser Dunkelheit in seinem Innern Tür und Tor geöffnet.
Vielleicht hätte seine kleine Schwester sie auch jetzt zurückdrängen können – wenn er sie nur gelassen hätte. Denn sie strahlte immer noch. Sie strahlte so hell, dass sie ihn fast blendete. Vielleicht nicht mehr so wie früher. Nicht mehr so naiv und kindlich, sondern bodenständiger, stärker, mutiger. Aber er glaubte nicht mehr daran, dass sie ihn würde retten können. Er hielt die Erinnerungen an die Dinge, die er getan hatte, weiter auf Abstand. Er blieb an ihrer Seite. Der gleiche verdammte Schauspieler, der er immer schon war. Doch sein Hass fraß ihn von innen heraus auf. Und irgendwann würde er ihn umbringen. Auf die eine oder andere Weise.
Ein leises Rascheln lenkte Luciens Aufmerksamkeit auf das Bett, auf die Gestalt, die sich dort regte, und er neigte leicht den Kopf, ohne sich dabei von seiner Lehne zu lösen. Dann kehrte sein Blick wieder zur Decke des Zimmers zurück. Wahrscheinlich schlief sie noch eine Weile.
Es war schon bittere Ironie, dass es ihn in einer solchen Stimmung ausgerechnet zu dem einzigen Menschen zog, den seine Schwester als Freundin betrachtete. Nicht, weil er irgendwelche Gefühle für sie hegte, die über ein ‚Mögen‘ und ein simples, körperliches Interesse hinaus gingen, sondern weil ihre Nähe ihm Ablenkung versprach.
Und, auch wenn er nicht wirklich daran glaubte, hoffte ein Teil von ihm vielleicht, dass ‚mögen‘ schon reichte.