24.07.2020, 18:26
Skadi wagte es nicht den Blick zu heben. Ließ von Rúnar ab, kaum dass dieser sich in die Arme des Bediensteten warf und erneut schluchzend in Tränen ausbrach. All das war doch nur ein Traum, oder nicht? All das konnte ihr doch nicht passiert sein. Nicht hier, bei Menschen, die sie nicht kannte. Bei Menschen, die für ihren Vater so verdammt wichtig waren - wofür auch immer.
“Es war alles meine Schuld.“, troff es leise aus dem winzigen Körper, der mehrere Mal schwer schluckte, ehe er unbeirrt fortfuhr. Noch immer den Kopf vor Scham und Selbsthass gesenkt.
“Wir sind ausgeritten. Und als ich einem Fuchs hinterher jagen wollte, hat sich Sólfari erschreckt und ist weggelaufen. Und irgendwie ist er dann eine Böschung runtergefallen und hat sich verletzt. Und als wir ihn holen wollten, sind wir in ein Bärenpaar hineingerannt.“
Skadis Atem wurde schwer, zitterte zum Ende hin. Ihr ganzer Körper wirkte angespannt und aufgewühlt. Mit geballten Fäusten stand sie neben Jón. Hilflos und wütend.
“Es tut mir so leid.“, fügte sie wispernd hinzu und schluckte schwer. “Es ist alles meine Schuld.“
Kjartan täschelte Rúnar die Schulter. So liebevoll es ging, aber doch etwas unbeholfen. Als Skaði anfing zu sprechen, sah er auf und verzog das Gesicht zu einem bemitleidenden Ausdruck.
Jón hob langsam die Hand und berührte leicht Skaðis Schulter, um zu testen, ob sie ihn ließ.
"Ihr dürft mich bestrafen. Egal wie. Ich werde mich auch nicht wehren... oder davon laufen."
Noch ehe Jón ihre Schulter mit seinen Fingern erreichte, huschten die braunen Augen der Nordskov hinauf. Direkt in das alte Gesicht vor sich, das so viel Mitleid in sich trug, dass ihr ganz flau im Magen wurde. Dieser Blick sollte nicht ihr gelten. Nicht derjenigen, die für all das Verantwortung trug. Eher sollte er wutentbrannt zu ihr hinab sehen. Sie anschreien und mit der Rute nach ihr ausholen.
Doch alles was diese Menschen taten, waren weinend und mitgenommen beisammen zu stehen und sich einander... Halt zu geben?
Verwirrt sah Skadi zur Seite, fixierte Jóns Finger und kletterte sichtlich irritiert seinen Arm bis zu seinem Gesicht hinauf. Sie verstand nicht, wieso er das tat. Er müsste sie doch jetzt hassen, oder nicht?
"Es ist okay, wenn du mich jetzt dafür hasst.", flüsterte sie leise. Unter einem Lächeln, das keines war und so schief auf ihren Lippen hing, dass kein Zweifel daran blieb, dass sie vollkommen überfordert war.
"Keiner hasst dich," sagte Jón. "Du hast nichts Schlimmes oder Falsches getan, das war einfach ganz großes Unglück."
Das war es zumindest, was Jón darüber dachte. Was sein Vater dachte war vermutlich etwas anderes. Er würde niemals ein Kind bestrafen, das nicht von seinem eigenen Blut war, aber es war schließlich-- "Außerdem war es meine Idee gewesen reiten zu gehen. Wenn ich das nicht vorgeschlagen hätte, wäre das nie passiert."
Jón biss sich auf die Lippe -- die Tränen stachen ihm in den Augen. Er strich Skaði sanft den Arm hinab. Er hatte das Bedürfnis sie in den Arm zu nehmen. Nicht zuletzt, weil er selbst etwas wollte, woran er sich festhalten konnte. Aber Skaði hörte sich nicht so an, als seien tröstende Umarmungen das, was die Leute, dort wo sie herkam, in solchen Situationen ... verteilten.
Unglück. Damit würde sich ihr Vater wohl nicht milde stimmen lassen. Ganz im Gegenteil. Allein der eisige Blick, den er ihr zugeworfen hatte, ließ sie für einen Sekundenbruchteil hoffen, dass er so schnell nicht zurückkehrte. Nicht vor morgen früh. Am besten erst dann, wenn der Rest der Hauses ausgeflogen war und sie sich kein Kissen aufs Gesicht drücken musste, um ihre Schreie zu dämpfen.
"Dann hat wohl am Ende mein Vater auch Schuld, weil er hier her kommen wollte..."
Diese Kette an Anschuldigungen war doch Blödsinn. Ein Ausritt war eine tolle Idee gewesen. Nicht zuletzt, weil sie noch nie auf dem Rücken eines... Pferdes gesessen hatte. Und bis zu diesem komischen Geräusch im Busch und ihrem Abstieg war immerhin alles gut gewesen. Oder nicht?
"... und du wolltest mir doch nur eine Freude machen, oder? Daran ist nichts falsch."
Etwas unbeholfen schob Skadi ihre Hand in den Ärmel ihres Pullovers zurück, um damit die Tränen aus Jóns Gesicht zu wischen.
Jón musste auflachen als sie ihm die Tränen aus dem Gesicht wischte. Er wollte doch nicht weinen. So oder so nicht und schon gar nicht vor ihr. Und sie hatte ja so recht. Er nickte. Und traute sich, ihre Hand zu umgreifen.
Ein Funken Freude sprang in seiner Brust auf, als er daran dachte -- daran was sein würde, wenn dieser Albtraum vorbei war. Es war niemandes Schuld. Sie waren schon tausend Mal in den Wald geritten, tausend Mal mit Sólfari, tausend Mal ohne einen Erwachsenen, waren tausend Mal Füchsen über den Weg gelaufen. Und sie würden das noch viele tausend Male machen. Er und Skaði.
Er lächelte. Na Gott sei Dank. Das hätte noch mehr Theater gegeben, wenn sie auch noch für Tränen in diesem Haushalt verantwortlich war. Es reichte ihr, dass sie bereits ein Pferd auf dem Gewissen hatte - egal was die anderen sagten und wie sehr sie beteuerten, dass es ein Unfall und nicht ihr Verschulden war.
"Was machen wir..." Diese kleine, wenn auch unbedeutende Berührung seiner Hand, ließ Skadi für einen Moment innehalten. Unsicher, was das bedeutete. Wieso er das tat. Wieso sein Lächeln auf einmal so unfassbar warm aussah. Wie das ihrer Mutter, wenn sie ihr Nachts eine Fabel erzählte, weil sie wieder einmal nicht einschlafen konnte.
"...jetzt?"
Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, in der sie einfach vor ihm stand und blinzelnd zu ihm hinauf sah. Ihn musterte und zu verstehen versuchte, was sich ihr bei seinem Anblick nicht wirklich offenbarte.
Kurz wollte Jón seine Hand wieder wegnehmen, aber er tat es nicht. "Jetzt... warten wir." Er seufzte, aber lächelte und drückte ihre Hand fester.
"Kommt, setzt euch ins Wohnzimmer und ich bringe euch eine heiße Schokolade", sagte Kjartan. Rúnar hatte sich von ihm gelöst und schniefte, die Hände zu Fäusten geballt. Kjartan fuhr ihm über die Haare, in der anderen Hand die Weinflasche.
Warten. Das war nicht das, was sie unbedingt hatte hören wollen. Warten verschlimmerte nur dieses unangenehme Drücken und Kneifen in ihrer Magengegend. Ganz sicher würde sie vor Anspannung irgendwann halbe Krater in den Boden gelaufen haben. Dennoch nickte Skadi, in dem Wissen, dass ihr nichts anderes übrig blieb. Davonlaufen war keine Option. Ohne ihren Vater kam sie nicht mehr nach Hause zurück. Und darauf hoffen, dass hier irgendjemand ihn besänftigen konnte, tat sie nicht. Allein ihrer Mutter war diese besondere Gabe vorbehalten. Sowie ihrer kleinen Schwester, die etliche Seemeilen entfernt irgendwo im Garten herum turnte oder sich von einem ihrer Brüder Matsch ins Gesicht werfen ließ.
Nur langsam senkte die Nordskov ihre Hand, nahm die Jóns unweigerlich mit sich, ehe sie kurz an ihrem Pullover zog und dann die eigenen Finger um seinen Handrücken schloss. Ein komischer Brauch war das.
“Danke.“, waren die einzigen Worte, die sie noch an Kjartan richtete, ehe sie zu Rúnar hinüber sah und die Lippen fest aufeinander presste. Sein Anblick zerfraß sie fast von Innen.
Rúnar hatte sich im Wohnzimmer in den Sessel vor dem Cafétisch gesetzt und Jón bot Skaði gerade an, sich auf das Sofa zu setzen, also Frau Tóta zur Tür herein platzte. "Oh, meine Lieben!" Sie blieb kurz stehen, musterte die Kinder, stürmte dann auf die Sitzgruppe zu und setzte sich auf den Ottomane. "Kjartan ist mir auf dem Weg in die Küche begegnet..." Sie presste die Lippen zusammen und atmete einmal tief ein. Sie schien so außer sich, als wäre sie selbst dabei gewesen. Ihre Finger waren im Stoff ihres Rockes vergraben. "Kann ich etwas für euch tun?" Sie sah zu Skaði. "Etwas für dich, Skadi?"
Rúnar zog die Augenbrauen zusammen. Skadi? Oder hatte sie doch wieder Skaði gesagt?
Mit jedem weiteren Schritt, den sie schweigend durch den Korridor nahmen, klammerte sich Skadi mehr und mehr an dem Jungen fest, der kaum von ihrer Seite wich. Rúnar indes verschwand wie ein Geist hinter der Tür zum Wohnzimmer. Als wären sie nicht da, direkt auf seinen Fersen. Immer wieder sah sie zu ihm hinüber. Unschlüssig darüber, was sich auf seinen Zügen abzeichnete, die ihr augenblicklich so wenig zu sagen hatten.
Mit einem tiefen Atemzug sank der schmale Körper hinab auf das weiche Polster, schüttelte auf die Frage der Älteren Frau hin nur den Kopf und versuchte sich in einem schiefen, wenn auch ungelenken Lächeln.
“Vielen Dank.“