24.07.2020, 18:25
Innerhalb von wenigen Momenten legte sich in Rúnars Kopf ein Plan zurecht. "Nonni!", rief er. Sein Cousin drehte sich zu ihm um. Er war blass vor Angst. "Du gehst ihnen hinterher, ich komme vom oberen Weg."
Jón nickte und trieb Blær an und Rúnar drehte Nótt um. Tat genau das, was sie eigentlich nicht machen sollten: nicht allein in den Wald reiten. Aber es ging jetzt nun mal nicht anders.
JÓNS PERSPEKTIVE
Innerhalb weniger Schritte hatte er zu Skaði aufgeholt und verlangsamte Blær, sodass sie in der selben Geschwindigkeit nebeneinander herliefen. Von Sólfari war, bis auf die Hufabdrücke im Schnee, keine Spur.
Jón streckte seinen Arm zu Skaði runter. "Traust du dich? Wir wären schneller." Aber falls Rúnar es schaffte, Sólfari von der anderen Seite zurückzutreiben, dann spielte es eh keine Rolle, wie schnell sie waren. Im Notfall würden sie Sólfari einfach rennen lassen und ihn später wieder aufsammeln. Oder einer der Bauern aus den umliegenden Höfen würde ihn zurückbringen. Alle wussten, wie Sólfari aussah und dass er seinem Vater gehörte. Götter ... sein Vater wäre sowas von wütend, wenn er je davon erfahren würde. Er verbat sich daran zu denken, dass sie es nicht schafften Sólfari selbst einzufangen.
Das Trappeln von Hufen wurde in ihrem Rücken laut. Doch Skadi wandte sich nicht herum. Beschleunigte ihre Schritte so gut sie konnte, um den Hengst nicht aus den Augen zu verlieren. War jedoch zu langsam, um mehr als nur dem Weg im Schnee zu folgen. Mit schwerem Atem sah sie zu Jón hinauf, kaum dass er in ihrem Augenwinkel auftauchte und die Hand zu ihr hinab streckte. Nickte nur auf seine Worte hin und drückte sich mit voller Kraft vom Boden ab, kaum dass sie seinen Arm fest mit ihren Fingern umschloss. Fast rutschte sie an Blærs Flanken ab. Konnte sich nur mit einem festen Griff an Jóns Jacke aufrecht halten und stieß einen tiefen Atemzug aus.
"Tut mir leid... das war alles meine Schuld."
Jón musste sich mit der einen Hand in Blærs Mähne festhalten, um nicht aus dem Sattel gezogen zu werden.
Er spürte, wie der Sattel etwas zur Seite rutschte, aber bevor er sich zu weit zur Seite ziehen lassen und der Sattel ganz runterrutschen konnte, war Skaði hinter ihm. Er konnte nicht umhin zu denken, dass sie beiden wirklich ein gutes Team waren. Blær klopfte er den Hals -- diese Pferde ließen wirklich alles mit sich machen und dafür war er unendlich dankbar.
"Das muss dir nicht leid tun, weil es nicht stimmt." Es war seine und Rúnars Idee gewesen, reiten zu gehen und Sólfari mitzunehmen.
Jón trieb Blær wieder in den Galopp und sie preschten den Pfad entlang, Baumstämme flogen an ihnen vorbei, alles andere war nur weiß -- die Kronen, der Weg, das Unterholz. Dann kam ihnen ein goldener Fleck entgegen und dann ein schwarzer. Jón seufzte erleichtert. Aber das schwierigste kam erst noch. Sie mussten Sólfari irgendwie abfangen, oder er würde einfach wieder an ihnen vorbeirennen. Rechts von ihnen ging es steil den Hang hoch, da würde er nicht langrennen können, links ging es den Hang hinunter -- zwar nicht ganz so steil, aber das Unterholz war dicht. Der Pfad war breit genug für mehrere Pferde.
"Achtung, wir machen eine Vollbremsung!, rief er und hoffte das Skaði ihn durch den Fahrtwind hörte. Blærs Hufe schlitterten durch den Schnee, aber sie kam sicher zum stehen und Jón drehte sie seitwärts, bereit, sie in Sólfaris Weg zu treiben, falls es sein musste.
Es war vollkommen gleich was Jón sagte. Wenn ihr Vater von dieser Sache Wind bekam, konnte sie nur noch ein Gott vor seinem Zorn bewahren. Schwer schluckend starrten die dunklen Augen für einen Moment in den Schnee, ehe die Stute davon galoppierte und den leichten Körper der Jüngeren durch die Gegend schleuderte. Immer fester klammerte sie sich an den Jungen vor sich, um nicht abzurutschen. Vergrub ihr Gesicht in dem weichen Fell seiner Jacke und sah erst auf, als er eine Vollbremsung ankündigte und sie jeden Muskel des Tieres unter sich arbeiten spürte. Schwer atmend, als hätte sie und nicht Blær einen Halbmarathon hingelegt, erhob sich der dunkle Schopf. Hielt nach dem verschwundenen Hengst Ausschau, der nur unweit von ihnen kaum mehr im Schnee auszumachen war. Mucksmäuschenstill hockte Skadi auf ihrem sicheren Platz. Presste die Lippen fest aufeinander, um auch ja keinen Laut von sich zu geben.
Noch einmal würde sie sich nicht waghalsig vom Pferd schmeißen und durch den tiefen Schnee auf das nervöse Tier zu bewegen. Ganz gleich wie stark es in ihren Füßen und Fingerspitzen kribbelte.
Sólfaris Ohren tanzten. Vor, zurück, zur Seite. Er schnaubte. Stieß hellen Atem in die kalte Luft.
Sólfari tänzelte vor ihnen herum. Wenn er vor Angst nicht die Augen verdrehen würde, dann könnte Jón schwören, dass er sie nur ärgern wollen würde.
"Komm, Sólfari, stell dich nicht so an."
Der Hengst zuckte zusammen, als Jón abstieg und -- natürlich -- als Jón sich langsam auf ihn zubewegte, war das schon zu viel. Sólfari rannte los, wieder in die andere Richtung.
RÚNARS PERSPEKTIVE
Er konnte sich keinen Reim drauf bilden, was mit Sólfari los wahr. Er war oft nervös, aber meistens half es, wenn man selbst gelassen war -- das übertrug sich auf ihn. Und bis er weggelaufen war, waren sie auch alle noch gelassen gewesen. Oder?
Rúnar trieb Nótt an. Sie legte die Ohren an, hatte dieses Theater wohl auch langsam satt, aber tat, was Rúnar verlangte.
Sólfari stieg, seine Vorderbeine hoben nur leicht vom Boden ab, aber er machte eine Kehrtwendung.
"Sólfari!" Jón hatte beides: keinen Nerv mehr und keine Geduld mehr.
Dann sah Sólfari keinen anderen Ausweg mehr als den Hang. Mit einem Satz sprang er ins Unterholz, bemerkte wohl, dass er sich verschätzt hatte, als er kurz anhielt, aber sein Fluchtinstinkt war zu groß, um umzukehren. Er machte ein paar Sprünge über das dichte Unterholz hinweg. Vögel flogen auf und beschwerten sich, Äste knackten -- Rúnar und Jón standen da und sahen dem Hengst hinterher. Sie würden so viel Ärger bekommen. Oder Jón. Jón würde Ärger bekommen. Weil Onkel Nói war strenger und Sólfari war Onkel Nóis gesegnetes Pferd.
Als Sólfari stolperte, schlug Rúnar sich die Hand vor den Mund. Er war sich nicht mehr sicher, ob das Knacken vom Unterholz kam. Sólfari rutschte den Hang hinab und kam unten auf dem Pfad zum liegen -- versuchte aufzustehen, aber sein Vorderbein wollte nicht. Er wieherte, versuchte nochmal aufzustehen--
Wie ein Geist hockte Skadi regungslos und schweigend auf dem Rücken der Stute, die immer nervöser mit den Ohren spielte. Doch der Blick der jungen Nordskov war wie gebannt auf Jón gerichtet. Folgte dann seinen Händen in Richtung des weißen Hengstes, der erneut panisch die Flucht ergriff und die Böschung hinab sprang. Durch das dichte Unterholz, das lautstark unter dem Gewicht des hellen Körpers nachgab. Und ihn dann schlagartig unter sich begrub. Stille kehrte für einen Moment ein, in dem beide Jungen starr vor Schock auf ihrem Platz verharrten. Jón oberhalb des Abhangs. Rúnar irgendwo weiter oben auf seinem Pferd. Skadi selbst hielt es keine Sekunde mehr auf der Stute. Binnen weniger Atemzüge kam sie dumpf auf dem Pfad zum Stehen, dem sie an Jón vorbei in das Unterholz folgte und nach einem kurzen Blick den Hang hinab, selbigen hinab schlitterte. Das hier war vielleicht nicht ihre Heimat, nicht der Ort, an dem jede Sekunde eine wilde Raubkatze aufkreuzen und sich das verletzte Tier zum Fraß vornehmen konnte. Doch wenn sich Sólfari noch mehr versuchte panisch aufzuraffen und davon zu galoppieren, desto schmerzvoller wurde es für ihn.
„Shhh… alles gut. Beruhig dich. Du tust dir nur weh.“
In gebückter Haltung verharrte Skadi einige Hand weit von dem Hengst entfernt und wagte es nicht, sich noch einen Millimeter zu bewegte. Hielt die Handfläche gen Himmel und weit von sich nach vorn gestreckt und die Augen unverwandt auf den Kopf des Tieres gerichtet.
Jon blieb regungslos und starrte auf den wiehernden und sich windenden Sólfari, als Skaði vom Pferd stieg und den Hang hinunter rannte. (Scheinbar die einzige Person, die gerade fähig war etwas zu tun.) Aber Rúnar berappelte sich. Er nahm die Hände vom Gesicht und sagte: "Wir müssen jemanden holen gehen. Onkel Nói. Oder Papa. Und einen Tierarzt." Es fühlte sich so an als zitterte seine Stimme, aber er vielleicht kam ihm das nur so vor, weil seine Hände und sein Herz es auch taten.
"Ich hab Angst", sagte Jón, kaum hörbar. Er sah Rúnar kurz an, dann schweifte sein Blick zu Sólfari, dann irgendwo auf den Boden.
Rúnar bewegte Nótt zu Jón, sodass er nah genug war, um seine Hand auf d dessen Schulter zu legen. Jón sah auf, Tränen standen in seinen Augen -- er hatte wirklich Angst. Jón wollte immer, dass man dachte, es ginge ihm gut, auch wenn es nicht so war. "Wir müssen jemanden holen. Du musst entweder bei Sólfari bleiben, oder jemanden holen gehen."
Jón atmete tief ein. "Ich gehe. Aber Blær muss bei Sólfari bleiben."
Rúnar nickte, dann sagte er: Such meinen Papa zu erst.
Sie tauschten die Pferde, galoppierten los -- Jón nahm die Gabelung zum Hof, Rúnar die zum unteren Weg.
Noch immer verharrte Skadi in ihrer Position. Beobachtete das Pferd, dessen Nüstern sich stetig aufblähten wie ein Blasebalg. Er schien sich nicht beruhigen zu wollen. Unternehm stetig einen Versuch sich aufrichten und krachte doch wieder mit einem Schmerzenslaut zu Boden. Was war nur in ihn gefahren, dass er sich dermaßen erschrak? Hatte SIE dem Tier solche Furcht eingejagt? Denn der Fuchs war doch eindeutig zu klein, um einem Wesen dieser Größe die pure Panik in die Adern zu pumpen. Ein Knacken im fernen Unterholz erregte ihre Aufmerksamkeit und ließ den dunklen Schopf pfeilschnell herum fahren. Hufgetrappel erhob sich, doch nicht aus jener Richtung, aus der sie dieses Schnauben und Brummen wahrnahm. Dieser Tag war doch eindeutig verflucht.
"Nicht bewegen."
Raunte sie Sólfari zu, auch wenn sie nicht davon ausging, dass er sie überhaupt verstand, geschweige denn auf sie hörte.
Als Rúnar um die Kurve kam hockte Skaði neben Sólfari und versuchte ihn zu beruhigen. Sólfari hob den Kopf und wieherte Blær zu.
Rúnar machte sich bereit die Stute abrupt abzubremsen, aber unerwarteterweise tat sie es selbst. Im nächsten Moment hing er auf ihrem Hals, ließ die Zügel los, versuchte sich wieder aufzurichten, aber Blær tänzelte und ging rückwärts. "Blær! Blær! Was ist denn los?!"
Das tat sie nie. Nie. Und sie wollte einfach nicht aufhören. Bevor er unsanft auf dem Boden laden würde, klammerte Rúnar sich um Blærs Hals und ließ sich seitlich hinabsinken--taumelte--er bekam den Zügel gerade noch zu fassen, bevor Blær außerhalb seiner Reichweite war. "Schhhhhh. Beruhige dich." Aber es half nichts.
Vor was hatte sie denn so panische Angst? Rúnar drehte sich um, um vielleicht eine Quelle ausmachen zu können -- und erstarrte. Es fühlte sich an als hätte sein Herz ausgesetzt, dabei schlug es ihm bis zum Hals.
Er fasste sich wieder hielt mit aller Gewalt Blærs Zügel fest.
"Skaði", sagte er, so leise, dass er hoffte, sie hatte es trotzdem gehört. "Bär." Schräg hinter ihr. Und er hatte sie entdeckt.
Ihre Sinne kitzelten aufgeregt und brachten jeden Nerv in ihrem Körper zum Vibrieren. Totenstille machte sich um sie herum breit. Blendete das unablässige Schnaubend und Wiehern Sólfaris neben sich aus. Grell und schmerzvoll schlug der helle Schnee gegen ihre Netzhaut, ließ sie für einen Moment blinzeln, um die aufsteigenden Tränen zu unterbinden, die ihre Sicht unnötig verschleiert hätten. Und dann brach Rúnars Stimme in ihr Unterbewusstsein. Jagte eine spürbare Gänsehaut auf ihren Körper und brachte ihr ruhig schlagendes Jägerherz vollkommen aus dem Takt. Ein Bär. Scheiße. Aus den Augenwinkeln versuchte Skadi das Tier auszumachen, das sie wohl im Unterholz gehört haben musste. Schluckte und stieß kleine helle Atemwolken in die kalte Luft. Sie wusste, dass sie sich nur langsam bewegten durfte, um das Tier nicht unnötig zu einer Jagd anzustiften. Ihre Beine regten sich jedoch keinen Millimeter. Nicht einmal als das Brechen von Ästen an sie heran getragen wurde und sich kaum merklich eine schimmernde Silhouette aus dem Wald erhob. Erst als Sólfari panisch den Kopf zurück warf und sich auf die Füße rappelte, bekam die junge Nordskov die Kontrolle über ihren Körper zurück. Wollte nach der Mähne des Pferdes greifen, das eine erneute Flucht anstrebte, doch es war zu spät. Noch ehe sich Skadi gewahr wurde was sie tat, bäumte sie sich zur vollen Größe auf. Schrie und fletschte die Zähne wie ein wild gewordenes Tier, das seinen Fressfeind vom Platz verscheuchen wollte.
Rúnar schlug sich wieder die Hand vor den Mund. Diesmal, um nicht loszuschreien.
Blær reagierte auf Sólfaris Bemühungen und hörte auf, Rúnar wegzuziehen. Als ob sie auf Sólfari wartete. Er schaffte es, aufzustehen, ein paar Schritte zu humpeln, aber knickte ein.
"Sólfari", sagte Rúnar. Nur das. Er wusste nicht, was er damit meinte. Sólfari, komm her. Sólfari, es wird alles gut. Sólfari, es tut mir leid.
Rúnar wusste, wie das enden würde. In jedem möglichen Szenario war es unmöglich Sólfari zu helfen. Rúnar stiegen die Tränen in die Augen, liefen über. Er atmete tief ein. Nicht die Nerven verlieren, jetzt.
Die besten Chancen hatten sie alle, wenn er und Skaði so schnell wie möglich zum Anwesen zurückkehrten und ein Gewehr und einen Erwachsenen holten. In der Hoffnung, dass der Bär ihnen nicht nachrannte oder Sólfari nichts antat -- nicht zu viel antat.
Er hatte überhaupt keine Ahnung, wie Bären sich verhielten. Wie man sich ihnen gegenüber verhalten musste. Einmal im Jahr vielleicht strandete einer auf Andalónia, oder noch seltener.
Rúnar streckte ganz langsam seine freie Hand in Skaðis Richtung. Sie mussten beide schnell genug aufsteigen, ohne dass der Bär sie dabei erwischen konnte.
Der Bär schreckte zurück. Verharrte in seiner Position und starrte mit zitternder dunkler Nase zu ihnen hinüber. Skadi nutzte den Moment und machte einen Satz voraus, schrie aus voller Kehle und fuchtelte mit beiden Armen. Sie bemerkte Rúnar nicht einmal hinter sich, dessen Hand nur knapp ihren Unterarm verfehlte. Viel zu sehr war sie von dem Anblick eingenommen, der sich ihr bot. Das Tier machte kehrt und verschmolz mit den hellen Flecken Schnees im Wald. Ihr Herz sackte zwischen ihre Beine. Die dick verpackten Arme hingen wie gekochte Spaghetti an ihren Seiten hinab.
Anstatt auf ihn zu reagieren, schrie Skaði plötzlich los wie verrückt. Blær und Rúnar zuckten gleichermaßen zusammen, aber es schien zu helfen -- der Bär kehrte um.
Rúnar zog vorsichtig an Skaðis Ärmel.
Sie zuckte zusammen. So stark, dass sie Rúnar beinahe mit der flachen Hand durchs Gesicht gefahren wäre. Immer wieder hob und senkte sich ihre Brust. Der Schock stand ihr mehr als deutlich in die Miene geschrieben.
“Wo ist Jón?“
Rúnar zuckte nochmal zurück, ließ sie sofort los.
"Jemanden holen gehen." Seine Stimme war ruhiger als sein Herz ihm vorgab. "Glaubst du der Bär könnte zurückkommen?"
Rúnar sah zu Sólfari. Er hatte aufgehört zu zappeln, aber atmete schwer.
Erleichterung machte sich in ihren Muskeln breit und löste den Krampf in ihren Schultern. Wenigstens einen hatte es sicher von hier fortgezogen. Was sie jetzt allerdings tun sollten, wusste Skadi nicht, dessen Augen über den hellen Schnee auf Sólfari glitten. Der Hengst wirkte erschöpft. Sein Bein sah noch deformierter aus, als vorhin. Zumindest bildete sie es sich ein.
"Ich weiß es nicht. Ein hungriger Wolf würde es."
Oder ein Jaguar. Geduldig würde er um sie herum kreisen und auf den richtigen Moment warten, um das wehrlose Opfer zu reißen. Doch dieses Bild ersparte sie Rúnar lieber. Bewusst.
"Wir brauchen Feuer und Stöcke."
Ruckartig wandte sich die Jüngere wieder herum und fixierte die blasse Miene des Jungen mit energischem Blick. Ihnen blieb keine Zeit, um das Für und Wieder abzuwägen.
"Feuer? Wofür?" Sie kam ihm so entschlossen vor, dass er sich dumm dabei fühlte nicht zu wissen, was sie damit vorhatte.
Er konnte nichtmal ohne Streichhölzer ein Feuer machen.
Leichte Furchten zeichneten sich zwischen ihren Brauen ab. Unsicher, ob diese Frage von ihm Ernst gemeint war oder er wirklich nicht wusste, sich gegen wilde Tiere zur Wehr zu setzen.
"Um ihn zu verschrecken. Tiere haben Angst vorm Feuer."
Zumindest traf das auf die zu, die sie kannte. Ob sich das auf alle anwenden ließ, blieb fraglich. Ein Seufzen verließ ihre Kehle, ehe sie sich in der Hocke etwas erhob und auf den Wald zusteuerte.
"Warte hier... ich versuche was da drüben zu finden."
"M-hm." Rúnar nickte mit zerknirschter Mine.
Skaði verschwand im Unterholz und Rúnars Herz klopfte noch stärker bei dem Gedanken, dass der Bär zurückkommen und Skaði -- und sie beide überraschen könnte.
Ein Zittern durchlief ihn. Die Luft war kalt, sein Körper schweißdurchnässt.
Er ließ Blærs Zügel lang und hockte sich vor Sólfari. Der Hengst schloss kurz die Augen -- schnaufte aber weiterhin -- als Rúnar dessen Gesicht in die Hände nahm und ihm über den Nasenrücken strich.
Schritt um Schritt näherte sie sich den ersten Büschen. Lauschte mit angespannter Miene und klopfendem Herzen den Geräuschen ihrer Umgebung und verschwand letztlich im angrenzenden Waldgebiet. Weit kam sie jedoch nicht. Bückte sich gerade nach einem toten Ast, der unter dem hellen Schnee mit einem Zweig hervor lugte, als sich ein kehliges Brummen in der Stille erhob. Erschrocken schnellte der dunkle Haarschopf hinauf und erkannte gerade im letzten Moment die dunklen Flecken in der Ferne. Für einen Moment setzte ihr Atem aus. Ihr Körper versteinerte. Dann machte sie auf der Stelle kehrt und rannte zu Rúnar zurück, mit nichts mehr als zwei Zweigen in den Armen.
"Wir müssen weg. Schnell."
Immer wieder drohte sie im tiefen Schnee zu straucheln und suchte angestrengt nach Gleichgewicht. Panik meißelte sich tief in ihre Züge und kaum hatte sie den Jungen erreicht, krallte sie ihre Hände fest um sein Handgelenk, um ihn mit sich zu ziehen.
Rúnar schrie erschrocken auf als Skaði ihn packte. Sie riss ihn mit und er stolperte und fiel fast hin, aber rannte instinktiv mit.
Erst nach ein paar Schritten realisierte er, dass sie flüchteten. "Wir sind viel schneller auf dem Pferd."
Er wollte sich nach Blær umdrehen, aber hörte sie ohnehin schon hinter sich -- ihr Schnauben und ihre Hufe auf dem Weg. Ebenfalls auf der Flucht.
Skadi rannte, beschleunigte ihre Schritte, sobald sie flachere Stellen im Schnee erreichte und sah kein einziges Mal zurück. Es hätte nichts gebracht, sie nur unnötig verlangsamt und jene Angst geschürt, die sie womöglich auch hätte lähmen, statt beschleunigen können.
"Lauf einfach Rúnar. Lauf!"
Sie hörte das Trappeln von Hufen in ihrem Rücken. Spürte wie ihr Herz mittlerweile schon gegen ihren Kehlklopf schlug und ihre Lungen vor Kälte schmerzten. Doch sie dachte keine Sekunde daran sich zu den Bären umzudrehen, die mittlerweile aus dem Wald gekommen sein mussten, um sich über den verletzten Hengst her zu machen. Und solange sie kein Feuer oder ein Gewehr in den Händen hielten, war alles was sie tun konnten, ums nackte Überleben zu rennen.
Nach weiteren Minuten hielt die junge Nordskov zum ersten Mal inne und wandte sich herum. Sah an Rúnar und der Stute vorbei in den hellen Schnee, der nichts außer unendlichem Weiß präsentierte. Keine Bären, kein kehliges Brüllen. Sie hatten es geschafft, oder?
Er tat, was sie sagte. Darin war er immer gut. Einfach das zu tun, was man ihm sagte.
Als sie rannten und er daran denken musste, wie sie Sólfari zurückließen, konnte er seine Tränen nicht mehr zurückhalten.
Als sie anhielten wischte er sie sich schnell aus dem Gesicht. Sie brannten kalt auf seiner Haut.
"Rúnar!" Sein Vater. Er drehte sich ruckartig in die Richtung aus der die Stimme gekommen war.
Wie ein Kanonenschuss durchschnitt die Stimme des Älteren die weiße Stille, die nur von ihren schweren Atemzügen unterbrochen worden war. Skadi wandte sich vollkommen schreckhaft herum, suchte aus dunklen Augen die Landschaft nach bekannten Gestalten ab und versteinerte augenblicklich, als sie hinter der Silhouette des Gutsherren, die ihres Vaters auf einem der Pferde erkannte.
Er brauchte nichts zu sagen. Sah aus emotionslosen dunklen Augen zu ihr hinab, die ihren Körper stärker zum Frösteln brachten, als es der Schnee um sie herum je hätte tun können. Ohne es zu bemerken, war sie einen Schritt zurück getreten. Stand nun schräg hinter Rúnar, den sie kaum mehr wahrnahm.
"Wir wurden von Bären überrascht, als wir bei dem Pferd warten wollten."
Rúnar bemerkte nur halb, was für einen vielsagenden Blick Skaðis Vater ihr zuwarf, denn seiner blieb an dem seines Onkels hängen. Bitter und hektisch. "Bären?! Er sah zum Wald rüber, dann wieder auf Rúnar runter -- Rúnar fühlte sich unglaublich klein dabei. "Und Sólfari ist noch im Wald?"
Rúnar nickte, obwohl er wusste, dass Nói die Frage wahrscheinlich für sich selbst beantwortet hatte.
"Ihr geht zurück zum Hof, wir kümmern uns darum", sagte Rúnars Vater und richtete den Gurt des Gewehrs, das er auf der Schulter trug. Er war gerade im Begriff seinen Wallach zu drehen, hielt aber nochmal inne. "Rúnar", sagte er ernst. Rúnar zog den Kopf ein. Sie hatten nichts Verbotenes getan. Es war ein Unfall gewesen. Aber sein Vater sagte, "Ich bin froh, dass es dir gut geht." Er gab ihm ein unscheinbares Lächeln, das Rúnar nur sah, weil er seien Vater kannte. Dann winkte er den beiden anderen Männern, ihm zu folgen.
Sie wollte nicht zurück zum Haus. Wollte in Richtung des Pferdes zurück rennen, um ihr Unheil mit eigenen Augen zu betrachten. Doch selbst ihr war klar, dass es nicht nur unhöflich, sondern angesichts der Worte, die Rúnars Vater an seinen Sohn gerichtet hatte, auch noch unangebracht gewesen wäre. Dennoch hielt sie den Atem an, schluckte, als ihr Vater die Zügel fester in die Hand nahm und seinen finsteren Blick von ihr abzog.
"Lass uns gehen." Flüsterte sie Rúnar zu und zupfte fast schon beiläufig am Zipfel seines Ärmels. Doch ihre Stimme zitterte merklich. Noch mehr, als der Hengst, auf dem ihr Vater saß mit einem Satz voraus sprang und Nói über die kalte Schneedecke in Richtung des Waldes folgte.
"Es tut mir so leid." Es war kaum mehr als ein atemloser Hauch an Worten, den die junge Nordskov in hellen Schleiern ausstieß.
Rúnar starrte den Pferden hinterher. Halb verdeckt vom Schnee, den sie hinter sich aufwirbelten. Er schloss seine Faust fest um Blærs Zügel.
"Mir auch."
Rúnar drehte sich um, als er hinter sich Schneematsch in einem gleichmäßigen Dreitakt hörte. Rúnar drehte sich um -- Jón und Nótt.
Er hielt neben ihnen an. "Was ist los, warum seid ihr nicht im Wald?"
Nein. Warum bist du nicht daheim? "Vater hat gesagt, wir sollen nach Hause gehen." Und er war sich sicher, dass Jón diesen Befehl auch bekommen hat. Das war aber nicht Jóns Frage gewesen. "Da ... war ein Bär." Rúnar biss sich auf die Lippe, aber das hatte seine Tränenn noch nie aufgehalten. "Wir haben Sólfari einfach allein gelassen."
Sie waren keinen Meter weit gekommen, als ein weiteres dumpfes Beben durch die dichte Schneedecke drang. Im selben Moment wie Rúnar erhob sich der dunkle Schopf der Nordskov. Kämpfte das plötzliche Wummern hinter ihren Rippen hinab und seufzte unter den Worten ihres Begleiters.
"Es waren zwei Bären... und wenn wir nicht weggerannt wären..."
Skadi stoppte jäh, als etwas Glitzerndes in dem blassen Gesicht des Jungen ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Und fast aus einem Reflex heraus, berührte sie seine Fingerspitzen. Dann seinen Handrücken, um ihn sanft zu umschließen.
Rúnar gab Skaði ein Lächeln durch zusammengekniffene Lippen und wischte sich mit der freien Hand die Tränen aus dem Gesicht.
Bären? Er dachte, es war nur einer gewesen -- dass derselbe nochmal zurückgekommen war. Wie oft passierte es schon mal, dass sich ein einziger Bär sich nach Andalónia verirrte.
Jón fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, atmete tief ein -- und aus. Er sah kurz in die Ferne, gedankenversunken, dann sagte er: "Hoffentlich erwischen unsere Väter sie, bevor sie noch mehr Schaden anrichten." Er machte eine kurze Pause und sprach dann das aus, was Rúnar schon die ganze Zeit dachte. "Hoffentlich geht es Sólfari gut." Diesmal fuhr er sich mit beiden Händen übers Gesicht. "Oh, Götter, was wenn nicht ...?"
Er weinte. Still und schweigend. Dieser Anblick kam ihr so vertraut vor, dass sie schlucken musste. Hätte sie einfach die Geräusche im Untergrund ein Teil des Waldes sein lassen und auf die Jungs gehört. All das hier war ihre Schuld.
“Wir … wir sollten… wir sollten gehen.“
Den Blick von Rúnar abzuwenden und voller Zuversicht auf Jón zu starren, fiel der jungen Nordskov schwerer, als sie es sich eingestand. Doch es half nichts hier in Tränen auszubrechen und womöglich noch einmal zu riskieren, dass sie hier draußen ein leichtes Ziel für allerlei Gefahren boten.
Noch einmal würde sie den Befehl der Erwachsenen nicht ignorieren. Ganz gleich wie schwer die Auswirkungen in ihren Gliedern festsaß.
“Und zu Hause dafür beten, dass es ihm gut geht.“
Sanft zog sie an Rúnars Hand, ehe sie die dunklen Augen auf dieses blasse Gesicht gleiten ließ und ihm in einem angestrengten Versuch aufmunternd zulächelte.
Als sie auf den Gang zu den Wohnräumen bogen kam Kjartan mit einer Flasche Wein gerade die Kellertreppe hoch.
"Na, ihr? Eure Väter sind eben so schnell--" Seine Augen blieben an Rúnar hängen. Der wischte sich schnell die Tränen aus dem Gesicht. "Was ist denn passiert?"
Kjartan sah zwischen den dreien hin und her. Rúnar schmiss sich in seine Arme, der einen überraschten Laut von sich gab, aber ihn dann -- so gut es ging mit der Weinflasche in der einen Hand -- in die Arme schloss.
Jón blinzelte etwas betreten zu Skaði hinüber.