06.07.2020, 12:09
„Klingt beruhigend genug für mich.“
Lucien schmunzelte. Seine Gelassenheit stand im krassen Gegensatz zu der berechnenden Anspannung des ehemaligen Leutnants. Ganz offensichtlich beunruhigte ihn der Gedanke, sie könnten bei einem Schusswechsel innerhalb kürzester Zeit einer Übermacht an Soldaten gegenüber stehen nicht im geringsten. Und das hatte wenig mit fehlendem Menschenverstand, sondern vielmehr mit dem unterschwellig selbstmörderischen Wunsch nach Gewalt zu tun, der ihn schon dazu veranlasst hatte, Enrique überhaupt zu begleiten. Manchmal brauchte er eben ein Ventil und an Bord eines Schiffes konnte es bisweilen zu friedlich zugehen. Aber wie schon gesagt, er hatte auch nicht vor, sich den Weg frei zu schießen. Er hatte immer noch Dolch und Degen bei sich und konnte damit deutlich leiser töten, als mit einer Pistole.
Die beiden Männer setzten sich wieder in Bewegung, wählten einen Umweg, um hinter das Gebäude zu gelangen, während Lucien in Gedanken die beiden Möglichkeiten, aufs Dach zu kommen, gegeneinander abwog. Er hatte noch nicht geantwortet, weil er zunächst sehen wollte, ob der Karren überhaupt noch da war, aber im Prinzip schied diese Möglichkeit für ihn schon aus. Einen rumpelnden Wagen mitten in der Nacht quer über die Straße zu schieben kam nicht in Frage. Gleichgültig, wie klein die ‚Straße‘ war.
Unbehelligt erreichten sie den nächsten Spähpunkt, der ihnen einen Blick auf das Gebäude erlaubte, doch Lucien hielt sich zunächst hinter Enrique dicht an der Gebäudewand, um nicht im Sichtfeld einer Wache oder eines zufällig aus einem Fenster spähenden Nachtschwärmers zu landen. Erst, als der Leutnant fluchte, wurde er hellhörig. Das klang nicht besonders erbaulich.
Einen Augenblick später erhielt er selbst Gelegenheit, zu sehen, worin das Problem bestand und mit einem missmutigen Brummen zog er sich wieder zurück. Seine Gedanken rasten, gingen die Dinge durch, die sein Begleiter ihm erzählt und die er selbst am Gebäude gesehen hatte. Eine Gebäudeseite hell erleuchtet, aber schnell und leicht zu erklettern. Die andere finster und sicher vor zu neugierigen Blicken, aber ohne eine Möglichkeit, sie beide da hoch zu bekommen. Einer schaffte es vielleicht, wenn der andere ihn hoch stemmte. Aber der andere würde seine Schwierigkeiten haben. Einer von ihnen hätte rein gehen und von innen ein Fenster öffnen können, aber trotzdem blieb das Problem, dass die Straße links hell erleuchtet war und die hinten keine Fenster hatte, die man öffnen konnte. Doch dann kam ihm eine Idee.
„Das Fass.“
Lucien schlug die tiefgrünen Augen auf, die er zum besseren Nachdenken geschlossen hatte und richtete den Blick auf Enrique. Seine Stimme kaum ein Flüstern, so leise sprach er.
„Wir sind an einem Fass vorbei gekommen. Wenn wir das hinten an die Wand kriegen, kommen wir beide hoch, ohne gesehen zu werden.“