23.06.2020, 18:45
Skadi zuckte nur mit den Schultern. Letztlich war es ihr gleich wohin sie gingen oder wie sie derzeit auf andere wirken konnte. Gerade war ihr so ziemlich alles gleichgültig. Der angenehme Duft, der sich um sie ausbreitete wie ein sanfter Teppich aus Erinnerungen und wohliger Wärme, ebenso wie der wunderbare Anblick bildschöner Frauen in leichter Kleidung. Das einzige wonach sich ihr Körper gerade sehnte, war die angenehme Nässe auf ihrer Haut. Das Gefühl zu schweben und die Last von den Gliedern zu nehmen. „Oder ihnen einen wirklich Grund zum Gaffen geben.“ Was unter anderen Umständen als süffisanter Kommentar gemeint gewesen wäre, kam nun trocken über die vollen Lippen der Nordskov, dessen schmale Schultern auf der Höhe des Musikers innehielten, ehe sie voraus schritten. Dies hier war immer noch ein ‚Edelbordell‘. Männer waren hier, um sich der Schönheit eines weiblichen Körpers zu erfreuen. Andernfalls hätten sie ihr Geld wohl sinnvoller vergeuden können, als hier her zu kommen und fromm wie kleine Lämmer zu bleiben. Einzig und allein die verstohlenen Blicke der Frauen kratzten an dem kleinen Fleck hinter ihrer Brust. Doch Skadi beherrschte sich, um sie nicht mit einem tiefen Grollen zu verjagen. Sie waren noch immer Gäste in diesem Haus und sollten sich benehmen, sofern sie hier weitere, ruhige Nächte verbringen wollten. Und Lucien zu beichten, dass sie ihre Unterkunft einer Laune wegen aufs Spiel gesetzt hatte, war allemal das Letzte, was sie tun wollte. Bisher kam sie gut genug mit ihm klar, um sich eine herbe Auseinandersetzung mit ihm ersparen zu wollen. Und angesichts ihres derzeitigen Zustandes fühlte sie sich für ihn nicht sonderlich gewappnet. Mit einem begrüßenden Kopfnicken in Richtung der einzigen Männer im Becken, sank das helle Badetuch am Rand des Beckens zu Boden. Wenig später folgte der bemalte Körper der Nordskov, der sich von der Marmorkante ins Wasser gleiten ließ und mit einem tiefen Seufzen bis zum Kinn darin versank.
Vielleicht störte ihn auch der Gedanke, sie beide wieder in eine Situation zu zwingen, in der sie unter sich waren. Auch, wenn Liam im Normalfall nur wenige Probleme damit hatte, schweigend Skadis Nähe zu genießen – im Augenblick fühlte es sich falsch an und daran würde sich an diesem Abend vermutlich auch nichts mehr ändern. Nicht einmal ihr Versuch, die Situation ein wenig aufzulockern – wenn es denn einer gewesen war – schaffte es, mehr auf seine Züge zu locken als ein müdes Schmunzeln. Sie klang eher resigniert als vorfreudig wie sonst bei derartigen Anspielungen. Schweigend folgte er ihr zum Beckenrand, musterte flüchtig die Gestalten, mit denen sie sich das Bad teilen würden und löste schließlich das Handtuch um seine Hüften, um sich Skadi hinterher über die Kante in das dampfende Bad gleiten zu lassen. Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und ließ die Wärme auf sich wirken. Leise Schritte von nackten Füßen auf Stein hallten durch den Raum, übertönten hier und da die leisen Stimmen der Gespräche, die sich ergaben. Sein rechter Oberarm pochte leicht unter dem warmen Wasser, an sich aber war die Wunde oberflächlich ganz gut verheilt, selbst wenn die helle Narbe noch allzu deutlich an die Verletzung erinnerte.
Er genehmigte sich ein paar tiefe Atemzüge, bis das Geräusch der Schritte näherzukommen schien. Den Kopf an die Kante des Mamorbeckens gelehnt sah er nach oben in das Gesicht einer jungen Dame, die ihm mit einem charmanten Lächeln einen der Becher mit Wein reichen wollte. Etwas, was man Liam ganz bestimmt nicht zwei Mal anbieten musste. Er wandte sich um, stützte sich mit den Armen auf den Beckenrand und nahm den Becher mit der Linken entgegen. „Danke.“ - „Auch für die Miss einen Wein?“ Fragend blinzelte sie in die Richtung der Nordskov und griff bereits nach einem weiteren Becher auf ihrem Tablett, um ihn Skadi zu reichen, zwinkerte dann allerdings Liam zu, dessen Dank sie zur Kenntnis genommen hatte. Der wiederum nippte etwas unaufmerksam an seinem Wein.
Unter Wasser hallten die Geräusche nur noch dumpf in ihren Ohren nach. Verzerrte Stimmen und Schritte, die kaum mehr bis zu ihrem Bewusstsein drangen. Mit geschlossenen Augen verharrte die Nordskov am Rande des Beckens. Den Kopf in Richtung Decke gezogen, um fast bis zur Nasenspitze in der wohligen Wärme zu versinken. Erst als das Wasser sich rührte und mit leichtem Druck gegen ihren Körper schwappte, öffnete sie die Augen. Liam hatte sich bewegt. Stand nun mit beiden Armen über den Beckenrand gelehnt und sah zum Ende der nackten Füße hinauf, die Skadi skeptisch musterte, ehe sie empor sah. Erst Sekunden später hallte die Frage in ihren Erinnerungen nach, bis ihr bewusst wurde, das sie wohl ihr gegolten hatte. Geräuschvoll zog sie eine Hand aus dem Wasser, um kopfschüttelnd das nett gemeinte Angebot abzulehnen und sich im Wasser zu ihr herum zu drehen. Rang sich dann sogar ein Lächeln und ein „Oh...vielen Dank, aber nein.“ ab, ehe sie aus den Augenwinkeln erneut zu Liam hinüber sah und unter den vorschreitenden, platschenden Schritten der Anderen seufzte. „Wie gehts deinem Magen?“ In leichten Kreisen schwirrte das Wasser an ihren Seiten vorbei, als sie sich aufrichtete und neben Liam auf der Marmorbank niederließ. Nach wie vor unschlüssig darüber, wieso er sich in einer Situation wie dieser dazu entschied einzugreifen, statt das Weite zu suchen oder Unterstützung zu holen. Denn auch wenn die Narbe an seiner Schulter bereits gut verheilte, bedeutete es nicht, dass er gänzlich genesen war.
Er wusste nicht, was er erwartet hatte. Dass Skadi ihre Abstinenz bereits wieder abgelegt hatte, die sie seit dem unliebsamen Treffen mit den Kopfgeldjägern begleitete? Nur aus den Augenwinkeln heraus nahm er ihre Absage wahr, konnte sie insgeheim für ihre Entschlossenheit nur bewundern, weil er wusste, dass es eine vernünftige Entscheidung war, und nahm fast im gleichen Atemzug einen weiteren Schluck des fruchtigen Weines, den man ihm gereicht hatte. Zum Glück war Vernunft kein Anspruch, den er an sich selbst hegte. Ein wenig abwesend folgte er der Gestalt mit den Augen, die mit dem Tablett in der Hand zum nächsten Grüppchen schritt und gerade, als sein Blick auf einem Tisch am Rande des Raumes hängen blieb, der mit Obst gespickt war, wandte sich Skadi mit einer Frage an ihn, die ihn aus den Gedanken riss. Seine Augenbrauen hoben sich als Zeichen, dass er sie durchaus gehört hatte, auch wenn er sich nicht direkt zu ihr herumwandte. „Der könnte so langsam mal wieder einen kleinen Snack vertragen.“, antwortete er mit einem hörbaren, aber müden Lächeln und drehte sich schließlich wieder um. Den Becher ließ er am Beckenrand stehen. Liam lehnte sich wieder zurück und versank bis zu den Schultern in der angenehmen Schwerelosigkeit des warmen Wassers, ließ Skadi aber auch nicht allzu lange auf die Gewissheit warten, dass er durchaus verstanden hatte, worauf sie hinaus wollte. „Kaum der Rede wert. Wenn man hinfällt, tut’s halt auch zwangsläufig eine Zeit lang weh.“ Es zog ein wenig und strafte ihn mit leichter Übelkeit, aber in Anbetracht seines Oberarmes war das wirklich nicht der Rede wert. Und um ihn vom Essen abzubringen, reichte es auch bei weitem nicht.
Wie unfassbar Nerv tötend es doch war, wenn er bei einer ernst gemeinten Frage diesen ausweichenden Humor an den Tag legte. Beinahe wäre Skadi ein Seufzen entflohen, hätte sie nicht den Blick abgewandt und über die hochroten Köpfe der anderen Badegäste gleiten lassen. Manchmal verstand sie den Musiker einfach nicht. Per se nichts, was sie sonderlich aufregte. Doch mittlerweile waren sie wohl bereits zu weit von einer losen Bekanntschaft entfernt, als dass sie es einfach ignorieren und mit einem Schulterzucken abtun konnte. Zumindest innerlich. Nach außen hin ließ die Nordskov der kleine Versuch die Stimmung aufzuhellen eiskalt. Wieder schwappten kleine Wellen gegen ihre Brust und trieben den feinen Stoff des Oberteils aufwärts. Unter Wasser war das Leinen kaum spürbar, streifte hier und da in langsamen Bewegungen ihre Haut und kitzelte angenehm wie feines Seegras. Doch Skadi wusste, dass es wie Teer an ihr kleben würde, sobald sie aufstünde und das Bad verließ. Und sie hasste dieses widerliche Gefühl. Weil es sich wie ein Fremdkörper anfühlte, der sich an ihrem Körper verbiss und nicht willens war jemals loszulassen. Dennoch watet sie langsam durch das Wasser und aus dem Becken heraus, nachdem sie Liam auf seine Worte nur mit einem Brummen geantwortet hatte. Hinterließ platschende Geräusche auf dem glatten Boden des Badehauses und kehrte Minuten später mit einem Apfel in der Hand zum Beckenrand zurück.
„Hier.“ Mit ausgestreckter Hand war die Dunkelhaarige in die Hocke gegangen und musterte den Lockenkopf von oben herab. Wartete darauf, dass er ihr das kleine Mitbringsel aus der Hand nahm, um dann dicht neben ihm wieder langsam und mit brennenden Armen zurück ins Wasser zu gleiten.
Das letzte, womit er bei seiner eigentlich ehrlich gemeinten Antwort gerechnet hatte, war, ihren Unmut abermals heraufzubeschwören. Ausnahmsweise war es wirklich kein Versuch gewesen, die Stimmung zu lockern, sondern sein ehrliches Empfinden. Er war genügsam und einfach zufriedenzustellen. Und im Augenblick war ihm alles Recht, was ihn nicht zwingend knapp am Tod entlangführte. Dementsprechend verständnislos ließ Skadi ihn allerdings auch zurück, als sie sich schweigend aus dem Bad erhob und ihn allein zurückließ, was er zwangsläufig als direkte Reaktion wertete. Liam seufzte geräuschvoll, machte aber weder Anstalten, sie aufzuhalten, noch ihr überhaupt nachzusehen. Er ärgerte sich. Ärgerte sich darüber, dass es ihm so schwer fiel, sie einfach machen zu lassen. Wut und Trauer gehörten zum Leben dazu wie Freude und Geborgenheit. Bei jedem anderen hätte er mit einem Schulterklopfen auf bessere Tage gewartet und der schlechten Laune die Zeit gelassen, die sie brauchte. Warum erwischte er sich heute andauernd wieder dabei, sich mehr Probleme zu machen als nötig? Mit einem tiefen Atemzug ließ er sich wieder weiter ins Wasser sinken. Morgen sah die Welt wieder anders aus. Er rechnete nicht damit, dass Skadi zurück kam, reagierte also auch im ersten Moment nicht auf die Schritte, die wieder in seine Richtung kamen. Dann blinzelte er überrascht in das feine Gesicht der Jüngeren und bemerkte erst im zweiten Moment den Apfel. Der Ärger verpuffte, als hätte er nie existiert und die Schatten auf ihren Zügen erinnerten ihn zwangsläufig daran, dass es ihn bedrückte, sie derart unzufrieden zu sehen; dass er es deshalb nicht lassen konnte, zu versuchen, die Härte auf ihren Zügen zu vertreiben. „... Danke.“ Noch immer überrascht über ihre unerwartete Fürsorge nahm er den Apfel entgegen und betrachtete ihn kurz mit einem eigenartigen Gefühl in der Magengegend, während Skadi neben ihm wieder ins Wasser glitt. Er schwieg, während er erstaunlich langsam den Apfel verputze.
Das Schweigen seinerseits hielt an, während sein Blick ein wenig haltlos durch Raum glitt. Schließlich fiel ihm der Blick eines jungen, gar nicht mal so unansehnlichen Mannes in einer anderen Ecke auf, der möglichst unauffällig zu ihnen hinüberspähte. Ein schwaches Schmunzeln erschien auf seinen Lippen, als ihm klar wurde, weshalb und er brach das Schweigen. „Scheint, als hätte da jemand ein Auge auf dich geworfen.“ Wenn er sich richtig erinnerte, hatte er ihn schon das ein oder andere Mal hier gesehen. Nicht als Freyer, er schien irgendwo im Hintergrund zu arbeiten.
Schon wieder dieses Schweigen. Wie ein Elefant, der sich zwischen sie drängte und ihre geschundenen Körper zerquetschte. So sehr es die Nordskov auch versuchte: sie konnte das Drücken auf ihrer Brust nicht ignorieren, das Liams nonverbale Kommunikation in ihr zurückließ. Dieser Kerl machte sie heute einfach nur wahnsinnig. Während ihre Augen es vermieden ihn anzusehen, um dem aufkeimenden Frust zu entgehen, den seine Unsicherheit in ihr auslösen würde, waren es ihre Hände, die unablässig durch das warme Wasser tanzten. Als können sie nicht ruhig neben ihm liegen, ohne ihn zu berühren. Sich zu vergewissern, dass er auch wirklich blieb. „Mh?“ Skeptisch zogen sich die dichten Brauen zusammen, als Skadi den Kopf aus dem Nacken zog und die dunklen Augen über das Becken schweifen ließ. „Bist du sicher, dass es nicht daran liegt, wie zerschunden wir aussehen?“ Offensichtlich musste sich der Fremde abgewandt haben, als Liams Blick den seinen kreuzte. Oder er hielt sich unter dem Einheitsbrei der Umstehenden gut versteckt, um ihren müden Augen zu entgehen. Denn sehen konnte sie von dem vermeintlichen Verehrer nichts als heiße Luft. Langsam wandte sich der dunkle Haarschopf herum. Schleuderte kleine Tropfen in das dampfende Wasser zurück. „Oder reden wir heute in der dritten Person über uns selbst?“ Stahl sich da etwa der Hauch eines Schmunzelns auf ihre Züge?
Mit leiser, aber hörbarer Belustigung kommentierte er ihre Vermutung wortlos und drehte sich halb herum, um abermals nach seinem Becher zu greifen. „Wir?“, wiederholte er und nahm einen Schluck des vollmundigen Weines. „Wohl eher du.“ Er bezweifelte, dass die Mitarbeiter hier nicht zumindest ahnten, was es mit ihnen auf sich hatte. Und Shanaya hatten sie immerhin auch halb hier hineintragen müssen. Dass etwas mit ihnen allen nicht stimmte, war ein offenes Geheimnis. Eines, über das er sich keine weiteren Gedanken machen wollte, bis er es nicht zwingend musste. Abermals sah er auf die andere Seite hinüber, bloß um festzustellen, dass besagter junger Knabe sich wieder einem Gespräch mit seinem Nebenmann gewidmet hatte. Vermutlich war ihm aufgefallen, dass seine Aufmerksamkeit nicht gänzlich unbemerkt geblieben war. Rechtzeitig genug, dass Skadi ihn nicht mehr ausmachen konnte. Aber immerhin schien sie der Gedanke allein tatsächlich ein wenig zu besänftigen. „Hm.“, entgegnete er, ohne sich groß Mühe dabei zu geben, zu verbergen, dass er ein wenig zerknirscht war. „Keine Sorge, wir haben unsere Abfuhr heute deutlich zur Kenntnis genommen.“ Ohne den Kopf in ihre Richtung zu drehen, spähte er von der Seite her zu ihr hinüber, rang sich dann aber doch ein ehrliches Lächeln ab, um nicht den fälschlichen Eindruck zu erwecken, ihr das wirklich übel zu nehmen. „Auf Ein Uhr, kurze Haare.“, konkretisierte er stattdessen seine Aussage. „Glaube, er arbeitet hier irgendwo. Jedenfalls kommt er mir bekannt vor.“
Irgendwie klangen diese Worte bitterer in ihrem Kopf, als sie wohl, angesichts des darauffolgenden Lächelns, von ihm gemeint gewesen waren. Skadi hatte jedoch absolut keine Antwort darauf. Keine verbale zumindest, die ihr ohnehin in der plötzlich staubtrockenen Kehle stecken geblieben wäre. Eine Sekunde lang blähten sich die Nasenflügel der Jägerin auf. Leiteten das tiefe Brummen ein, das sich harsch und unvermittelt aus ihrem Brustkorb nach oben drückte und einen bitteren Zug über ihre Miene fahren ließ. „Mach so weiter und du kriegst für den Rest der Woche eine.“Als könnte sie ihn damit wirklich treffen, wie lächerlich. Doch es verließ so unvermittelt ihre Lippen, dass sie es kaum mehr aufhalten, geschweige denn zurücknehmen konnte. Stattdessen ließ sie sich etwas trotzig tiefer ins Wasser gleiten. Stoppte als ihre Nasenspitze die Wasseroberfläche durchbrach und ihr Blick den heller, goldbrauner Augen kreuzte. Das musste wohl der Kerl sein, von dem Liam gesprochen und den sie für eine Wahnvorstellung gehalten hatte. Doch seine Existenz war ihr genauso gleich, wie jede andere in diesem Raum. Und wieso der Musiker sie so penetrant darauf aufmerksam machen wollte, war ihr ebenso schleierhaft, wie der plötzlich einsetzende bittere Nachgeschmack dessen auf ihrer Zunge. Widerstrebend wandte sich Skadi auf der marmornen Sitzbank herum und zog sich mit den Händen bis zur Brust zum Beckenrand hinauf. Ließ beide Arme auf den kühlen Boden gleiten und senkte den nassen Schopf auf die angewinkelten Unterarme. Liam dabei erneut im Blick. „Mag sein. Und weiter?“
Skadis Warnung ließ ihn blinzeln. In den Raum hinein, da er den Kopf noch immer nicht in ihre Richtung gewandt hatte. Aber sein Blick löste sich automatisch von den Gestalten auf der anderen Seite und verlor sich irgendwo im restlichen Raum. Ernsthaft? Er öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, entlud seinen Frust dann allerdings doch nur in einem geräuschvollen Atemzug und ließ es bleiben. Wie es schien, wollte sie ihn heute missverstehen und er war es leid, zu versuchen, irgendetwas daran zu ändern. Zugegeben, im Eifer des Gefechts hätte ihm tatsächlich ein kindliches ‚Nicht, wenn ich dir zuerst eine gebe‘ auf der Zunge gelegen, aber so war er nicht. Er hatte es nicht nötig, sie in ihrer Tieffseelaune noch zusätzlich weiter zu provozieren. Mal ganz davon abgesehen, wie naiv ihre Drohung war; Skadi war wirklich nicht auf der Höhe. Ungeachtet davon, welchem Mann gegenüber man so etwas aussprach – es in einem Edelbordell zu tun, wo alles nur darauf aus war, einem die Freuden des Lebens zu zeigen, war wirklich naiv. Als hätte er nicht binnen weniger Minuten jemanden gefunden, der ihre Warnung für ihn bedeutungslos machte.
Bei all seinem Frust dachte er für den Moment sogar tatsächlich darüber nach, folgte einer der entblößten Damen mit dem Blick und stellte kaum einen Herzschlag später wieder fest, dass er sich Nähe nicht erkaufen wollte. Vielleicht sollte er sich morgen einfach mal nach einer Taverne umsehen, alle Vorsicht über Bord werfen und wieder das tun, was er immer getan hatte. Bevor man ihnen nach dem Leben oder der Freiheit getrachtet hatte. Allmählich bekam er Kopfschmerzen. Nicht einmal die Aufmerksamkeit des Unbekannten schien sie groß zu tangieren, dabei befand Liam, dass man sich durchaus was darauf einbilden konnte, in einem Haus voller ansehnlicher Frauen aufzufallen. Er zuckte angedeutet mit der Schulter, streifte kurz ihren Blick und lehnte sich dann mit geschlossenen Augen zurück gegen den Marmor. „Nichts. Dachte bloß, es interessiert dich vielleicht und du willst dir die Option vielleicht offen halten für die kommenden Tage.“ Man hörte ihm an, dass er aufgegeben hatte.
Der Wurm hatte sich bereits so tief in ihre Unterhaltung gefressen, dass Skadi nichts anderes tun konnte, als ihm beim fröhlichen Festmahl zuzuschauen. Es musste ihr niemand auf die Nase binden, dass sie gerade eine hochkarätige Abwärtsspirale angetreten war. Taumelnd von einer schlechten Laune in die nächste. Doch es klang einfacher diesen Tag als gescheitert zu verbuchen und abzuhaken, als es ihr letztlich fiel. Schon lange war diese schwelende Wut nicht mehr Teil ihres Körpers gewesen und die Nordskov gänzlich unfähig dieses Kindertheater sein zu lassen. Auch wenn es Liam war, der just als Sündenbock herhielt. Irgendwo, tief in ihrem Inneren wusste sie das. Was sie nicht weniger wütend auf sich selbst machte. Ein Teufelskreis. „Meinst du ich gebe dir nen Korb, um mich vom Nächstbesten besteigen zu lassen?" Ein abfälliges Schnauben verließ ihren Körper, kurz darauf ein tadelndes Schnalzen. Wenn sie keine Nähe wollte, dann von niemandem. Erst Recht keinem Fremden. Wieso Liam das allerdings nicht verstand, war ihr schleierhaft. Oder glaubte er, dass sich all das hier allein gegen ihn richtete? „Kein Bedarf. Mir tut so schon jeder Teil meines Körpers weh." Seufzend stieß sich die Jägerin vom Beckenrand ab. Landete in einem leisen Platscher im Wasser und trieb, mit dem Gesicht gen Decke gerichtet auf der Wasseroberfläche. Er war wohl doch ein absoluter Blödmann, wenn er davon ausging.
Sie sprach es aus, als wäre es das Offensichtlichste der Welt; als wäre es völlig absurd, etwas anderes zu denken. Es hätte ihn beruhigen können, doch die Subbotschaft kam bislang nicht einmal bei ihm an. Und gerade jetzt wusste er ohnehin nicht, was er glauben sollte und was nicht. Er war müde und diese inhaltlose Diskussion zwischen ihnen erschöpfte ihn mehr als er sich selbst gegenüber zugeben wollte. Was wusste er gerade schon, was in ihrem Kopf vor sich ging? Sie sperrte ihn ja mit all den ihr gegeneben Möglichkeiten aus. „Ich weiß es nicht, Skadi.“, entgegnete er ehrlich und bemühte sich um einen Tonfall, der einer normalen Unterhaltung wieder Platz gemacht hätte. „Aber es wäre dein gutes Recht, also…“ Warum sollte er es nicht meinen? Was wäre schon dabei gewesen. Er hoffte einfach, dass sie es dabei beließ; dass sie ihn nicht weiter diesbezüglich belehrte. Es interessierte ihn gerade einfach nicht. Erst, als das Wasser neben ihm wieder in Bewegung geriet, öffnete er die Augen und spähte vorsichtig in ihre Richtung, bis er merkte, dass sie seinen Blick aus ihrer Position sowieso nicht wahrnehmen konnte. Im Wasser sah sie nicht einmal so geschunden aus wie sie war und wie sie sich fühlen musste. Liam erinnerte sich an seine Stimmung, kurz nachdem er sich die Kugel eingefangen hatte und seufzte abermals, ehe er sich wieder zurücklehnte und die Stille für den Augenblick nutzte, um tiefdurchzuatmen.
Wie viel Zeit verging, bis er plötzlich aus dem Halbschlaf schreckte, konnte er nicht sagen, entschied jedoch, dass es Zeit war, aufs Zimmer zu verschwinden. Der Lockenkopf öffnete die Augen und suchte nach Skadi, die noch immer unweit von ihm entfernt im Wasser trieb. Einen weiteren, tiefen Atemzug später hatte er sich von der Bank erhoben und bewegte sich langsam auf sie zu. Nun einfach zu gehen, ohne ihr Bescheid zu sagen, wäre absolut nicht seine Art gewesen. Unweit neben ihr kam er zum Stehen, halb gebückt, sodass nur seine Schultern aus dem Wasser ragten. „Ich werde mich jetzt hinlegen. Kommst du mit oder bleibst du noch ein wenig hier?“ Liam versuchte sich an einem unbefangenen Lächeln, doch die Erschöpfung stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Sie war es müde ihm zu erklären, wie ihre Welt funktionierte. Also schwieg sie in ihrem Treiben, schloss die Augen, als könne sie damit etwas von der ganzen Unterhaltung, den Blicken und den Gedanken aussperren, die alsbald ein erneutes Feuerwerk in ihrem Kopf entzünden würden. Bis ihr Körper allmählich hinab sank und ihr Gesicht unter Wasser tauchte. Wieder und wieder drückte sie sich mit einem sanften Tritt an die Oberfläche zurück. Entkam eine gefühlte Ewigkeit der Wirklichkeit und Nähe zu Liam, die sie derart aufwühlte, wie sie es selbst nicht für möglich gehalten hatte. Blinzelte ein paar Mal gegen das grelle Licht, als seine Regung kleine Wellen gegen ihren Körper trieb und seine leisen Worte die monotonen Geräusche der Umgebung überlagerten. Herzschlag um Herzschlag sanken ihre Zehen gen Beckenboden hinab, ihr Rücken in eine aufrechte Position, aus der sie ihn besser in Augenschein nehmen konnte. Unsicherheit spiegelte sich für einen Moment auf ihren Zügeln wider, doch aus gänzlich anderen Gründen, als Liam vermuten würde. Dann nickte sie. In einer Bewegung, die gleichfalls ein Achselzucken sein konnte. Skadi bezweifelte jäh, dass sie überhaupt in einen tiefen Schlaf verfallen würde. Zu wirr tanzten die Gedanken und Erinnerungen durch ihren Kopf und wühlten den hinab sickernden Dreck auf dem Boden ihres Geistes auf. Und seit wann pochte es so unnachgiebig an ihrem Auge, dass sie sogar versucht war, es zusammenzukneifen und die Fingerspitze gegen das blau anlaufende Fleisch zu drücken? „Gehen wir.“ Liam hatte sich bereits abgewandt. Auf direktem Weg die marmornen Treppchen aus dem Becken hinaus. Skadi folgte ihm gemächlichen Schrittes. Streckte bereits die langen Finger nach seiner Hand aus und zuckte doch zurück, kaum dass die erste Stufe erreichte. Verschwand mit einem letzten Blick auf den Raum zurück in der Umkleide und trat, in die plötzlich viel zu schwer gewordenen Leinen gehüllt, auf den angenehm kühlen Flur vor dem Badehaus.
Ein flaues Gefühl hatte sich in seinem Magen breit gemacht, kaum dass er den Entschluss gefasst hatte, nicht ohne ein Wort zu verschwinden. Im Augenblick schien ihm alles wie ein Risiko, die Nordskov wieder zu erzürnen. Der Abend war allerdings ohnehin schon gelaufen – ein weiteres, letztes Mal ihren Zorn für heute auf sich ziehen, schien ihm trotz allem die bessere Alternative gegenüber der Möglichkeit, seine gute Erziehung zu vergessen. Tatsächlich schien auch ihr die Ruhe ganz gut getan zu haben. Auch, wenn sie ihm weiterhin mit Schweigen begegnete, verbuchte es der Lockenkopf als etwas Gutes. Das Veilchen in ihrem Gesicht wurde zunehmend strahlender und stahl dem hübschen Gesicht dahinter allmählich die Show – hätten die dunklen Augen nicht ohnehin schon derart finster dreingeblickt. Erst, als er sich bereits zum Gehen gewandt hatte, fand sie ihre Stimme wieder. Leise, rau, aber der provokante Unterton fehlte für den Moment. Der flüchtige Annährungsversuch Skadis entging ihm, während er mit festem Blick auf die Stelle zutrat, an der er sein Handtuch zurückgelassen hatte, sich flüchtig abtrocknete und schließlich gen Umkleide verschwand. Die frische Luft vor der Umkleide empfing ihn unbarmherzig. Skadi wartete bereits darauf, dass er zu ihr aufschloss, um trotz aller Unstimmigkeiten des Abends gemeinsam aufzubrechen. Seine Lippen formten ein wortloses ‚Komm.‘, während sich seine Finger in Gewohnheit kurz auf ihren Rücken legten. Aus einer sonst so simplen Nähe wurde eine flüchtige Berührung, nach der Liam seine Hände der Einfachheit halber einfach in den Taschen vergrub.
Mit jedem Schritt zogen unsichtbare Gewichte ihren Körper gen Boden. Verlangsamten jeglichen Gedanken und jeden Atemzug. Stufe um Stufe trug sie nur der Gedanke an eine weiche Matte zum Schlafraum hinauf. Das Gefühl keinen noch so winzigen Teil ihrer Gliedmaßen zu bewegen und bis zum Morgengrauen geschützt hinter dicken Wänden auszuharren. Bis der nächste Tag seine Schatten über die Straßen zeichnete und sie erneut verschluckte. Ebenso die Gestalten, an denen sie sich die Zähne ausbiss und die der Quell ihrer miesen Laune waren. Leise fiel die schwere Holztür ins Schloss und sperrte jegliches Licht der Fackeln des Flurs aus. Skadi brauchte einige Augenblicke, ehe sich ihre Augen an die Dunkelheit und das fahle Mondlicht gewöhnten, das den Raum in bläuliches Licht tauchte. Talins Platz war unbewohnt. Noch immer oder schon wieder. Mischte sich in die knisternde Zweisamkeit, die nun nicht mehr Teil des Hurenhauses, sondern nur noch Teil ihrer kleinen Welt geworden war. Kaum zu leugnen und erst recht nicht hinfort zu wischen. Schwer seufzend sank Skadi mit beiden Händen im Rücken gegen die Tür und ließ den Kopf in den Nacken gleiten. Zurück am Ort des Geschehens. Wie großartig. Erst als Liams Schritte zurück in ihr Bewusstsein drangen, schob sie sich auf ihre Zehen zurück. Schlurfte zur Waschschüssel hinüber, um einen der Lappen in das kalte Nass zu tauchen und ihn sich ausgewrungen auf‘s Auge zu legen. „Der Kerl hatte nen verdammt harten Schlag drauf.“
Dass Talin noch nicht da war, wunderte ihn zwar, kümmerte ihn aber nicht wirklich. Vielleicht saß sie noch bei Shanaya, um ihr ein bisschen etwas anderes bieten zu können als die bemalten Wände und die Geräuschkulisse eines Bordells. Als sie ihr Zimmer erreicht hatten, bewegte sich der Lockenkopf noch halbblind auf die Ecke zu, in der ein kleiner Haufen aus Fellen und ein unordentlicher Haufen aus seinen Sachen seinen Schlafplatz markierten. Noch währenddessen zog er sich das Leinenhemd abermals über den Kopf und ließ es auf den kleinen Stapel zu seiner Rechten fallen. Auf Skadi hatte er erstmal nicht mehr geachtet, hatte ihr den nötigen Abstand eingeräumt, den sie offenbar brauchte. Erst, als sie die Stimme erhob, wandte er sich um und ging langsam auf die Anrichte zu, auf der die Waschschüssel stand. Über ihre Schulter hinweg warf er einen Blick auf das verzerrte Gesicht ihres Spiegelbildes, welches durchs Mondlicht erblasst zurück an die Zimmerdecke starrte. Hinter dem Lappen zeichnete sich bläulich der Rand des Blutergusses ab und ließ ihn seufzen. „Ich werde diese Widerlinge nie verstehen.“, brummte er abfällig. Wollte er im übrigen aber auch nicht. Er verharrte nicht lange hinter ihr, wandte sich wieder ab, um seinen Schlafplatz aufzusuchen und kratzte sich an der Schulter. „Geht‘s?“, rutschte es ihm dennoch über die Lippen, keine Sekunde, nachdem er sich dagegen entschieden hatte, ihr scherzhaft vorzuschlagen, sich eine spannende Geschichte dazu auszudenken. Zu groß war das Risiko, sie würde es abermals als provokante Anspielung verstehen.
Unter dem nassen Stück Stoff, das Skadi von ihrem Auge zog, verbarg sich ein abgekämpftes, bitteres Lächeln. Denn sie wusste: Liam fehlte die Gewaltbereitschaft, um auch nur im Ansatz zu begreifen, weshalb es Menschen wie diesen Kerl danach gelüstete, seine Rache voll und ganz auf körperlicher Ebene auszuleben. Nicht willens verbal um sich zu schlagen und letztlich doch allein mit seinem Problem zurück zu bleiben. Eben das war auch der springende Punkt, wieso er noch immer nichts von ihren Aktivitäten wusste. Von den Kämpfen, die Lucien seit einer Weile begleitete. Im Prinzip war es doch nichts anderes. Ein Ventil um die Wut heraus zu lassen, die sie sonst von innen auffraß. Mittlerweile glaubte sie, dass der Kerl deshalb so aggressiv auf sie losgegangen war. Weil sie der Grund seiner eigenen Prellungen und Verletzungen gewesen war. Irgendwo im Dunstkreis ihrer Erinnerungen flackerte sogar dieses Muttermal an seinem Unterarm wieder auf. „Muss.“, entglitt es ihr knapp zur Antwort. Das Tuch in der Rechten ein letztes Mal ins kalte Wasser tauchend, ehe es mit ihr in Richtung Schlafplatz verschwand. „Hoffen wir mal, dass wir dem nicht mehr so schnell über den Weg laufen.“ Geräuschvoll glitt der schmale Körper der Jägerin gen Boden. Die Beine in einem halben Schneidersitz verschränkt und den Blick aus dem Fenster gerichtet.
Unter anderen Umständen hätte er wohl ein Geheimnis hinter ihrem Schweigen vermutet, heute Abend aber sah er eine ausbleibende Erwiderung als etwas Gutes. Er schüttelte langsam und für sich selbst den Kopf, während er flüchtig darüber nachdachte, wie elend das Leben sein musste, wenn man es nötig hatte, wildfremden Menschen auf der Straße aufzulauern; wie schmutzig man sich fühlen musste, Frauen entgegen ihres Willens zu belästigen. Skadi war noch immer kurz angebunden, aber auch das schob Liam für den Augenblick auf die Erschöpfung. Außerdem – was hätte sie auch mehr zu ihrer Verfassung sagen sollen? Es musste gehen, da hatte sie vollkommen Recht - Ob es ihn nun beruhigte oder nicht, er wusste es selbst nicht zu sagen. Langsam schlüpfte er erst aus einem, dann aus dem anderen Hosenbein und warf die Hose auf die anderen Sachen auf seinem Stapel. Ihre Hoffnung quittierte er mit einem Schnauben. Eines, was deutlich sagte, dass er es ebenso hoffte, aber nur wenig daran glaubte, so wie ihnen der Zufall momentan mitspielte. Er warf das oberste Fell teilweise zur Seite und ließ sich auf dem Boden nieder, suchte hinter der kleinen Leinwand nach dem Kerzenständer mit der halb abgebrannten Kerze und wühlte schließlich nach den Streichhölzern. Funken erhellten für wenige Millisekunden den Raum, entzündete mit der kleinen, unscheinbaren Flamme den Dort der Kerze und löschte das Streichholz im Gegenzug. Halbherzig zog er einen etwas mitgenommenen Einband zwischen den Leinen heraus, um zumindest noch ein paar Seiten zu lesen, bevor er tatsächlich das Licht losch. Skadi starrte indes ein wenig verloren aus dem Fenster. „… Hat Talin was gesagt, wann ihr morgen aufbrecht?“ Liam hatte einen kurzen Blick über den Einband seines Buches geworfen, ehe er sich wieder der Geschichte widmete.
„Recht früh, kurz nach Sonnenaufgang.“ Noch immer starrten die dunklen Augen aus dem Fenster, als wäre der Raum vollkommen menschenleer und sie selbst ihr einziger Gesprächspartner. Irgendetwas an ihrer Miene hatte sich verändert. Doch die Schatten waren bereits zu tief, um es von Liams Position aus zu erkennen, dessen Blick ohnehin zu seinem Buch zurückgekehrt war, wie Skadi schwach aus dem Augenwinkeln erkannte. Zu gern hätte sie sich jetzt in einem Anflug von Müdigkeit auf die Decke unter sich gleiten lassen, die bereits schon bei ihrem ersten Aufeinandertreffen hier gelegen hatte. Doch obwohl jeder Muskel ihrer Körpers nach Erholung schrie, brannte ihr Verstand noch immer lichterloh. Mit Gedanken, die sie nicht zu fassen bekam. Die durch ihre Finger glitten wie Wasser. Wann immer sich die Jägerin dabei erwischte die Augen zu schließen, zuckte etwas in ihrem Inneren und weckte sie unsanft. Seufzend kreisten die schmalen Schultern im ungleichen Tempo. Ruderten vor und zurück, mal mit mal gegeneinander.
„Ich weiß zwar nicht, wieso Enrique und Greo dabei sein müssen, aber sie wird wohl ihre Gründe dafür haben.“ Denn mittlerweile wusste Skadi, dass alles, was die Jüngere tat, irgendwo einem halbwegs logischen Gedanken gefolgt war. Man musste ihn nicht verstehen oder gar gutheißen. Doch er existierte. „Weißt du schon, was du morgen machen wirst?“ Dieser Smalltalk war grauenvoll, doch hielt sie immerhin davon ab, sich dem stetigen Pochen in ihrem Körper zu widmen und ihn mit kontrollierten Atemzügen unter Kontrolle zu halten.
Es dauerte nicht lange, bis er feststellte, dass kaum eine Silbe von dem hängenblieb, was er las. Sein Kopf war müde und tat sich schwer damit, mehr mit den Worten anzustellen, als sie sinnlos aneinander zu reihen, ohne die Bedeutung dahinter zu verstehen. Mit einem leisen Seufzen gab er sich damit zufrieden, die Seite einfach anzustarren. Bis es ihm vergönnt sein würde, einen traumlosen Schlaf zu finden, ohne vorher Zeit mit Gedanken verbringen zu müssen. „Naja, sicher ist sicher. Für den Fall, dass etwas schief geht, habt ihr zu viert mehr Chancen als zu zweit. Wie du schon sagst; Talin wird wissen, was sie tut.“ Auch, wenn ihre Gründe nicht immer offensichtlich waren. Auch, wenn es nicht immer so schien – Er vertraute ihr und ihren Fähigkeiten. Und besonders jetzt gerade fiel es ihm einfach, weil es bedeutete, dass er sich selbst keine Gedanken dazu machen musste. „Nein.“ Himmel, dieses Gespräch fühlte sich steif an. Inhaltlos und dennoch irgendwie erstrebenswert. Er genoss es, ihre Stimme zu hören – es war allemal besser als dieses wütende Schweigen im Laufe des Abends. Ein Grund, weshalb er sich Mühe geben wollte bei diesem Geplänkel. „Vielleicht besorge ich noch ein paar Sachen, die ich brauche. So groß, wie Silvestre ist, wird sich schon irgendwo eine Bibliothek finden lassen.“
Hatten sie das, mehr Chancen wenn sie zu viert waren? Zumindest bei Greo war sich Skadi nicht sonderlich sicher, den sie bisher weniger kämpfen, dafür mehr flüchtend erlebt hatte. Es mochte sein, dass in dem Hünen mehr Kämpfernatur steckte, als man bisher annehmen konnte. Sonderlich viel dafür hatte er allerdings nicht getan. Mittlerweile verließ sich die Nordskov ohnehin am liebsten auf sich selbst, während die anderen zu unberechenbaren Konstanten für sie geworden waren. „Wir werden sehen.“ Im Fall der Fälle würde sie ohnehin zusehen, dass sie alle heil da heraus brachte. Wie viel ihr davon im derzeitigen Zustand wirklich gelang, war fraglich. Dem Ziehen zu urteilen, kaum dass sie ihre Beine aus dem halben Schneidersitz löste und in Liams Richtung streckte, stand das Vorhaben unter keinem sonderlich guten Stern. „Suchst du wieder nach Büchern?“ Erst lugten die braunen Augen halb unter den Wimpern hervor, dann wandte die Nordskov die feinen Züge gänzlich zu ihm herum. Mit einem Wort auf ihrer Miene, das Liam sowohl aus ihrer Tonlage, aus auch ihrem Blick herauslesen konnte: Vater.
Er verstand ihre Skepsis nur zu gut. Auch ihm fiel es schwer, in den letzten Tagen und Wochen optimistisch zu bleiben; zu glauben, ach, zu hoffen, dass ihnen mal wieder etwas Glück gegönnt war. „Wird schon werden. Ich bezweifle, dass sie die Werft rein zufällig gewählt haben.“, versuchte er möglichst zuversichtlich und blätterte ein paar Seiten weiter, ohne zu lesen. Das Licht der Kerze flackerte ruhig und füllte die Ecke, in der er schlief, mit angenehmem warmen Licht. Skadis Frage klang nach mehr, als es im ersten Moment schien. Er sah auf und schließlich dämmerte ihm, worauf sie anspielte. Ein blasses Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab, während er das Buch zwischen seinen Fingern unbewusst schloss und mit den Fingern über den mitgenommenen Einband strich. „Nicht nach etwas bestimmtem.“, verneinte er allerdings. Die Falten, die kurzzeitig auf seiner Stirn sichtbar wurden, zeigten deutlich, dass er darüber nachzudenken schien, ob es sich bereits lohnte, wieder nach etwas Neuem Ausschau zu halten. „Aber sobald meine Hand mich wieder lässt, wird es Zeit, zurück an die Arbeit zu gehen.“ Ihm schwirrten viele Dinge im Kopf rum. Einige, um sie irgendwann wirklich für ein paar Achter unter die Leute zu bringen, andere rein aus kreativen Gründen, weil er Lust darauf hatte und Leuten eine Freude machen wollte.
Fest pressten sich die vollen Lippen unter einem leisen Brummen des Verstehens aufeinander, ehe Skadi den Blick senkte und den Einband des Buches in seinen Händen musterte. Nach allem was geschehen war, hätte sie an seiner Stelle wohl jede Möglichkeit genutzt – auch wenn ihr mehr als bewusst war, dass es letztlich wie die Nadel im Heuhaufen gewesen wäre. „Hast du etwa schon Ideen?“ Natürlich hatte er das. Doch ganz gleich wie rhetorisch diese Frage letztlich war, hielt sie diese Unterhaltung aufrecht. Irgendwann und womöglich in naher Zukunft würde Liam sie allein in allem zurück lassen. Und ihr würde nicht mehr als sein ruhiger Atem und ihre eigene anhaltende Schlaflosigkeit bleiben. „Wobei. Nach allem was passiert ist, würde es mich wundern, wenn nicht.“
Liam nickte, versuchte die Gedanken ein wenig zu ordnen, die Skadi mit ihrer Frage in ihm wachgerüttelt hatte. Er war leicht abzulenken. Wie ein Kind, dessen Gedanken man einfach in jegliche Richtungen führen konnte, wenn er sich denn darauf einließ. Und gerade war ihm alles Recht, um nicht mehr an die erhitzen Gemüter, das Ziehen in seiner Magengegend oder das Veilchen ins Skadis Gesicht zu denken. Nachdenklich legte er das Buch zur Seite und gluckste freudlos, als sie ihren Gedanken konkretisierte. Doch das müde Lächeln auf seinen Lippen war ehrlich und hing den vergangenen Geschehnissen zumindest im Augenblick nicht nach. „Hauptsächlich Kindergeschichten tatsächlich. Ohne Mord und Totschlag.“, offenbarte er vermutlich entgegen ihren Erwartungen. Er mochte Kindergeschichten, weil es so einfach war, einem Kind ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern. Sie waren nicht so anspruchsvoll und erwarteten keine realistischen Geschichten. Sie hatten einen Sinn für Fantasie und ließen sich auf Dinge ein, die manchen Erwachsenen vermutlich dazu bewogen hätten, ein Buch kopfschüttelnd zur Seite zu legen. Und Kinder ermöglichten es einem, Geschichten nicht nur mit Worten sondern auch mit Bildern zu erzählen. „Von einem Kind mit einer Faszination für Drachen zum Beispiel. Und eines Tages wird eine seiner Zeichnungen plötzlich lebendig und begleitet ihn auf seinen Abenteuern. Oder eine Geschichte über einen Jungen, dem plötzlich ein Unsichtbarer begegnet, der ihn fortan zu allerlei Streichen und Schabernack überredet, da ihn außer der Junge selbst niemand hören kann.“ Nichts davon war ausgereift und doch erzählte er ihr gerne davon. Weil es ihm einfach fiel. Weil er wusste, was er sagen sollte.
Das erste Mal an diesem Abend stahl sich der Hauch eines Lächelns auf Skadis Züge. Eines, das nicht verkrampft an ihren Mundwinkeln hockte und darauf hoffte, dass man es einfach übersah. Es war eben jenes, das sie ihm meistens zuwarf, wenn er über solcherlei Dinge sprach und dabei diese kindliche Euphorie versprühte. Sie war anders als die, die Trevor zur Schau trug. Weder laut noch chaotisch, sondern warm und aufgeregt, irgendwie kribbelnd. Tief sog die Jägerin die angenehme Abendluft ein, die über den Fenstersims in ihrem Rücken in den Raum hinein waberte. „Klingt nach einer Geschichte, die ich als Kind geliebt hätte.“ Langsam glitten die braungebrannten Arme zurück und stützten den Körper, der sich mit vollem Gewicht in sie hinein lehnte. Skadis Blick glitt dabei ein letztes Mal über Liams Züge, ehe sie sich von ihm abwandte und die kleine Leinwand in Augenschein nahm. Jene, die sie noch vor wenigen Stunden aus unermesslicher Wut beinahe zertreten hätte. Und ganz schwach, tief in ihrem Inneren, spürte sie das unangenehme Jucken von Schuld. Fast augenblicklich hob sich ihre Hand in Richtung Brust. Kratzte an der kleinen Stelle an ihrem Brustbein und schloss die Augen. Die Schwere in ihren Gliedern sackte immer mehr in ihren Kopf. „Es… hatte nichts mit dir zu tun.“
Er sah ihr Lächeln nicht, aber es war auch einer der wenigen Momente an diesem Abend, in denen er es sich nicht zum Ziel gesetzt hatte. Sein eigenes Lächeln war vermutlich nicht ganz so warm, wie es unter anderen Umständen gewesen wäre, doch das lag mehr an der allgemeinen Erschöpfung als an Skadis Gesellschaft. Im Gegenteil – es breitete sich sogar ein wenig weiter auf seinen Zügen aus, kaum dass ihre Antwort ihn erreichte. „Sollte ich irgendwann soweit sein, darfst du gerne probelesen.“, bot er ihr unverbindlich an. Mittlerweile war er ein Stück weiter in die Felle gerutscht und lehnte mit Schulter und Kopf auf einem der Kissen, die man ihnen zur Verfügung gestellt hatte. Sein Blick ruhte an der Decke, an der flackernd das Licht der Kerze tanzte. Abermals kehrte Ruhe ein. Eine angenehmere, aber noch immer angespannte Ruhe als die letzten Stunden. Er merkte erst, dass er allmählich weggedämmert war, als Skadis Stimme sich erneut in die leise Geräuschkulisse mischte, die sie umgab. Liam blinzelte und war sich im ersten Moment nicht einmal wirklich sicher, dass er nicht schon geträumt hatte. Doch das Ziehen in seinem Magen holte ihn schnell in die Gegenwart zurück. Er schwieg, was sich für ihn anfühlte wie eine Ewigkeit, weil er ahnte, dass dieser Moment genauso schieflaufen konnte, wie alles andere an diesem Abend. In Wahrheit waren es vermutlich nur wenige Herzschläge. „Okay.“, entgegnete er schließlich leise, um überhaupt zu reagieren. Es beruhigte ihn, dass sie es klarstellte. Und im Endeffekt gab es nicht einmal mehr dazu zu sagen. Nochmals näher darauf einzugehen, schien ihm jedenfalls keine gute Idee. Und sein Ton war eindeutig genug gewesen, um klarzustellen, dass ihn diese Erklärung irgendwie beruhigte.