23.06.2020, 18:41
Der Hund knurrte und bellte in ihrem Rücken. Mit jedem Schlag, der sich hinter ihrer Brust regte, gefühlt lauter und heiserer. Es konnte Einbildung sein. Dem geschuldet, dass sich ihre Nerven und Gedanken überschlugen und die Nordskov ob all dieser Geschehnisse gerade nicht mehr wusste, wo oben oder unten war. Ein ungewohntes Gefühl, dass sie sich selten zugestand. Als Jägerin hatte sie gelernt einen kühlen Kopf zu bewahren und stets das zu tun, was notwendig war. Nun hockte sie allerdings noch immer halb vor dem metallenen Tor, die Hände in einer beschwichtigenden Geste gen Hüfte hinauf gezogen und den Blick nunmehr auf Liam gerichtet, dessen Körper geräuschvoll schräg neben ihr auf der anderen Seite des Tors zum Stehen kam. Ein tiefer Seufzer verließ ihre Lungen. Erhob sich langsam, um das Frauenzimmer gegenüber nicht zu verschrecken und lachte gespielt amüsiert. Womöglich schwang auch ein wenig Anspannung mit. „War wohl keine so gute Idee in einem fremden Garten rumzumachen, was?" Ihre Schultern zuckten vor Lachen. Mit einem breiten Grinsen auf den Lippen, wandte sich die Nordskov dann zu der zierlichen Gestalt hinüber, die noch immer skeptisch, aber schweigend zu ihnen blickte. „Es tut mir leid, dass wir Sie verschreckt haben. Aber der Hund war furchteinflößend." Wie von selbst tasteten die langen Finger blind nach denen Liams, um sich fest darin zu verkeilen und sich allmählich wieder in Bewegung zu setzen. „Einen schönen Abend noch M'am." Dieser peinlich berührte Blick, der mittlerweile auf Skadis Miene Platz genommen hatte, wirkte täuschend echt. Mit hinauf und zusammengeschobenen Brauen und einem schiefen Lächeln, das so viel Unsicherheit ausdrückte, die die Nordskov sonst nie im Leben an den Tag legen würde.
Dieses Gefühl, frei und erleichtert aufatmen zu können, hatte nicht lange gewährt. Natürlich mussten sie das Glück haben, ausgerechnet den Zeitpunkt zu erwischen, in dem sie der nächsten Person unvorbereitet vor die Füße fielen. Liam erwischte sich dabei, wie er fast schon resigniert davon ausging, dass diese junge Dame es ebenso auf sie abgesehen hatte. Zum Abend gepasst hätte es. Er ließ sich nichts anmerken, erhob sich nur langsam, um im Fall der Fälle besser reagieren zu können, als Skadi plötzlich zu lachen begann. Wäre sie nicht Skadi gewesen, hätte er schlicht vermutet, dass ihr all die Anspannung ungesund aufs Gemüt geschlagen hatte, so aber vermutete er irgendeinen Plan dahinter, der ihn dennoch verwirrt zu ihr hinübersehen ließ. Er besuchte ein, zwei Herzschläge, bis er in Angesicht ihrer Lage verstand, worauf sie hinaus wollte und zischte daraufhin, als wolle er sie peinlich berührt zum Schweigen bringen. Das Lächeln, was sich wieder auf seine Züge geschlichen hatte, war ehrlich, wirkte aber unfassbar erschöpft. Er überließ der Nordskov weiterhin das Reden und behielt stattdessen die Straßenecke im Blick, die hoffentlich ihr Ausweg war. Noch war es dunkel. Hoffentlich blieb es dabei, bis sie das Weite gesucht hatten. Als sich Skadis Finger zwischen seine schoben, begannen sie unangenehm zu kribbeln. Liam sah ein letztes Mal zu der jungen Dame, senkte respektvoll das Kinn und schob noch ein „Passen Sie auf sich auf.“ hinterher, während sie sich bereits zum Gehen gewandt hatten. Ein paar Meter entfernt löste er seine Hand wieder aus Skadis Griff, streckte die Finger kurz und legte ihr den Arm stattdessen vertraut um die Schulter. Der Protest der Wunde blieb gering. Liam wandte den Kopf herum. Aus der Ferne musste es aussehen, als würde er ihr verliebt etwas ins Ohr flüstern, doch eigentlich warf er unauffällig einen Blick zurück. Die Dame wirkte noch immer verdutzt, bis sie sich umwandte und schnellen Schrittes in die andere Richtung verschwand.
„Sie ist weg.“, atmete er erleichtert auf. „Schnell geschaltet. Nicht schlecht.“ Ihr galt ein anerkennendes Lächeln, welches aber recht schnell wieder der ernsten Miene auf seinem Gesicht Platz machte. So sehr er ihre Nähe sonst genoss - der Streit am Abend hing noch immer spürbar zwischen ihnen. Als sie die Straßenecke erreicht hatten, warf er kurz einen Blick in beide Richtungen, ehe er den Arm von ihrer Schulter nahm. „Machen wir, dass wir zurück zum Bordell kommen.“ Er ließ den rechten Arm kurz im Gelenk kreisen, ohne dass es etwas besser machte und bog um die Ecke.
Alles an dieser Nähe fühlte sich augenblicklich so falsch an. Doch es brachte nichts, ihrem Körper eine Reaktion darauf zu erlauben. Es war kontraproduktiv für den Ausweg, den sie gewählt hatte. Ohnehin wirkte die Frau in ihrem Rücken nicht sonderlich überzeugt von ihrer Scharade, gleichwohl sie schweigend die Szene beobachtete. Schweigend. Das war wohl der Punkt, den die Jägerin am meisten irritierte, gar störte. Kein normaler Mensch blieb derart ruhig und gefasst – es sei denn man lebte in einer Welt, die ihrer nicht unähnlich und weitaus gefährlicher war. Ob es jedoch wirklich von einer Form der ‚Abgebrühtheit‘ herrührte, wusste die Dunkelhaarige nicht, während sie dem Lockenkopf ruhig die Straße hinab und um die nächste Ecke folgte. Ohnehin war es ihr mittlerweile egal, solange sich ihnen niemand mehr in den Weg stellte. Allein die Stimmen, die sich über den Lärm des Hundes und die hohen Mauern erhoben, beschleunigten ihre Schritte. Für einen kurzen Herzschlag huschten die dunklen Augen zur Seite. Umrissen Liams schemenhafte Silhouette im Schatten der Häuser, ohne dass sich etwas auf der Miene der Jüngeren abzeichnete. Sie wollte ihn anschreien. Ihn zu Boden ringen, weil er sich nicht in ihre Angelegenheiten einzumischen hatte. Was bei allen Göttern hatte er sich nur dabei gedacht? Idiot. Wieso hob er sich seine Kräfte nicht für jemanden wichtigeres auf?
Angespannt presste Skadi die Lippen aufeinander. Starrte unfokussiert in die Ferne und war irgendwo, auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollte, dankbar für seine Hilfe. Sie wusste, dass dieser Abend für sie weitaus schlimmer hätte enden können, wäre er nicht eingeschritten. Dass ihr Körper nicht dazu in der Lage gewesen wäre, sich selbst zu schützen, wie er es sonst immer tat. Ihre Wut hatte sie blind und leichtsinnig gemacht. Doch selbst das war ihr nach einem tiefen Seufzen egal, kaum dass sie einen Schritt voraus nahm und ihre Hand fest um sein linkes Handgelenk schloss. Ihn ungefragt und nur mit halber Kraft in seiner Bewegung stoppte und sogar zu sich zurück zog. Es brachte ihn nicht dazu, zu ihr zurück zu blicken. Doch es reichte aus, um ihr den Raum zu geben, sich an seiner linken Seite vorbei und vor ihn zu schieben. Schwer schluckend und mit fast schon trotzigem Blick in den dunklen Augen. „Danke.“ Rau presste sich dieses kleine Wort über ihre Lippen. Lange konnte sie seinem Blick nicht standhalten. Wandte sich herum und kaute angespannt auf der Unterlippe, während sie den eingeschlagenen Weg fortsetzte und die langen Finger zitternd von der warmen Haut löste. Es verlangt ihr jegliche Selbstbeherrschung ab, es bei diesem Eingeständnis zu belassen. Und nicht in schierer Frustration auszubrechen, die diesen schwelenden Streit schlimmer machte, als er wohl ohnehin schon war.
Liam machte sich in diesem Augenblick keine Gedanken darum, was genau sich an ihrer Scharade falsch anfühlte – denn im Grunde war es genau das, eine Scharade, um möglichst ungeschoren aus ihrem Schlamassel herauszukommen. Er machte sich auch keine Gedanken darüber, wie glaubhaft sie nun auftraten oder ob sie einfach nur das Glück hatten, dass die junge Dame nicht an ihren Machenschaften interessiert war – sie verschwand in die andere Richtung und das war alles, was zählte. Insgesamt war er kein Mensch, der viel davon hielt, mit anderen in trauter Berührung durch die Straße zu schlendern. Und das, obwohl er sonst keine große Hemmungen hatte, was Körperkontakt anging. Jedenfalls fiel ein bisschen Anspannung von ihm ab, als er wieder ein wenig Distanz zwischen sie brachte. Weil er sich affig vorkam, sie derart durch die Straßen zu führen. Dass es vielleicht doch ein wenig damit zu tun hatte, dass er sie im Augenblick nicht so recht einzuschätzen wusste, seit sie im Bordell auseinander gegangen waren, wollte er sich gar nicht einbilden. Dennoch verblasste sein Lächeln nicht nur der Ernsthaftigkeit ihrer Lage wegen wieder so schnell, sondern auch, weil keinerlei Reaktion von ihrer Seite folgte, was ihn vermuten ließ, dass Skadi noch immer sauer war. Auf ihn. Auf sich. Auf Wusste-Wer-Auch-Immer-Wen. Mit einem tiefen Seufzer und dem Blick auf die Straße gerichtet machte er sich dran, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Erst, als er Skadis Griff abermals um sein Handgelenk spürte, warf er einen knappen Blick über die Schulter und sah ihr fragend entgegen. Er hielt inne und ließ den Blick flüchtig über ihren Hintergrund gleiten, bis seine Augen Skadis Züge in der Dunkelheit umrissen.
Der scharfe Unterton ihrer Stimme jagte ihm glatt einen Schauder über den Rücken, doch er an diesem Abend zur Genüge gelernt, dass es manchmal einfach besser war, den Mund zu halten. Er nahm ihren Dank also schweigend entgegen und beschloss für sich, dem Ganzen nicht zu viel Bedeutung beizumessen. Morgen sah die Welt mit Sicherheit schon wieder anders aus. Wirklich aufatmen konnte er allerdings erst, als sie endlich auf das Grundstück des Bordells einbogen und die Straße komplett hinter sich ließen – ohne weitere Zwischenfälle. Dann aber stellte er sich die Frage, wie es ab hier weitergehen sollte. Schweigend gemeinsam aufs Zimmer, um sich in der jeweiligen Ecke trotzig zum Schlafen zu legen? Das machte keinen Sinn und diese peinliche Stille würde er ihnen beiden nur zu gerne ersparen. „Skadi, warte kurz.“, hörte er sich dann doch beginnen, bevor sie die Eingangstür erreicht hatten. Er wollte es nicht einfach so zwischen ihnen stehen lassen. „Ich… Du hast Recht. Es geht mich nichts an. Du wirst mich nicht mehr danach fragen hören.“
Das letzte Mal, als sich Wege wie diese so elendig lang angefühlt hatten, war sie noch ein Kind gewesen. Gerade einmal alt genug, um die Konsequenzen ihres Handelns zu verstehen und sich vor der Strafe ihres Vaters zu fürchten, der irgendwo in ihrem Rücken im hellen Weiß der Landschaft verschwunden war. Ob sich Rúnar noch an diesen Tag erinnern konnte? Ganz sicher, wenn sie bedachte, was innerhalb weniger Stunden passiert war. Wieso sie ausgerechnet jetzt daran denken musste, hinterfragte die Dunkelhaarige nicht, während sie ihrem Begleiter voran lief und mit jedem Schritt mehr und mehr von ihrem angespannten Ausdruck verlor. Abgekämpft und nachdenklich durchquerte sie gerade den ersten Torbogen, als Liams Worte sie erreichten und ihre Füße in den Boden pressten. Die dunklen Augen huschten als erstes zur Seite, noch ehe ihr Kopf und dann ihr Oberkörper folgten. Sie erwartete nichts und alles von diesem Gesicht, das die Tage auf der Sphinx für sie stets einfacher, statt schwerer gemacht hatte. Doch nun war alles, was ihr beim Anblick seiner braunen Augen in der Brust zurück blieb der Geschmack von Blutorange.
Statt ihm zu antworten, schwieg sie. Zeigte keinerlei Reaktion, während sie ihn wie eine Puppe anstarrte und die Gegend vollkommen auszublenden schien. Sicher dachte sie über irgendetwas nach. Selbst im Unklaren darüber, ob sie den Gedanken zu fassen bekam, der sich ihre Wirbelsäule hinauf schälte. Doch sie ließ ihn bleiben was er war – ein komisches Konstrukt aus Silben und Bildern. Irgendwann würde es sich aufdröseln, wenn sie geschlafen und neue Kraft getankt hatte. Und bis dahin verschwendete sie keinen inneren Kampf damit. Wandte sich stattdessen also gänzlich herum und überbrückte die wenigen Schritte, die wie ein Graben zwischen ihnen klafften. Zog sich mit einer Hand in seinem Nacken zu seinem Gesicht hinauf und hinterließ ungeachtet jeglichen Protests seinerseits einen Kuss auf den schmalen Lippen. Nur um sich wenig später mit einem „Dummkopf.“ in Richtung Innenhof zu begeben.
Mit jeder Sekunde, die sich dahin zog, ohne dass er auch nur eine Regung auf ihrem erschöpften Gesicht erkennen konnte, überzeugte ihn mehr davon, dass es dumm gewesen war. Dumm, wieder damit anzufangen, obwohl er genauso hätte schweigen können. Manchmal verteufelte er sich selbst dafür, dass er Dinge nur ungern ungeklärt ließ. Vermutlich wäre es wirklich das schlauste gewesen, einfach bis morgen zu warten, vorsichtig nachzufühlen, wie es um ihre Stimmung stand und sich – je nachdem – einfach weiter in Geduld zu üben. Aber er war schlecht darin, Dinge wegzuschweigen, wenn sie so greifbar in der Luft hingen. Und dass Skadi ein Problem hatte, hätte vermutlich selbst Trevor beim Klang ihrer Stimme erraten. Aber Liam startete gar nicht erst den Versuch, es genauer zu ergründen. Frauen waren rätselhaft und nicht umsonst schätzte er Skadis geheimnisvolle Art. Dass sie nicht darüber reden wollte, hatte er mittlerweile verstanden. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass auch er das, was er sagen wollte, für sich behalten musste. Und dann, als sie endlich eine Regung zeigte, schoben sich seine Augenbrauen unschlüssig zusammen. Er folgte ihrer Bewegung mit den Augen und obwohl ihre Handlung so klar, so deutlich und lesbar gewesen war, überraschte sie ihn, weil es entgegen alledem stand, was sie ihm an diesem Abend an den Kopf geworfen hatte. Er wehrte sich nicht – wieso hätte er sich auch gegen etwas derart Schönes sträuben sollen? – doch es fühlte sich falsch an; nicht so jedenfalls, wie es sich anfühlen sollte.
Und dann zuckte ein unscheinbares Schmunzeln für einen Sekundenbruchteil in seinen Mundwinkeln. Dummkopf. Wie Recht sie damit hatte. Trotz des barschen Wortes klang es ein bisschen nach Versöhnung. Aber er war noch nicht fertig. Auch, wenn er bereits eingeräumt hatte, dass sie recht hatte - „Ich war wütend.“ Es war nie sein Ziel gewesen, sie zu bevormunden oder zu bemuttern. „Wütend auf denjenigen, der dir das angetan hat.“ Im Gegensatz zu Skadi hatte er sich noch keinen Schritt weiterbewegt. Für den Moment lag sein Blick auf ihrem Hinterkopf, der sich Stück für Stück von ihm entfernte, ehe er sich nach einer kurzen Pause ebenfalls wieder in Bewegung setzte. „Aber immerhin kann ich mir ja jetzt einbilden, demjenigen eine verpasst zu haben.“, fügte er mit bemüht mehr Witz in der Stimme an, um das Thema nun auch für ihn zu beenden.
Er musste wohl noch etwas hinzufügen, um den Ballast los zu werden, den er mit sich herumgeschleppt hatte. Wenn ihr dieser Umstand nicht schon zuvor bewusst gewesen wäre, dann spätestens jetzt. Ein leises Seufzen verließ ihre Lippen, verlangsamte ihren Schritt und erlaubte es ihm, nach einer gefühlte Ewigkeit aufzuholen. Sie fragt nicht danach, wieso er sich heraus nahm wütend zu sein. Es beantwortete sie von selbst. Und sie war zu müde, um weiter darüber nachzudenken. Ein Fass aufzumachen, das sich wohl kaum schließen ließ, um den letzten Rest Schlaf zu bekommen, der ihr angesichts ihrer Schmerzen noch bleiben würde. „Wenn es dich glücklich macht.“ Die Nordskov versuchte sich in einem knappen Lächeln. Hob den Kopf zur Seite, um das Gesicht des Älteren in Augenschein zu nehmen. Sog dann jedoch mit geschlossenen Augen tief die Abendluft in ihre Lungen, um das Ziehen in ihrer Seite auszuhalten. Sollte sie vielleicht doch noch ein heißes Bad nehmen, um zumindest ihre Muskeln zu beruhigen oder machte es das Pochen in ihrem Körper nur noch schlimmer?
Es fiel ihm leicht, diesen Streit nun als „aus der Welt“ anzusehen, auch wenn ein Knoten in seiner Körpermitte zurückblieb. Ein Knoten, der nicht zwingend etwas mit Skadi zu tun haben musste, vielleicht sogar eher sein Andenken an den zurückliegenden Schlag in die Magengrube war - so oder so, der Lockenkopf überging ihn und schob es einfach auf Müdigkeit und Erschöpfung. Dementsprechend nahm er sich Skadis Antwort nur noch beiläufig war, streifte ihren Blick und schob ihr voraus die Tür zum Inneren des Bordells auf. Die Blicke hinter dem Eingang richteten sich schlagartig auf sie, um die neuen Besucher ihrem Geld würdig direkt zu umgarnen. Als sie die beiden Piraten allerdings als die Gäste des Hauses erkannten, schwand der Tatendrang, die kichernden, aufreizenden Blicke allerdings nicht. An diesem Abend fiel es Liam nicht einmal schwer, keinen Blick zu riskieren. Mit den Gedanken war er längst woanders, während er Skadi in die Richtung des Nebentraktes folgte. Sein Blick fiel kurz auf seine Hände, an denen noch immer der Schmutz klebte, den er von ihrem kleinen Ausflug in den fremden Garten mitgenommen hatte. „Ich werde nochmal nachsehen, wie viel Betrieb im Badehaus ist.“, entschied er sich letztlich endgültig, um der Nordskov ihren Freiraum zu lassen. „Soll ich dir ein paar kalte Umschläge mitbringen?“ Gerade in Anbetracht des Blutergusses, der sich allmählich in ihrem Gesicht gebildet hatte und jetzt im Licht des Ganges deutlich schimmerte.
Für einen Moment huschten die dunklen Augen zur Seite und umrissen das Gesicht, das sich wie ertappt hinter den Locken versteckte. Liam wandte sich ab und ließ ihr nur noch ein kleines Zeitfenster. Allein nach oben zu gehen erschien ihr genauso unmöglich, wie ihm einfach leichtfüßig zu folgen. Während sich der Musiker mit einer patzigen Antwort abweisen ließ, gehörte Talin zu jenen Menschen, die sich dadurch noch eher ermutigt fühlten nachzubohren. Wie ein Haifisch, der Blut roch. Was ganz sicher in den wenigsten Fällen böse gemeint war, doch gerade jetzt wollte sich die Dunkelhaarige nicht schon wieder unter Kontrolle halten müssen, wenn ihr ganzer Körper gefühlt auseinander fiel. „Nicht nötig.“, entgegnete sie unter einem tiefen Atemzug murmelnd. „Ich komme mit.“ Als duldete sie keine Widerworte, folgte sie ihm in Richtung Badehaus. Nickte hier und da einer der Damen zu, die an ihnen vorbei huschten oder in Richtung der Gemächer unterwegs waren. Mit einem Fremden im Schlepptau, dessen Gold an diesem Abend wohl gut investiert worden war. Auf den letzten Metern wandte sich der dunkle Schopf herum, um nach dem kleinen Geldbeutel an der Hüfte zu sehen. Nur um ernüchternd und unter einem leisen Fluchen festzustellen, ihn in all der Wut und dem blinden Überstreifen ihrer Kleidung auf dem Zimmer vergessen zu haben.
Zugegeben: Ihre Entscheidung überraschte ihn, aber er maß ihr nicht allzu viel Bedeutung bei. Stattdessen galt ihr ein flüchtiges Nicken, ehe sie schweigend, müde und erschöpft in die Richtung des Badetraktes aufbrachen. Liams Blick nahm nur flüchtig all die Silhouetten wahr, die an ihnen vorbei gingen – Männlein wie Weiblein, wovon die einen sichtlich bessere Umstände hatten als andere. Die Aufregung der letzten Stunden und die damit verbundene Erschöpfung allerdings verhinderten, dass seine Gedanken zu kreisen begannen. Gedankenverloren beobachtete er ein paar Motten, die in gebührendem Abstand um eine der Fackeln im Innenhof flatterten, während sie ihn durchquerten, dann hatten sie das Badehaus auch schon erreicht. Skadi wurde langsamer, was ihm allerdings erst auffiel, als er der Dame am Eingang bereits ein paar Achter überreicht hatte. Das müde Lächeln der Dame gegenüber noch auf den Lippen, wandte er den Kopf herum, um nach Skadi zu sehen. „Worauf wartest du? Ist schon erledigt.“, bemerkte er beiläufig und setzte sich wieder in Bewegung. Von Innen schlug ihm die feuchte, warme Luft entgegen, die angenehm nach einer Mischung aus Zitrus und Latsche roch. Noch vor den Umkleideräumen reichte ihnen eine junge, aufreizend gekleidete Dame frische Handtücher und wies ihnen den Weg.
Er beeilte sich nicht, trat schließlich mit dem Handtuch bekleidet aus der Kabine heraus und ließ den Blick flüchtig über das Treiben schweifen, das sich in den Räumen vor ihm abspielte. Der Raum war groß und einladend, hier und da brannten Feuer, über denen Zweige ein angenehmes Aroma verbreiteten. Auf der linken Seite erstreckte sich ein größeres Becken aus Marmor mit Sitzflächen an den Rändern für den regulären Betrieb des Badehauses, rechts lagen vermutlich die privateren Becken hinter Nischen und Mauern. Einige Damen, die lediglich untenherum bekleidet waren, trugen Tabletts durch den Raum, die Becher darauf waren vermutlich mit Wein gefüllt. Skadi konnte er noch nicht erblicken, insgesamt schien sich der Betrieb des Badehauses aber ohnehin bereits in andere Teile dieser Einrichtung verschoben zu haben.
Es brauchte jegliche Selbstbeherrschung, um den Kopf nicht mit einem irritierten Blinzeln herum zu wenden oder gar mit einem genervten Schnauben aufzuwarten. Skadi wusste, dass Liam es nicht gönnerhaft gemeint hatte, wenngleich die Frau am Eingang ihr einen Blick zuwarf, der dergleichen bedeuten konnte. Oder sie erblickte just in jenem Moment das wachsende Veilchen an ihrem Augen, das noch immer pochte, kaum dass sie die Umkleiden erreichten und der schmale Körper der Jägerin durch die Tür zur Kabine schlüpfte. Sich aus der frischen Kleidung zu schälen war nun noch schwerer als noch zu Beginn dieses Abends. Höchst wahrscheinlich hatte sich Liam längst in eines der Becken verkrümelt, während sie mit ihrem Körper und den Stoffen kämpfte. Verübeln würde sie es ihm nicht. Sich selbst wäre sie nicht einmal eine sonderlich gute Gesellschaft. Nach allem was passiert war erst Recht nicht. Und auch wenn die einseitige Unterhaltung im Hof irgendetwas von einer „Versöhnung“ hatte, war sie es doch irgendwie nicht ganz. Anders würde die Nordskov den Knoten in ihrem Magen nicht deuten können, hätte sie nur einen weiterführenden Gedanken daran verschwendet. So trat sie nun mit einem kurzen Blick durch den Raum heraus und zupfte am unteren Ende ihres Oberteils, das immer wieder von ihrer Schulter zu rutschen drohte. Verstand einer, wieso sie nicht genauso entblößt hier herum laufen konnte, wie alle anderen. Wie affig. Stattdessen zwängte man sie in einen Traum aus Brustbandage mit Trägern und einer viel zu kurzen Leinenhose. „Großes oder kleines Becken?“ Aus den Augenwinkeln sah sie zu den dichten Locken hinüber und ignorierte den Blick, den ihr eine der jungen Damen zuwarf. Nicht etwa ihrer Anwesenheit, sondern den Malen ihres Körpers wegen.
Irgendwie erinnerte ihn der Geruch an etwas, doch die Wärme war seiner Müdigkeit zuträglich, sodass er gar nicht versuchte, sich daran zu erinnern. Das einzige, was blieb, war also die Ruhe, die er damit verband, und die sich langsam über sein aufgeregtes Gemüt legte. Hinter ihm fiel eine Tür ins Schloss. Liams Blick hing noch für einen Moment auf den Nadelzweigen über einem der Feuer, ehe er über die Schulter sah und vermied es, die Dunkelhaarige genauer zu mustern. Die Malereien, die ihren Körper zierten, lenkten die Aufmerksamkeit fort von all den Prellungen – im ersten Moment jedenfalls. Er sah wieder nach vorne, kaum dass sie ihre Frage gestellt hatte und überlegte kurz. „Großes?“, schlug er letztlich vor, nachdem er die wenigen übriggebliebenen Badegäste ungenau im Kopf gezählt hatte, ohne genau zu wissen, weshalb ihm das große Becken in diesem Augenblick attraktiver vorkam. Vielleicht, weil er unbewusst nicht wollte, dass man sie für eine Prostituierte hielt, die sich hineingeschlichen hatte, um mit ihrem eigenen Geschäft von den Angeboten hier zu profitieren, sobald sie mit ihm in einem der sichtgeschützteren Bereichen verschwunden war. Andererseits – so, wie Skadi gerade daherkam, machte sie wohl eher den Eindruck einer misshandelten Sklavin statt einer selbstunternehmerischen Dirne. „Wenn sie zu viel gaffen, können wir uns immer noch umentscheiden.“ Ihm fiel erst jetzt wieder ein, dass das Leben als Frau hier drin mit Sicherheit nicht einfach war. Die meisten geierten auf die freizügigen Damen, statt ihnen mit ihren Blicken unausgesprochene Komplimente zu machen. Andererseits – er war noch nicht besonders oft in seinem Leben in Edelbordellen gewesen. Vielleicht wusste sich hier ein größerer Teil, zusammenzureißen.