23.06.2020, 18:40
Er strauchelte, als er entgegen seiner Erwartung keine Skadi sah, die die Flucht ergriff, konnte sich das Geschehen allerdings zusammenreimen, kaum dass hinter ihm abermals ein schmerzvolles Stöhnen ertönte. Ein flüchtiges Schmunzeln nistete sich in seine Mundwinkel, bis er sich wieder nach vorne wandte und den Laufschritt verschnellerte, kaum, dass die Nordskov sich eingereiht hatte. Die nächste Ecke nutzte er, um vorerst aus Sicht zu gelangen und bevor er sich für die nächste Route entschieden hatte, zog Skadi ihn bereits am Handgelenk zur Seite. Er folgte ihr bereitwillig. Noch war in seinem Kopf kein Platz für Fragen. Was sie mit diesem Kerl zu schaffen hatte, welche Rechnung er meinte. Er lauschte viel eher in die Nacht, blendete ihre wilden Schritte aus und bildete sich ein, den Typen noch immer irgendwo wutentbrannt fluchen zu hören. Dann mischten sich weitere Stimmen in die Dunkelheit, zwei oder drei vielleicht, deren Worte er nicht verstehen konnte. Seine Schritte wurden langsamer, während er den Oberkörper herumwandte und die Seitengasse hinabspähte, die sie gerade entlanggelaufen waren. Dann donnerte ein leises, aber vernehmbares „Sucht sie!“ durch die kühle Nachtluft. Liam sog scharf die Luft ein, seine Gedanken kreisten, während er sich wieder Skadi zuwandte und das erste Mal seit Beginn ihrer Flucht die Gelegenheit hatte, ihre Züge flüchtig zu mustern. „Ganz so einfach kommen wir wohl nicht davon.“, räusperte er sich und wischte sich mit dem Handgelenk kurz über die Lippe. Der Schlag, den sie abbekommen hatte, schien gesessen zu haben. Aber Liam war nicht dumm – er fragte nicht. Nicht nur, weil sie im Augenblick gerade besseres zu tun hatten.
Mit schwerem Atem war Skadi stehen geblieben und blickte zu Liam zurück, dessen Handgelenk sie noch immer fest umklammert hielt. Ihr Gesicht war bleich, abgekämpft und ein viel deutlicheres Zeichen für ihren Zustand, als es jede Erwiderung hätte sein können. „Wieso?“ Es war eine Frage, die den ganzen Weg über durch ihren Kopf geknallt war wie ein Gummiball. Ob sie jemals eine Antwort erhielt, war jedoch fraglich. Denn kaum hörte sie die Stimmen von der Hauptstraße zu ihnen hinein schwappen, wandte sie sich bereits wieder ab und ließ den Kopf in den Nacken gleiten. Musterte die Fenster über ihren Köpfen und seufzte schwer. Eines stand offen. Der Raum dahinter von der Gasse aus kaum einzusehen, doch brannte weder eine Kerze auf dem Sims, noch strahlte irgendeine andere Lichtquelle auf die Straße hinaus. „Meinst du wir kommen da hoch?“ Andernfalls mussten sie sich wohl in eine der Tavernen flüchten und versuchen durch den Hinterhof zum Bordell zurück zu kommen.
Er schluckte ein ‚Weil du ihn offensichtlich verärgert hast‘ nicht zuletzt wegen ihres erschöpften Anblicks herunter. Skadi schien tatsächlich ein wenig ratlos bezüglich ihrer abermals misslichen Lage – ein weiterer Grund, weshalb der Lockenkopf gar nicht erst begann, ihr irgendwelche Fragen zu stellen. Priorität hatte, dass sie hier irgendwie heil herauskamen – alles andere war ihre Sache, in die er sich gewiss nicht mehr einmischen würde. Auch das hier war mehr ein Zufall als geplant gewesen. Aber trotz des unangenehmen Ziehens in seinem Magen war er froh, dass es so gekommen war. Liam folgte ihrem Blick nach oben und ahnte unzufrieden, worauf sie hinauswollte. Der Plan war nicht schlecht, aber er konnte nicht mit Sicherheit sagen, dass er für derartige Klettersituationen bereits wieder in Form war. Dann erst kam ihm der Gedanke, dass die Nordskov wohl weitaus schlimmer dran war. Die Entscheidung wurde ihnen allerdings abgenommen, als ein flatterndes Licht am Ende der Gasse Gesellschaft ankündigte. „Sieht aus, als hätten wir keine andere Wahl.“ Das Fenster lag im Obergeschoss des Gebäudes. Ein dunkles Fass neben einer der Hintertüren konnte ihre Chancen vielleicht verbessern. So leise wie möglich versuchte er, es unter das Fenster zu hieven und rollte es über die hölzerne Kante über das Kopfsteinpflaster. „Hoffentlich reicht das.“ Abwartend ruhte sein Blick nun auf den angeschlagenen Zügen der Jüngeren. Sie sollte zuerst gehen und wenn die Höhe nicht reichte, mussten sie eben einen anderen Weg finden.
Müdigkeit war das, was stetig mit dem abflauenden Adrenalin durch ihre Adern pulsierte. Noch während Liam zur Seite trat und das Fass zur Seite rollte, wusste Skadi, dass sie sich kaum mehr dort hinauf bewegen konnte. Doch was war zu spät um ihn davon abzuhalten. Zu spät um seine Schulter zu schonen, die angesichts der Situation wohl unfassbar schmerzen musste. Doch für Schuldgefühle war es nicht an der Zeit. Erst Recht nicht wenn aus dem letzten Aufgang Stimmen zu ihnen hinüber schwappten und sich allmählich lange Schatten am Ende der Gasse erhoben. Sie waren bereits hier. „Scheiße.“ Wütend presste die Nordskov die Kiefer aufeinander. Zog sich in einer fließenden Bewegung das Oberteil über den dunklen Schopf und zerrte mit Zähnen und Händen so lange am Stoff, bis sich ratschend ein Streifen am unteren Saum löste. „Vielleicht reicht das.“ Während Liam ihrem Plan wie ein blinder Passagier beiwohnte, bückte sie sich bereits nach einem der Kiesel auf dem Boden und knotete ihn ins Ende ihrer Wurfkonstruktion. Mit etwas Glück würden sich ihre Verfolger von dem Stofffetzen, der mit einem gezielten Schwung halb auf dem Fenstersims über ihnen zum Erliegen kam, ausreichend ablenken lassen, um mehrere, rettende Meter zwischen sie zu bringen. „Machen wir, dass wir hier weg kommen.“ Immer noch außer Atem setzte Skadi zu einem erneuten Sprint an und zog sich im Lauf die Bluse über Arme und Kopf. Sie würde jetzt kaum darüber diskutieren, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Liam davon zu überzeugen, dass sie zu ausgelaugt war, um sich mit letzter Kraft am Stein hinauf zu ziehen und womöglich wenig später durch ein Haus voller fremder Leute zu kämpfen. Noch weniger, wenn er dabei war und sie wohl kaum zulassen konnte, dass man Hand an ihn legte. Statt jedoch nach seinem Handgelenk zu greifen, umfasst sie seinen Handrücken. Mit sanftem, aber deutlichem Druck.
[postID=Liam]Er spürte die Schritte ihrer Verfolger förmlich im Nacken, schätzte sie aber nicht wachsam genug ein, oberhalb ihrer Augenhöhe zu suchen. Sie hatten kein sonderlich großes Bestreben, sie zu finden – außer ihnen mit einer Tracht Prügel Manieren für irgendetwas einzutrichtern, von dem Liam nicht wusste. Und nicht wissen wollte. Sein Herz schlug unruhig, als er mit einem scharfen Atemzug aufsah und verdutzt feststellte, dass Skadi scheinbar nicht den Plan hatte, sich groß zu beeilen. Tatsächlich aber trödelte sie nicht, sondern bemühte sich um einen Alternativplan. Er hinterfragte es nicht, behielt ihren Rücken im Blick und dachte sich seinen Teil, als sie eine weitere Flucht durch die Gassen der erhöhten Position vorzog. Inzwischen glaubte er, Skadi zu kennen und die Entscheidung, die sie hier traf, bedeutete nichts Gutes. Liam war nämlich eher davon ausgegangen, dass er die Kletterpartie nicht überstehen würde – und nicht sie. Aber er beschwerte sich nicht. Dazu war die Zeit zu knapp und Skadi viel zu schnell wieder losgelaufen, als dass er hätte Protest einlegen können. Während er ihr die Gasse hinab folgte, huschte sein Blick aufmerksam über die Baumspitzen, die wie Zipfelmützen hinter der Mauer zu ihrer Linken hervorragten. Liam hielt die Luft an, als auch vor ihnen plötzlich die Dunkelheit zu fliehen begann und dem flimmernden Schein von Feuer platzmachte. Ruckartig zog er die Jüngere zurück, warf einen hastigen Blick über die Schulter, bis seine Augen wieder auf den Zedern hinter der Mauer hängen blieben. „Hier rüber.“, wies er und machte sich bereit, um ihr mit einer Räuberleiter den nötigen Schwung zu verpassen.
Beinahe stolperte Skadi ob des starken Rucks an ihrer Hand und strauchelte einen Moment. Mit geweiteten Pupillen starrte sie aus dunklen Augen zu Liam hinauf, bis ihr Verstand die Bewegung seines Kopfes mit den spitzen Schatten neben ihnen als Puzzle zusammensetzte. Angestrengt hob und senkte sich ihre Brust, die sich vom Poltern am anderen Ende der Gasse nur noch mehr in Bedrängnis sah. Ihnen blieb wohl kaum mehr eine andere Wahl. Ganz gleich wie sehr jeder Muskel in ihren Armen und Beinen schmerzte und das Pochen in ihrem Gesicht heißer und heißer wurde. Unfreiwillig entzog sie ihrer Hand die angenehme Nähe des Älteren. Trat einige Schritte zurück, bevor sie mit Anlauf auf die Wand zu hechtete, den ersten Stein auf einem halben Meter Höhe mit ihrem Fuß zu fassen bekam und sich mehr schlecht als Recht die Anhöhe hinauf drückte. Kalt fühlte sich das Mauerwerk unter ihren Fingern an, die das obere Ende umklammert hielten und den schlaffen Körper unter Anstrengung hinauf zog. Nie würde sie sich die Blöße geben auch nur einen Laut aus ihrer Kehle heraus zu lassen. Presste stattdessen die Kiefer so fest aufeinander, dass sich der Muskel scharf auf ihren Wangen abzeichnete. Dann lag sie bereits bäuchlings auf dem Gemäuer, drehte sich herum um Liam eine helfende Hand zu reichen und seine unbrauchbare Schulter zu entlasten.
Kaum, dass Skadi neben ihm den ersten, festen Tritt ergattert hatte, machte er sich selbst daran, das Gemäuer zu erklimmen. Leider musste er dabei feststellen, dass sein rechter Arm noch immer kaum für mehr zu gebrauchen war, als sich den nötigen Halt zu verschaffen, während er mit der Linken nach einem Punkt suchte, der genug Griff bot, um sich emporzuziehen. An Skadis Rücken vorbei sah er, wie der Schein des Feuers am Ende der Gasse heller wurde und hoffte inständig, dass er sich gerade noch rechtzeitig mit Hilfe der Hand seiner Begleiterin aus dem direkten Blickfeld gezogen hatte. Er verlor keine Zeit und ließ sich so leise wie möglich auf der anderen Seite zwischen der Zederhecke und dem rauen Gemäuer gen Boden gleiten. Er spürte die kalte Erde zwischen den Fingern, versuchte in gebückter Haltung einen kleinen Überblick über den Garten zu erlangen, bis auch Skadi neben ihm im Gebüsch saß. Der Garten schien komplett ummauert, die Mauer mit einer Reihe aus gleichgroßen Zedernbäumchen kaschiert. In einer Ecke erhob sich ein schmales, dunkles Konstrukt. Ein Schuppen vermutlich und dem Schatten nach zu urteilen stand die Tür offen. Er wollte gerade aufatmen, als auf der anderen Seite wieder Stimmen ertönten. Offenbar waren es wirklich Zwei, die nach ihnen suchten. Der eine machte seinen Kollegen gerade auf ihre falsche Fluchtroute aufmerksam. Liam schenkte Skadi einen anerkennenden Blick. Er hatte nicht gedacht, dass sie darauf hereinfallen würden.
Der Stein fühlte sich angenehm kalt an ihrem Rücken an. Fast ertappte sich die Nordskov wie sie erleichtert den Kopf in den Nacken zog und es ihren Gliedern erlaubte tief durchzuatmen und sich mit all der Schwere, die darin lag, gen Boden hinab zu begeben. Nun überließ sie es Liam die Situation im Blick zu behalten, selbst nicht willens die Augen zu öffnen, um auf die Geräusche hinter den dicken Mauern zu lauschen. Und erst als die Gesprächsfetzen klarer, die Bewegungen eindeutiger wurden, zog die Jägerin ihren Verstand zurück in die Realität. Wandte den Kopf zu Liam, dessen Blick sie nur spärlich im Halbdunkel hinter der Hecke erspähte. Sie schenkte ihm ein amüsiertes Lächeln, das unerwartet kraftvoll in ihren Mundwinkeln festsaß. Dann nickte sie in Richtung des Schuppen ähnlichen Gebäudes am anderen Ende des Gartens und versuchte sich so lautlos wie möglich in der Hocke entlang der Mauer zu bewegen. Denn das Gras wirkte zu eben, zu unschuldig, als dass sie davon ausging, unbemerkt darüber hinweg hechten zu können.
Jetzt, wo er ihre Verfolger vorerst beschäftigt wusste, fiel ihm zumindest ein kleiner Stein vom Herzen. Jetzt mussten sie sich wirklich nur noch unbemerkt durch die Gärten schleichen und ehe sie sich versahen, hatten sie das Bordell fast wohlbehalten wieder erreicht. Ein bisschen fühlte es sich so an wie damals, wenn die älteren Kinder die Straße versperrt hatten, um die Jüngeren in Angst und Schrecken zu versetzen. Meistens war Liam clever und wendig genug gewesen, sich unbeschadet aus dem Staub zu machen, manchmal hatte es aber auch ihn erwischt, wenn er sich geweigert hatte, seine Spielkameraden einfach im Stich zu lassen. Das Lächeln, welches er auf Skadis Zügen im Halblicht der Nacht erahnen konnte, tat unheimlich gut. Er nickte und nutzte den Augenblick, um einen tiefhängenden Zweig mit den Fingern nach unten zu halten, um einen besseren Blick erhaschen zu können. Doch der Garten lag ruhig in der Nachtluft. Das Gras wog sich sanft in der leichten Briese und die prächtigen Blüten einiger Blumen nickten gleichmäßig. Zu ruhig fast. Aber er war der letzte, der sich darüber beschweren würde. Geduckt drückte er sich der Jägerin hinterher zwischen Hecke und Mauer entlang. Hinter dem Schuppen schälte sich schließlich eine metallene Tür aus der Dunkelheit, die zurück zur nächsten Straße führen musste. Vermutlich war sie verschlossen, aber die Streben und die geringere Höhe würden ihnen das Klettern erleichtern. Irgendwann fiel ihm ein Geräusch auf, welches er die ganze Zeit nur beiläufig wahrgenommen hatte. Ein tiefes Atmen, so klang es. „Hörst du das?“, fragte er ernst und hielt inne, als sie die erste Ecke passiert hatten. Auf den ersten Blick konnte er nichts erkennen.
Fast im selben Moment klebten ihre Füße wie Teer auf dem Boden. Den Kopf in Richtung des Gartens gestreckt, die Augen geschlossen, um sich auf das Geräusch zu konzentrieren auf das Liam hinaus wollte. Kaum auszumachen, ob es menschlicher oder tierischer Natur war, doch sie hörte es, wenn auch leise und dumpf. „Vielleicht sollten wir nicht zu nah an das Gebäude.", wisperte sie ihm leise über die Schulter zu und nahm den Kurs zwischen Hecke und Mauer wieder auf. Blieb etliche Meter vor dem Gartenhäuschen stehen, um durch die wenigen Lücken im Nadeldickicht einen klareren Blick auf die Geräuschkulisse zu erhaschen, die mit jedem Schritt voraus angeschwollen war. Doch noch immer tauchte der aufsteigende Mond alles in völlige Dunkelheit. Es würde wohl Stunden dauern, bis die Schatten der Mauern und des Häuschchens klein genug wurden, um mehr zu sehen, als schützende Schwärze. „Kannst du was erkennen?"
Ihre Vermutung bedurfte keiner Zustimmung seinerseits. Sie waren sich einig. Ohne die Stelle im Garten aus den Augen zu lassen folgte er ihr weiter an der Mauer entlang. Irgendetwas Dunkles schien hinter dem Schuppen zu sein, aber die Kanten waren zu grade, als dass etwas Lebendiges dahinterstecken konnte. „Nein.“, antwortete er gedämpft und dachte nach. Er war auch nicht sonderlich erpicht darauf, es herauszufinden. Aber den Schuppen erreichten sie nicht, ohne ihre Deckung zu verlassen. Und auch das Törchen lang zwangsweise näher am Ursprung des Schnaufens als ihr jetziger Standort. „Mach dich bereit.“, wies er sie schließlich an, während er seinen Dolch von seinem Gürtel löste. Er hatte eine Vermutung. „Was auch immer es ist - ich begegne ihm lieber vorbereitet als auf offener Wiese.“ Mit der anderen Hand pickte er einen Stein aus der Erde, der seinen Plan wohl genug verdeutlichte. Wenn es wirklich ein Wachhund war, würden sie sich unmöglich komplett an ihm vorbeischleichen können. Seine Hoffnung war, dass er angekettet war. Nicht schön für das Tier, aber weitaus praktischer für sie im Augenblick, denn dann würden sie sich nur schnell genug wieder aus dem Garten stehlen müssen, sobald er Alarm schlug. Aus ihrem Versteck heraus warf Liam den Stein in die Richtung des Schuppens auf die Wiese und hielt den Atem an, gespannt, was - oder viel mehr ‚ob‘ - sich ihnen zeigen würde.
Irritiert sahen die dunklen Augen von dem viel zu entschlossenen Zügen des Älteren auf seine Hand, die im Halbdunkle irgendetwas Schimmerndes hervor zog. Noch ehe sie es realisieren, noch dagegen protestieren konnte, war der Musiker bereits weiter gegangen und schleuderte einen Stein auf flache Gras. Streifte dabei raschelnd einige Äste des Zederbaumes, hinter dem sie hockten wie kleine Hasen. Und kaum verstummte der gleichmäßige Atem, hielt Skadi die Luft an und presste sich alarmiert gegen die Mauer. Ein Klappern ertönte. Metallen, als schleife das Tier, dessen dicke Schnauze geradewegs um die Ecke bog, ein schwere Eisekette mit sich herum. Ob DAS so eine gute Idee gewesen war? Skadi hätte sich am liebste still und heimlich über das Mauerwerk davon gemacht, um auf den letzten Metern zu ihrer Freiheit einer Begegnung der unschönen Art zu entgehen. Doch nun musste sie sich auf Liam verlassen - etwas, dass ihr tief im Inneren so gar nicht schmeckte. „Was hast du vor?"
Seine Züge entspannten sich sichtlich, als die breite Schnauze des Schattens, der nun hinter dem Häuschen hervorlugte, deutlich hörbar von einer klimpernden Kette begleitet wurde. Der Griff um den Knauf seines Dolches lockerte sich, denn er ging nicht mehr davon aus, dass er ihn brauchen würde. Skadi hingegen schien seine plötzliche Gelassenheit eher mit Sorge zu sehen, wenn er den Unterton in ihrer Stimme richtig deutete. „Na, uns hier rausholen natürlich.“, antwortete er zuversichtlich, obwohl es ihm noch an einem greifbaren Plan mangelte, den er ihr unterbreiten konnte. Ein flüchtiger Seitenblick galt ihr, der ihr bedeuten sollte, dass er schon wusste, was er tat und nicht einfach blind auf ihr Glück setzte. Dem vertraute er nämlich seit geraumer Zeit nur noch sehr wenig. Der Hund indes schnupperte verwirrt dort, wo der erste Stein im Gras gelandet war. Liam nutzte die Gelegenheit, sammelte einen weiteren Stein aus dem Dreck und zielte damit auf einen Punkt auf der anderen Seite des Schuppens in der Nähe der Zedern. Der Hund lauschte auf, schnippte irritiert mit den Ohren trottete ein wenig unschlüssig in die Richtung des neuen Geräusches. Soweit funktionierte alles, wie er es sich erhofft hatte. Das Objekt, um den er ihn herumführen wollte, war nur ein wenig größer als das, womit er das ein oder andere Mal bereits erfolgreich gewesen war. In der Dunkelheit war es schwierig, abzuschätzen, wo genau der nächste ‚Köder‘ landen musste, um den Hund weit genug nach hinten zu locken.
Liam warf den nächsten Stein und der Hund schien das Ganze inzwischen für ein lustiges Spiel mit einer Maus zu halten und machte einen Satz nach hinten, um das Tierchen zu fangen. Der Blick des Lockenkopfes ruhte noch immer konzentriert auf seinem Vorhaben, drehte den nächsten Stein bereits zwischen den Fingern und versuchte die verbliebene Länge der Kette abzuschätzen. Und gerade, als er ihn in die Ecke geworfen hatte, aus der sich der Hund herausgeschoben hatte, drang ein lautes Rumpeln von der Straße her zu ihnen rüber. Der Hund sah auf und wuffte in die Dunkelheit. Zwei Gestalten fluchten. Sie hatten vermutlich gerade bemerkt, dass sie eine Finte verfolgt hatten. Der Hund trottete noch ein Stück nach vorne, die Kette spannte sich allmählich. „Los, das ist unsere Chance.“, flüsterte er und nickte in die Richtung des Tores, welches noch eine Mauerecke von ihnen entfernt war.
Er musste von allen guten Geistern verlassen sein. Ungläubig starrte die Nordskov zu ihm hinüber und unterdrückte krampfhaft ein Augenrollen. Vielleicht - und dessen war sie sich sehr sicher - wollte ihr Körper auch einfach nicht mehr. Wollte zurück in ein Bett und bis zum nächsten Morgen keinen Finger mehr rühren. Das machte sich in jeder Bewegung bemerkbar, die sie in der Dunkelheit tat, um sich im Rücken aufzurichten und nicht die Geduld zu verlieren. Es erschien ihr wie ein Wunder, dass der Hund nicht auf ihre Gerüche aufmerksam geworden war und stattdessen diesen Steinen folgte, die Liam mit immer weiterem Abstand auf die andere Seite des Gartens warf. Als er dann zu bellen begann, zuckte sie unweigerlich zusammen und brummte verstimmt. Wie dem Lockenkopf waren ihr die wüsten Flüche auf der anderen Seite der Mauer nicht entgangen. Und sie ließ es sich nicht zweimal sagen, jetzt ihre Beine in die Hand zu nehmen. Wie ein Wiesel schlängelte sie sich nun hinter den Zedern hindurch, blendete sogar das Tier in ihrem Rücken aus, als sie auf das Tor zuschritt und sich mit beiden Händen an der Oberkante hinauf zog.
Sie konnten wohl von Glück reden, dass es nicht mit metallenen Borten und Ornamenten verziert war, die ihnen nicht die Kleidung, sondern auch diverse Körperteile aufriss. Dennoch klapperte das Tor unter dem schwachen Gewicht der Nordskov und alarmierte den Hund, dessen Kopf beim Rascheln der Büsche hochgeschreckt und mit gespitzten Ohren in ihre Richtung gewandert war. Hin und her gerissen zwischen dem, was vor ihm und hinter ihm geschah stand er für einen Augenblick unsicher auf seinem Posten. Bis es ihn in einem ausladenden Sprint zurück in Richtung des Tores zog. Bellend und knurrend. Skadi blieb kaum Zeit die andere Seite zu inspizieren, als sie hinab fiel und etwas unsanft auf dem Boden aufschlug. Rieb sich die Handgelenke und den Nacken und starrte aus dunklen Augen in das Gesicht einer jungen Frau, die etwas irritiert und verdattert zu ihr und dann zum Tor hinüber sah.
Er bleib der Nordskov dicht auf den Fersen und nutzte jeder Lücke im Geäst, um einen kurzen Blick auf den Wachhund zu erhaschen. Diese Typen rechneten nicht im geringsten damit, dass sie ihnen gerade zur Flucht verhalfen. Das Tor war nicht mehr weit entfernt, doch schließlich waren sie gezwungen, ihre Deckung zu verlassen. Mit einem gezielten Satz zog sich Skadi bereits am kalten Metall empor, während Liam jede Sekunde damit rechnete, dass der Hund auf die eigentlichen Eindringlinge aufmerksam wurde. Den Dolch hielt er noch immer fest in der Linken, hoffend, ihn nicht gebrauchen zu müssen. Es kam, wie es kommen musste – mit dem ersten Geräusch, das das Tor im Schloss machte, als sich die Jägerin daran emporzog, schnellte der Kopf des pelzigen Wächters in ihre Richtung. Ein Knurren ertönte, wurde gleich nach dem Entschluss des Tieres von wildem Gebell abgelöst, während das es zielstrebig in ihre Richtung raste. Mit angehaltenem Atem drückte sich der Lockenkopf dicht an das Tor und betete stumm, dass die Kette sich irgendwo rund um den Schuppen verkeilen würde, wie er es geplant hatte. Darauf zu warten, dass dieser Fall wirklich eintrat, hatte er allerdings nicht vor. Kaum, dass Skadi die Füße auf die andere Seite buchsiert hatte, sprang er an das Gitter und zog sich hastig hinauf. Die Kette klirrte Glied in Glied, als der Wachhund überaus motiviert hineinsprang, um wenigstens einen von ihnen zu erwischen, doch Liam hörte die Zähne gut einen halben Meter von seinen Beinen entfernt geräuschvoll und in Rage zusammenklappen.
Er ließ den Dolch neben seiner Begleiterin zu Boden fallen, um sich einfacher über die obere Kante zu schieben und nur wenige Sekunden nach Skadi unsanft auf dem Kopfsteinpflaster aufzukommen. Der Hund in ihrem Nacken bellte noch tosend – etwas, was auch ihren Verfolgern nicht entgangen war, die mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit nicht zu dumm waren, Eins und Eins zusammenzuzählen. Doch bevor Liam darauf aufmerksam machen konnte, blinzelte er ebenfalls in das Gesicht einer jungen Frau, klaubte den Dolch hastig vom Boden auf und versuchte ihn, so schnell wie möglich wieder an seiner Hose zu verstauen. Sie machten gerade keinen guten Eindruck. Absolut nicht. „Es ist nicht so, wie es aussieht. Wir sind keine Diebe.“, versuchte er es leise, aber mit Eile in der Stimme und hob beschwichtigend die leeren Handflächen nach oben.