23.06.2020, 18:37
Warum musste sie bloß so verdammt stur sein? Er verstand nicht, weshalb ihr so viel daran lag, ihm zu verheimlichen, woher sie all diese Hämatome und Prellungen hatte. Oder warum ihm so viel daran lag, es zu erfahren. Liam hatte sich nicht die Zeit genommen, sich mit der geschlossenen Tür als physische Barriere zwischen ihnen einen Augenblick zu sammeln. Wie von allein hatten seine Füße wieder den Weg nach unten eingeschlagen, waren durch den Hof marschiert und schließlich zur Straße hinaus. Dementsprechend nahm er auch das Treffen von Buch und Holztür nur noch als dumpfes Geräusch wahr, das von überall hatte kommen können. Erst, als er auf der Straße stand und schließlich nach rechts bog, um sich den Frust von den Sohlen zu laufen, bemerkte er, wie angenehm kühl und klar die Abendluft. Sie beruhigte sein aufgewühltes Gemüt ein wenig und mit jedem Schritt, den er sich weiter vom Bordell entfernte, fiel es ihm einfacher, wieder durchzuatmen. Im Nachhinein betrachtet war die Situation gerade mehr als absurd gewesen. Mit den Händen in den Taschen folgte er den Straßen, ohne sich den Weg wirklich zu merken. Und obwohl er einfach hinnehmen wollte, dass Skadi das Bedürfnis hatte, ihn nicht in diese Sache einzuweihen, stäubte sich irgendetwas in ihm dagegen – gerade weil sie nicht wollte, dass er es wusste und weil es offenbar wichtig genug war, um sich aufzuführen wie ein trotziges, impulsives Kind. Er nahm sich selbst nicht heraus – ein weiterer Punkt, der ihn bei längerem Nachdenken erstaunte, denn eigentlich ließ er sich auf derartige Auseinandersetzungen selten ein. Sie führten zu nichts. Zu nichts als schlechter Laune. Wobei – die hatte zumindest die Nordskov bereits vorher gehabt.
Irgendwann war er umgedreht und schweigend wieder dem Weg zum Bordell gefolgt. Inzwischen war die Sonne gänzlich am Horizont und Liam hoffte, dass es spät genug war, um sich einfach schweigend in seine Schlafecke verziehen zu können. Er war optimistisch genug, dass Skadis Welt morgen bereits wieder bunter aussah. Und er nahm sich fest vor, einfach nicht mehr danach zu fragen, was vorgefallen war. Auch, wenn es ein unangenehmes Gewicht in seiner Magengegend hinterließ.
Häuserfront um Häuserfront zog an ihrem Augenwinkel vorbei. Unbemerkt und ungesehen, weil alles zu einem dunklen Brei verschwamm, den die Nordskov nur noch als notwendiges Beiwerk ihres Weges wahrnahm. Ganz gleich wie viele Schritte sie nahm, kochte die Wut immer noch wie ein loderndes Feuer in ihrem Magen und verzerrte ihr Gesicht in einem stetigen Rhythmus. Bei allen Göttern. So schlecht drauf war sie lange nicht mehr gewesen wie heute. War sie noch vor etlichen Tagen davon ausgegangen, endlich mit dem Tod des kleinen Jungen und den angeschwemmten Erinnerungen ihrer Vergangenheit klar zu kommen, hatte das heutige Ereignis mit einem Schlag alles überschattet. Und statt dass ihr Frust mit den Schlägen, die sie austeilte und einsteckte, schrumpfte, wuchs es zu einem hässlichen Geschwür heran, das sie sogar gegen Liam aufbrachte. Dem bislang einzigen Menschen auf der Sphinx, dem sie sich wirklich öffnen konnte. Und dem sie nicht aus einem Pflichtgefühl heraus vertraute. Ein Seufzen verließ ihre Kehle, als sie die letzte Ecke passierte und den Pfad, den der Lockenkopf eingeschlagen war mit einem Schlenker nach links verließ. Wenigstens, und das war womöglich das Einzige, das sie tief im Inneren beruhigte, hatte nichts von dem ausgesprochen, dass ihre temperamentvolle Zunge hatte loswerden wollen. Hässliche Dinge, die man nicht mehr zurück nehmen konnte, wenn sie einmal ausgesprochen waren. So abgrundtief verletzend, dass der Musiker ganz sicher nicht mehr gut auf sie zu sprechen gewesen wäre. Über seinen sehr langen Zeitraum hinweg. Besser machte es ihre derzeitige Lage allerdings nicht. Ihre Hände zitterten noch immer vor angestauter Wut, die sie nirgends entladen konnte. Die ihrer Kehle ein energisches Schnauben entlockte, ehe sie ruckartig nach Luft schnappte, kaum dass ihre Schulter etwas Weiches berührte.
Erschrocken wich die Nordskov zurück. Mit erhobenem Kopf und zusammengezogenen Brauen, die tiefe Furchen in ihre Stirn zogen. „Hey. Kannst du nicht mal aufpassen?“ Vielleicht war es ihr eigenes Verschulden, dass sie blind in den Mann hinein gerannt war, der mit verengten Augen zu ihr hinab starrte, als begegne er zum ersten Mal einer seltsamen Kreatur aus fernen Ländern. Doch es scherte sie nicht. Presste nur noch ein Schnauben aus ihren geweiteten Nasenlöchern, ehe sie sich an dem Kerl vorbeidrücken wollte und mit ausgestrecktem Arm aufgehalten wurde. Augenblicklich gefror ihre Haltung, ebenso ihr Blick, den sie innerhalb weniger Herzschläge funkelnd auf den Fremden richtete. Es hätte nur noch ein gefährliches Zischeln gefehlt, um die Angriffslust ihrer Züge auf ein Maximum zu steigern. „Pfoten weg.“
Und trotzdem war es das, was ihm durch den Kopf schwirrte. Das, woran sich seine Gedanken festhielten, während er zwanghaft versuchte, sich davon abzulenken. Er hatte Skadi selten derart geladen erlebt, derart stur und abweisend. Ihm gegenüber jedenfalls. Dass sie stur war, war keine Überraschung für ihn. Bislang aber war es ihm leichtgefallen, damit umzugehen. Sie Sein zu lassen, ohne sich groß in ihre Angelegenheiten einzumischen. Was dieses Mal anders gewesen war, konnte er nicht sagen. Er wusste nicht, woher Wut gekommen war, als er sie derart geschunden gesehen hatte und er wusste nicht, weshalb sie nicht einfach wieder so plötzlich verschwand wie sie gekommen war. Liam atmete gedehnt aus und wischte sich erschöpft durch das Gesicht. Was hätte er jetzt nicht alles dafür gegeben, irgendwo mit Alex ein Bierchen zu heben und sich nicht mit Dingen zu beschäftigen, die er ohnehin nicht ändern konnte. Die Kopfgeldjäger hingen ihm noch immer nach. Und mit ihnen die Angst davor, wen es bei der nächsten Aktion erwischte. Es hatte ihn nicht zu kümmern, was die Leute in ihrer Freizeit anstellten – es kümmerte ja auch niemanden, was er trieb, während er tagsüber nicht auffindbar war. Und trotzdem hinterließ der Gedanke gerade jetzt, wo er gezwungen war, darüber nachzudenken, ein flaues Gefühl in seinem Magen. Im Bezug auf alle, redete er sich ein. Im Bezug auf wenige eben bloß ein wenig mehr.
Am Ende der Straße erkannte er beiläufig zwei Gestalten, ohne sehen zu können, ob sie standen oder sich auf ihn zu oder von ihm wegbewegten. Zwei gesichtslose Schatten, bei deren Anblick er unbewusst darüber nachdachte, einen anderen Weg zu wählen. Dass zumindest einer dieser Schatten nicht ganz so unbekannt war, wie er sich gerade wünschte, ahnte er nicht im Geringsten. Doch noch waren sie zu weit weg, als dass er überhaupt hätte hören können, dass sie sich unterhielten. Bis er dort war, waren sie mit Sicherheit verschwunden. Was er somit noch weniger sehen konnte, war das süffisante Zucken im Mundwinkel des Größeren, als ihn die Frau vor ihm anblaffte, als glaubte sie, sie hätte damit Erfolg. „Sonst?“, erklang es einsilbig und nur wenig beeindruckt. „Aber immerhin gibt sich die Amazone nicht nur im Zwielicht bissig.“ Es war kein Kompliment. Ganz im Gegenteil. Denn noch einmal würde er sie nicht derart unterschätzen, dass sie ihn vor allen lächerlich machte.
Er sollte sich seinen widerlich stinkenden Atem für andere Dinge aufheben, als dumme Sprüche zu klopfen. Skadi brummte lediglich zur Antwort und versuchte sich wortlos an ihm vorbei zu schieben. Auf solche Spielchen ließ sie sich nicht ein, ganz gleich wie sehr der Kerl die gerade auf die Palme brachte. Sie war nicht in der körperlichen Verfassung, um sich mit ihm auf die Art und Weise zu befassen, die er für sein gehobeltes Mundwerk verdient hätte. Doch er brachte sie mit nur einem Schritt zur Seite erneut dazu, innezuhalten und unter schweren Atemzügen zu ihm hinauf zu sehen. „Hast du keine Frau zu Hause, der du auf den Sack gehen kannst?“ Dann lachte sie bitter auf. Mit funkelndem, süffisantem Blick. „Oder kannst du es ihr nicht besorgen, dass du hier Wildfremden auflauern musst?“ Sie wusste, dass sie zu weit ging. Sie wusste, dass all das nur noch mehr zu Problemen führen würde. Doch es war ihr einfach egal. Lieber ließ sie ihren Frust an diesem Fremden aus, der nicht den Anschein erweckte, als wollte er sie in Frieden von dannen ziehen lassen, als an jenem Mann, der wutentbrannt aus ihrem Schlafzimmer gestürmt war. Allein die Erinnerung daran, entfachte ihre Wut erneut. Mehr auf sich selbst, als gegen ihn gerichtet.
Er lachte derbe auf, offensichtlich weiterhin unbeeindruckt von ihrer Provokation, amüsiert eher von ihrem Versuch, ihn unter die Gürtellinie zu treffen. Aber er hatte nicht vor, diese zufällige Begegnung dazu zu nutzen, gehässige Kommentare über sich ergehen zu lassen, deren Wahrheitsgehalt sie nicht einmal erahnen konnte. Er würde die Rechnung begleichen, die sie unfreiwillig auf sich genommen hatte ohne zu bezahlen. Und er hatte nicht vor, das mit leeren Drohungen und blinden Beleidigungen zu tun. Er fand es mehr als belustigend, wie scharf ihre Zunge blitzte, aber ihre Lage verbesserte sie dadurch kein Stück. „Nett.“, kommentierte er ihren Versuch, sich seiner zu entledigen und grinste zahn(lücki)ig. Man sah ihm an, dass diese Kämpfe keine reine Freizeitbeschäftigung für ihn waren. „Hast mich um ein gutes Sümmchen Gold gebracht, Schätzchen.“, begann er mit dunkler Stimme und starrte der Dunkelhaarigen förmlich entgegen. „Und ich hole mir gern zurück, was mir gehört.“ In seinen Mundwinkeln zuckte es bedrohlich.
Als er nähergekommen war, hatte er die beiden Gestalten misstrauisch beäugt. Auf die Distanz wirkte es nicht wie ein freundschaftliches Gespräch, aber das machte es noch lange zu nichts, was ihn etwas anging. Kurzentschlossen bog er vom direkten Weg zurück zum Bordell in eine Seitenstraße ab. Er hatte bereits genug Ärger damit, sich in Angelegenheiten eingemischt zu haben, die ihn – offensichtlich – nichts angingen. Und doch war er Liam, der anhand der Staturen durchaus erkannt hatte, dass Mann und Frau dort auf der Straße gestanden hatten und um die Verdorbenheit seines Geschlechts wusste. Unweit der Mauerecke blieb er stehen und lehnte sich lauschend rücklinks an den kalten Stein; seufzte genervt von sich selbst und atmete leise. Er konnte unmöglich guten Gewissens weitergehen, wenn er wusste, dass hier vielleicht jemand wirklich Hilfe gebraucht hätte
Skadi lachte verholen und trat einen halben Schritt zurück, als der Kerl keine Anstalten machte, sich von ihr eigenhändig zu entfernen oder abzulassen. Ihre Nasenflügel zogen sich bei seinen widerlichen, dunklen Zahnreihen zusammen, denen mehr als nur ein gesunder Beißer fehlte. Sie konnte wohl von Glück reden, dass ihr nicht noch geradewegs Speichel entgegen gesprungen war. „Ach, ist dem so? Siehst nicht aus, als gäbe es bei dir viel zu holen.“ Kaum vorstellbar, dass dieser Kerl zur gut betuchten Gesellschaft gehörte. Und auch für einen Straßengauner fehlte ihm der heimliche Reichtum, der sich gern in einem Goldzahn oder ausreichend Waffen am Körper zeigte. „Und das in mehr als einer Hinsicht.“ Wieder stahl sich dieses diebisch, süffisante Grinsen auf ihre Züge. Es war längst zu spät für verbale Rückzieher und machte mehr Spaß, als es ihr am Ende gut tat.
Der Ausdruck auf seinen Zügen wurde abfälliger. Entweder war sie einfach extrem selbstsicher, weil ihre Freunde in der Nähe lauerten oder extrem dumm. Ein flüchtiger Blick galt der Straße in ihrem Rücken, ehe er sich für die zweite Variante entschied. Eine Frau, die sich freiwillig mit Schlägern in den Ring warf, um Geld zu verdienen, konnte nicht sonderlich helle sein. Für sie gab es doch viel einfachere Wege. Aber dass sie mit derart spitzer Zunge keinen Freyer fand, der bereit war, sie für ihre Dienste zu bezahlen, war auch nicht weiter verwunderlich. Ein hörbares, hämisches Grinsen galt ihrem Kommentar, ehe sein Körper ruckartig nach vorne schnellte und den schmalen Körper vor sich mit beiden Händen am Kragen packte, um ihn gegen die Mauer an ihrer Seite zu drücken. „Mal sehen, ob ich dein großes Maul nicht gestopft bekomme.“
Sie hatte damit gerechnet, dass er übergriffig wurde. Irgendetwas tief in ihr hatte sogar darauf gelauert, wenngleich ihr bewusst war, wie wenig sie im Endeffekt dagegen ausrichten konnte. Weder sträubte sie sich gegen seinen Griff, noch tat sie irgendetwas dagegen. Denn das Einzige, das ihre Lippen verließ, war ein sonores Lachen, das von Herzschlag zu Herzschlag, immer lauter und schriller wurde. „Du und mein großes Maul stopfen. Willst du dein Hirn da rein tun? Pah.“ Seine Finger schmerzten auf ihren Schlüsselbeinen, doch alles in ihr widerstrebte dem Reflex sich unterwürfig zu zeigen. Sie war eine Kämpfernatur. Das hatte ihr Vater ihr mit jedem Tag ihrer Kindheit eingebläut. Aufgeben war etwas für Versager und Feiglinge. „Selbst mit deinem Schwanz ist das allemal eine mickrige Vorspeise.“ Sie wartete. Darauf, dass er sich gegen sie drückte. Die Distanz zu ihr überbrückte oder so sehr die Fassung verlor, dass sie ihm mit nur einer richtigen Bewegung von sich loseisen konnte. Bis dahin würde sie das ankratzen, was von seinem beschissenen Ego noch übrig war. Denn das hatte sie wohl bereits ordentlich angenagt. Weshalb auch immer.
Der Verdacht erhärtete sich, dass sie schlicht lebensmüde war. Lebensmüde und dumm genug, um keinerlei Überlebensinstinkt zu zeigen. Wie ein Püppchen ließ sie sich hochnehmen und gegen die Wand pressen, während das einzige, was nicht still bleiben wollte, ihr loses Mundwerk war. Pah, spuckte er ihr tonlos mit einer amüsierten Fratze entgegen und nickte langsam, abwartend, gespannt. „Na, das werden wir ja sicherlich gleich sehen.“, lachte er im gleichen Moment, wie sich eine seiner Hände vom Stoff ihrer Bluse löste, um gleich darauf mit geballter Faust in ihrem Gesicht einzuschlagen.
Ihre Fußspitzen verloren jeglichen Bodenkontakt. Baumelten wenige Millimeter in der Luft, während der Fremde endgültig die Geduld verlor und seine Hand aus dem festen Griff um ihre Bluse löste. Skadi hätte geschworen, dass der feine Stoff alsbald unter ihrem Gewicht ratschend nachgegeben hätte. Doch scheinbar war sie dünner geworden, als sie vermutete. Oder die Zeit verlief tausendfach langsamer, als es ihr vorkam. Ruckartig spannte sie ihren Bauch an und zog ihr rechtes Bein angewinkelt hinauf. Mitten zwischen die Beine des Fremden, dessen Faust sie nur halb verfehlte und statt ihrer Nase ihr Jochbein traf. Ein Schmerzenslaut verließ ihre Kehle. Mischte sich mit dem des Mannes vor ihr, der beide Hände gegen den Schritte presste. Skadi spürte just Blut in ihrem Mund. Spuckte es achtlos vor sich auf den Boden und fühlte dem dumpfen Pochen in ihrem Körper nach. Ihr war für einen Moment seltsam schwummrig.
Liam hoffte inständig, dass er sich irrte, dass alles in Ordnung war und sein Misstrauen der Menschheit gegenüber nicht seiner zeitweisen guten Menschenkenntnis geschuldet war, sondern einfach den Geschehnissen, die noch immer in ihrem Nacken hingen. Er lauschte und auch, wenn er nichts vom Gespräch verstand, waren Häme und Herablassung kaum zu überhören. Ein stummes Fluchen folgte, ehe er sich mit einem tiefen Atemzug aus seiner Deckung zurück auf die Straße schob. Gerade noch rechtzeitig, um zu sehen und zu hören, dass sich auch sein letzter Funke Hoffnung auf einen friedlichen Ausgang dieses Abends in Luft auflöste. „Hey!“, rief er erstaunlich barsch in die Richtung des breiten Rückens, der sich noch immer auffällig nach vorne beugte. Schien, als wäre sein Schlag zumindest nicht unbestraft geblieben. „Hast du nichts Besseres zu tun, als nachts den Frauen nachzustellen?“ Noch hoffte er, dass sich die Situation einfach dadurch lösen würde, dass er gestört worden war. Ein bisschen Glück hätte ihm an diesem Abend wirklich nicht geschadet. Aber es kam anders – als er die schmale Gestalt dahinter nicht etwa als eine Fremde wahrnahm, wie die ganze Zeit angenommen. Die Erkenntnis sackte schwer wie ein Stein in seinen Magen, während sein Schritt ganz automatisch schneller wurde. „Na los, verzieh dich.“, blaffte er ihn abermals an, als er nur noch wenige Schritte entfernt war. Sein Blick streifte Skadi, doch er machte nicht den Fehler, den Kerl wirklich aus den Augen zu lassen. Wenn Skadi ihn schon nicht in die Flucht hatte schlagen können – was sollte er es überhaupt versuchen? Seine Gedanken rasten und suchten nach dem günstigsten und vor allem schmerzfreisten Ausgang für sie.
„Du verdammtes…“, hatte er unter den Schmerzen gezischt, die sich hartnäckig in seiner Lendengegend ausbreiteten. Es kostete ihn ein bisschen Überwindung, sich aus der gekrümmten Haltung wieder nach oben zu kämpfen, doch auf seinen Lippen lag ein bizarres, zufriedenes Lächeln. „Aber immerhin kannst du offensichtlich doch noch kämpfen. Dann macht es wenigstens mehr Spaß.“ Erst, als hinter ihm eine Stimme ertönte, hob er mit einem grimmigen Brummen den Kopf. Zuerst wollte er es einfach ignorieren, aber der Möchtegern-Held ließ nicht locker und schien nicht im Entferntesten daran zu denken, wieder abzuziehen. „Is ‘ne Sache zwischen der Lady und mir. Jeder hat seine Rechnungen zu zahlen – ganz egal ob Kerl oder ach so hilfloses Weibsbild.“ Die letzten Worte hatte ein hämischer Unterton begleitet. Hilflos war sie nicht, das wusste er. Umso lächerlicher war der Auftritt des fröhlichen Casanovas, der sich hier seine Heldenmedallie erhoffte. „Wenn du uns also bitte entschuldigen würdest.“ Mit übertriebener, bedrohlicher Freundlichkeit wandte er das zahnlückige Lächeln herum und musterte den Kerl abschätzig.
„Ist dann jetzt wohl eine Sache zwischen uns dreien.“, bereute es Liam fast zeitgleich, wie er es gesagt hatte. Es war nicht schlau, was er hier tat. Aber es war richtig. Und damit begnügte er sich in seinem Leben des Öfteren. „Ich sage es nicht noch einmal.“ Mit dem Kopf wies er ihm eine deutliche Geste, dass er noch die Möglichkeit hatte, das Weite zu suchen. Bevor er es bereute – sollte er zumindest denken. Bevor Liam es bereute war aber vermutlich wahrer.
Tiefe Atemzüge verließen ihre Brust und drängten vehement die Übelkeit in ihren Magen hinab. Für die ersten Augenblicke blieb die Nordskov regungslos stehen, damit beschäftigt das Chaos in ihrem Kopf zu ordnen. Erst dann trat sie einige Schritte zurück, richtete die dunklen Augen auf den Mann, dessen verzogene Miene eine gefühlte Ewigkeit brauchte, um aus dem Schatten aufzutauchen und mit einem hämischen Lächeln zu ihr aufzublicken. Zu gern hätte sie ihm einfach mit der Sohle ihres Schuhs mitten in die Visage getreten. Doch jeder Knochen ihres Körpers bebte allein bei der Vorstellung einer weiteren Berührung. Ein abfälliges Schnauben verließ ihre Kehle, vermischte sich mit der Stimme, die über den hohen Rücken des Fremden erst im zweiten Anlauf zu ihr drang und den Blick erschrocken hinauf gleiten ließ. Sie erkannte ihn sofort. Noch ehe sie mit einem Schritt zur Seite die Locken erblickte, die sich aus dem Licht diverser Kerzen und Fackeln schälten. Sie hörte nicht einmal die Worte, die neben ihr in die Abendluft entlassen wurden. War zu fokussiert auf die Gestalt Liams, die sich näherte. Die sich in diese Situation einmischte und direkt ins Kreuzfeuer begab. War er denn von allen guten Geistern verlassen? Langsam aber beständig entzog sich Skadi der Reichweite des Koloss, dessen Aufmerksamkeit gänzlich auf den Musiker gerichtet blieb. Schluckte und runzelte die Stirn. Es war ihr schleierhaft, wieso er sich so benahm. Wieso er ihr zur Hilfe kam, obgleich sie ihm noch vor wenigen Augenblicken den ‚Laufpass‘ gegeben hatte.
Das belustigte Schnauben des Typen, welches er selbst nach einem Tritt in die Weichteile noch für Liam übrighatte, zeigte eindeutig, in welche Richtung sich diese Situation hier entwickeln würden – nicht in die, die er sich so naiv gewünscht hatte. Aber um ehrlich zu sein: es überraschte ihn nicht. Er merkte, wie sein Gegenüber ihn – noch immer mit belustigt zusammen geschobenen Augenbrauen – musterte. Liam war definitiv niemand, der mit gnadenloser Kraft überzeugte. Er war trainiert, kräftig, aber sein Vorteil lag dank der schmalen Statur definitiv in der Wendigkeit als in der Schlagkraft. Skadi in seinem Rücken blieb still, was ihn einerseits erleichterte, gleichzeitig aber auch beunruhigte. Und dann folgte, worauf das „Auch recht.“, des Kerles schon hatte schließen lassen. Obwohl Liam damit gerechnet hatte, kam der Schlag in die Magengrube trotzdem überraschend und presste ihm augenblicklich die Luft aus den Lungen. Unter einem Ächzen krümmte er sich nach vorne und ignorierte das zufriedene, bellende Lachen über seinem Kopf. „Mach dich bereit.“, zischte er unter einem schweren Atemzug möglichst undeutlich über die Schulter, ehe er sich ruckartig aufrichtete und dem Schrank einen Schlag in die unvorbereitete Visage erteilte. „Lauf!“ Ein schmerzhaftes Stechen breitete sich in dem Moment in seinem Oberarm aus, in dem er die harten Wangenknochen seines Gegenübers unsanft unter den Knöcheln spürte. Doch dazu blieb keine Zeit – hoffend, dass das Überraschungsmoment ihnen genügend Zeit verschaffen würde, weit genug davon zu kommen, hielt er sich an seine eigene Anweisung und machte sich auf zur Flucht.
Er wandte sich herum. Und holte aus. Versenkte seine geballte Faust in Liams Magen, der schwer atmend voraus kippte und nichts als kochende Wut in den Knochen der Jägerin zurück ließ. Wollte sie sich gerade hinterrücks auf den Rücken des Fremden stürzten und ihm die Zähne tief in den Hals bohren, hörte sie Liams unterdrückte Anweisung und knurrte aufgebracht. Trat ein paar Schritte zurück, als der Kopf des Hünen hinauf schnellte und wenig später der Körper des Musikers folgte. Der Kinnhaken hatte gesessen. So sehr, dass der Kerl überrascht und vor Schmerzen taumelte. Und gerade als sich der Lockenkopf zur Seite Weg duckte und die Flucht antrat, überbrückte Skadi die wenigen Armlängen, die sie zurück geschlichen war und rammte dem Kerl mit voller Wucht ihren Fuß ins Kreuz. Ein Schrei ertönte. Daraufhin kurzes Gepolter. Der Kerl war geradewegs gegen die nächste Hauswand und einen Stapel Kisten geknallt. Mehr konnte die Nordskov nicht mehr erkennen, als sie sich abwandte und Liam die Straße hinab folgte. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, schmerzte, kaum dass sie aufgeholt hatte und nun neben dem Lockenkopf in eine Seitengasse abbog. Statt ihm jedoch weiter blind durch die Stadt zu folgen und die lauter werdenden Rufe in ihrem Rücken zu ignorieren, packte sie ihn am Handgelenk und verschwand in einem wirren Zickzack durch die Seitengassen.