20.04.2020, 02:09
[eine kleine Weile später]
Gregs Hemd hatte definitiv zu wenig Löcher. Das war der Hauptgrund, warum Trevor es sich heute Morgen überhaupt ausgeborgt hatte, aber auch der Hauptgrund, warum er eben das bereute. Es gab ja nicht mal lose Fäden. Woran zupfte sein Bruder denn bitte sonst herum, wenn er nervös war?! Oder ungeduldig. Oder er sich konzentrieren und ruhig und höflich sein musste. Oder alles zusammen. Mit anderen Worten: wenn er in der Schlange anstand, um eine Audienz bei seinem Bruder zu erhalten. Trevor verdrehte die Augen, ließ den Hemdsärmel in Ruhe und lugte an den beiden dicken Frauen vorbei, die vor ihm standen. Sie waren das Ende einer langen Reihe kläglicher Menschen, die alle hofften, ihre Sorgen auf Greg abwälzen zu können. Und er selbst fiel nicht einmal sonderlich auf unter ihnen, mit seinen unordentlich verbundenen Händen und dem Bein, das er nicht belastete. Einen eindeutigen Unterschied gab es jedoch. Trevor wartete nicht so gerne in Schlangen.
„Entschuldigung, darf ich mal?“, fragte er die rechte Frau mit einem unschuldigen Grinsen und nutze den Moment, um an der linken vorbeizuhopsen. „Schicker Turban.“ Die nächste in der Reihe, ein Mädchen mit schmutzigen Kopfverband, starrte mit großen, stummen Augen auf die Waffen an seinem Gürtel. Er warf ihr ein Lächeln zu, ohne anzuhalten, und wäre beinahe über das Schwein gestürzt. Gerade noch fing er sich auf dem falschen Bein und fluchte lauter als der dürre, graue Mann, dem das Tier offenbar gehörte. So bahnte er sich seinen Weg, vorbei an klapprigen Greisen, weinenden Kindern mit ihren zeternden Müttern und mit einem großen Bogen um den Betrunkenen, der wohl direkt aus einer Kneipenschlägerei hierher gewankt war, immer weiter nach vorne.
„Keine Sorge, ich helfe Euch“, sagte Trevor, ganz der Schauspiel-Kavalier, und packte die Hand von Gregs letztem Patienten, um ihm die Verandastufen hinab zu geleiten. Der Mann schwankte wie ein Papierboot in den Wellen. Trevors Mundwinkel zuckten. Allein die Menge an Blut auf seiner Kleidung hatte Greg bestimmt vorübergehend paralysiert. Er schob den Mann in die Arme der nächsten in der Schlange hinter ihm und wartete nicht auf das stoische „Der Nächste!“ „Hey! Er hat sich vorgedrängelt!“, quiekte die Frau, aber da ließ Trevor sich bereits auf den Stuhl gegenüber seinem Bruder fallen. Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch, die Hände erhoben, den Mund geöffnet, um zu sagen –
Und so weit hatte er nicht geplant. Er hatte Theorien entworfen und verworfen und Szenarien durchgespielt und in seinem Kopf tausend Dinge gesagt, geschrien, geweint. Aber heute morgen hier herzukommen war eine spontane Entscheidung gewesen und mehr als Chaos zu stiften war ihm nicht eingefallen. Chaos war gut. Publikum war gut. Es hieß, dass das hier schnell vorbei sein würde, dass sich keiner von ihnen in Monologe verstricken würde. Dass sie – ja, dass sie wie enden würden? Trevor ließ die Hände auf den Tisch sinken. Der Verband an der linken Hand hatte sich schon wieder gelöst. Er deutete darauf.
„Der geht ständig auf.“
Stimme der nächsten Frau in der Schlange: #cc9933