19.04.2020, 20:14
Sie hatten im Augenblick alle andere Sorgen als die neuen Gesichter. Ein bisschen taten ihm die Neuankömmlinge leid, doch dann erinnerte er sich daran, dass sie noch immer auf einem Piratenschiff waren, auf dem sich die Gepflogenheiten eben etwas von anderen Schiffen unterschieden. Vermutlich waren auch die Neuen einfach nur froh, ihre Ruhe zu haben. Keinem Rede und Antwort stehen zu müssen und lebend der Möglichkeit entgegenblicken zu können, am nächsten Hafen wieder Herr seiner Selbst zu sein. Während Skadi von ihren Eindrücken erzählte, versuchte Liam, sich die passenden Gesichter dazu vor Augen zu halten. Er nickte langsam, nachdenklich, ohne wirklich nachzudenken. Stattdessen wurde ihm bewusst, wie abwesend er wohl die letzten Tage wirklich gewesen war. Abwesend genug jedenfalls, um nicht wahrzunehmen, wie sehr Skadi beispielsweise all das hier mitnahm. „Mal sehen, wer morgen auch noch da ist.“ Abwesend hatte er nach einem der angebrannten Äste gegriffen, dessen Ende unversehrt in ihre Richtung ragte. Die verkohlte Spitze glühte noch leicht, doch das Glimmen erlosch recht schnell, bis Liam damit abwesend über seinen Handrücken strich und die dunkle Linie bedachte, die die Holzkohle auf seiner Haut hinterließ. „Und wer wieder seiner eigenen Wege zieht…“ Er zuckte mit den Schultern, lächelte und wandte den Blick von der verwischten Blüte auf seinem Handrücken ab in die Richtung der feinen Züge der Frau an seiner Seite. „Wie siehts aus? Bist du noch für einen Bratapfel empfänglich? Vielleicht bringt uns der auf andere Gedanken, hm?“
Sie hätte irgendwie auf Rúnar getippt. Die Furcht in seinen Augen war Anzeichen genug für sie gewesen, dass er mit Situationen dieses Kalibers nicht wirklich umgehen konnte. Gleichermaßen verstörend, wie traurig, dass sie sich mittlerweile zu einem Menschen zählen konnte, der abgesehen vom Tod eines Kindes, mit gewalttätigen Auseinandersetzungen und Mord und Todschlag leben konnte. “Nach diesem Abend kann ich es keinem verübeln.“, gab sie trocken zu und ließ den dunklen Schopf im Nacken kreisen. Allmählich spürte sie die Schwere immer stärker in ihren Knochen. Vielleicht wurde es Zeit zu schlafen. An einem Ort der Nicht nach Wundsalben und Alkohol roch. Ein müdes Lächeln huschte über ihren Zügen, als sich die braunen Augen auf Liam hefteten. “Gern.“ Vielleicht bekam sie davon genug runter. In den letzten Tagen hatte sie weder großen Appetit noch irgendeine Art von Freude beim Essen verspürt. “Brauchst du Hilfe dabei?“ Unweigerlich huschte ihr Blick zu seinem Arm hinab.
Mit hörbarer Zustimmung verzogen sich seine Lippen zu einem schiefen, blassen Grinsen. Er auch nicht. Es gab durchaus bessere Situationen, um Leute für die Mannschaft anzuheuern. Aber vielleicht war es auch genau das, wonach sie suchten – Abenteuer, Gefahr und den Tod. Zumindest im Falle dieses Kopfgeldjägers konnte er sich gut vorstellen, dass es stimmte. Er würde sie aber vermutlich auch ans nächstbeste Messer liefern, sobald er die Gelegenheit dazu hatte. Nicht sein Problem – jedenfalls nicht jetzt. Er wollte nicht weiter darüber nachdenken. Mit einem wärmeren Lächeln nahm er ihren Wunsch zu Kenntnis, wischte sich beiläufig die Kohle vom Arm und lehnte sich zur Seite, um nach dem Stock zu angeln, den er gerettet hatte, bevor Skadi auch ihn in ihrem provisorischen Wäscheständer hatte verarbeiten. „Nicht nötig. Du weißt doch - ich bin immer vorbereitet.“, gab er um seine altbewährte gute Laune bemüht zurück. Er kippte zur Seite und erreichte mit ausgestrecktem Arm den Stock und versuchte erst gar nicht, sich auf ähnlich spektakuläre Art und Weise wieder in eine aufrechte Position zu ziehen. Stattdessen drehte er sich auf den Rücken, musste so seine rechte Schulter nicht belasten und richtete sich wieder auf. „Elegant ist auch was anderes.“ Mit einem belustigten Kopfschütteln über seine Schildkröten-Manier warf er den Stock vor sich in den Sand, um schließlich auf der anderen Seite nach seinem Seesack zu sehen. „Ich glaube, du kommst besser dran.“ Dieses Mal gestand er sich das Handycap ein und rieb sich stattdessen den Sand von der blanken Haut an seinen Beinen.
Sanft rutschte die Decke von ihren Schultern, als sich der hochgewachsene Körper Liams zur Seite wandte und in einer etwas seltsamen Rolle über den Rücken wieder aufsetzte. Mit erhobener Augenbraue beobachtete ihn die Nordskov dabei und schüttelte matt lächelnd den Kopf. So sah wohl seine Art von Unabhängigkeit aus, wie? “Allerdings. Das kannst du besser.“ Belustigung schwang in ihren Worten mit, während sie sich zur Seite wandte und den Seesack zu sich heran zog, den Liam mit seinen Augen fixierte wie ein Hund. Beherzt lockerte sie mit wenigen Griffen die Öffnung und zog einen Apfel aus den Untiefen heraus. “Brauchen wir sonst noch was dafür?“ Mit fragendem Blick wandte sich der dunkle Schopf zurück und musterte den Lockenkopf eindringlich. Bratapfel. Nach ihrem Verständnis hätte sie das Ding einfach über dem Feuer erhitzt. Doch sie wusste, dass ihr Gegenüber weitaus feinere Kost kannte.
Natürlich stimmte sie ihm zu. Und dennoch erntete sie einen gespielt trotzigen Blick, der um Zuspruch betteln sollte. „Ich kann dir gerne zeigen, was ich noch kann und was nicht.“, brummte er belustigt, während sie den Apfel aus seinen Sachen fischte. „Du kannst ihn noch in Rum tunken, wenn du willst. Aber offenbar ist das ja heute nicht deine Intention.“ Andere hätten ihn vielleicht noch mit Honig glasiert, aber sie waren einfache Leute. Einfache Leute, die nicht mehr hatten, als einen Stock, ein Feuer und einen Apfel. Er sammelte den Stock am Boden auf, hielt ihn mit der rechten Hand fest und griff schließlich ins Leere, bis ihm auffiel, dass sein Dolch noch immer an seiner Hose baumelte. Er erhob sich, holte sich die Schneide und spitzte das Ende des Stockes mit wenigen, unpräzisen Hieben etwas an, ehe er wieder neben Skadi zum Stehen kam und die Hand nach dem Apfel ausstreckte. „Mein letztes Lagerfeuer ist gefühlt eine Ewigkeit her…“, bemerkte er dabei und runzelte nachdenklich die Stirn. „Milui, oder? Wie lange ist das her?“ Gerade in den letzten Tagen hatte sein Zeitgefühl ziemlich gelitten. Aber er erinnerte sich gern zurück. Zurück an Milui. An das Fest. An die Abende. Und an das Lagerfeuer.
Ein bisschen irritierend wie leicht er das Thema auf eine entspanntere Ebene heben und ihr unweigerlich ein Auflachen entlocken konnte. Dieser Kerl war unglaublich. Skadi schüttelte zur Antwort nur den Kopf und reichte ihm wortlos den Apfel, den sie auf seinem Weg durch den Sand wie ein Juwel in die Höhe hielt. “Mh... vier Wochen vielleicht?“ Wann immer sie auf einem Schiff war, verlor sie jegliches Zeitgefühl. Was wenige Tage war, fühlte sich wie Monate an. Was gestern war, wie vor ein paar Stunden. “Du klingst fast schon ein bisschen wehmütig?“ Eine rhetorische Frage, wie er kaum zu beantworten brauchte. Es sei denn, wer wollte. Skadi indes schmunzelte einfach vor sich hin und ließ den Blick über seine Miene gleiten, ehe sie ins Feuer zurück starrte.
Vier Wochen. Schon? Oder erst? So oder so – auf seinen Zügen zeichnete sich für einen Moment die Überraschung darüber ab, dass bereits (oder erst) ein Monat ins Land gezogen war. Es fiel ihm schwer, zu sagen, ob er mehr oder weniger geschätzt hätte. Sein Leben war schon immer eher selten nach einem Kalender verlaufen. Sie hatten sich zeitlich nie Ziele gesetzt. Und sie auch nie gebraucht. Ein ertapptes Schmunzeln zuckte in seinen Mundwinkeln, während er Skadis Blick erwiderte und gleichzeitig den Apfel von ihrer Handfläche klaubte, ihn auf den Stock spießte und sich schließlich wieder neben ihr im Schneidersitz niederließ. „Du nicht?“ Er steckte das stumpfe Ende ihres Grillspießes in den Sand, sodass die Flammen sich leicht um den Apfel legen konnten. Ihm ging es bei der Frage um nichts bestimmtes. Alles in allem waren Feste insgesamt erbaulicher als Hinterhalte. Und Liam fürchtete, die nächsten Feierlichkeiten würden einen bitteren Beigeschmack haben.
Für einen Moment huschten die dunklen Augen mit einem süffisanten Schmunzeln zur Seite. Vielleicht war ihm das bereits Antwort genug. “Er war zumindest bei weitem besser, als der letzte.“ Weder sie noch sonst irgendjemand konnte es leugnen. Mit Ausnahme von diesem Zairym vielleicht, für den alles nur halb so schlimm war, solange er kein Bein verlor oder seine Geldbörse aus allen Löchern pfiff.
“Eine Nacht ruhig schlafen, würde mir allerdings schon ausreichen.“, fügte sie mit einem Seufzen an und ließ sich mit gestreckten Armen auf den Rücken gleiten. Die Füße in Richtung des warmen Feuers, das an genehm an ihren Fußsohlen kitzelte.
Mit einem flüchtigen Blick zur Seite nahm er Skadis Schmunzeln zur Kenntnis und grinste seinerseits ein wenig in sich hinein, während er dem Apfel beim Garen zusah. Sein Lächeln verblasste allerdings, als Skadi fortfuhr und ein Problem ansprach, das er selbst seit den letzten Tagen nur zu gut kannte. „Oh, dafür würde ich zur Zeit auch so einiges tun.“, gestand er unbegeistert und rollte den Kopf kurz im Nacken. Aber bis es so weit war, würden vermutlich noch einige, lange, unruhige Nächte ins Land ziehen. Egal, wie schwer sich Kopf und Glieder anfühlten. Der Apfel färbte sich in der Hitze allmählich dunkler. Irgendwann zog er den Stock aus dem Sand und prüfte, wie weich die Frucht inzwischen war, befand ihn als durch und ließ sich ebenfalls rücklinks neben Skadi in den Sand gleiten. „Prinzessin.“, hielt er ihr den dampfenden Apfel mit einem zufriedenen Lächeln hin. „Eure verbotene Frucht ist bereit für den Verzehr.“
Unvermittelt huschten die dunklen Augen zur Seite und umrissen Liams Silhouette, die sich vor dem Feuer wie ein Schatten erhob. Mit glühenden Rändern und einem Hauch von Gold und Rot auf den Zügen. Sie hatte sich denken können, dass er viel über die Flucht nachdachte. Spätestens jetzt, wo sie gemeinsam im Wasser gestanden und stumm geweint hatten. Jetzt, wo sie so darüber nachdachte, stieß es ihr fast schon unangenehm auf. Ganz gleich wie sehr sie ihn mochte, sie fühlte sich nach wie vor seltsam dabei, solche Emotionen nach außen zu lassen. Mit einem leisen Seufzen auf den Lippen kippte der Blick somit in den Nachthimmel zurück. Fokussierte sich auf die schimmernden Punkte weit übers ich, ehe der Lockenkopf ihre Aufmerksamkeit auf sich zurück zog. Angenehm streifte der Geruch von gebratenem Apfel ihre Nase, ehe ein Windzug ihre Schulter streifte. Wesentlich eleganter hatte sich der Ältere neben ihr niedergelassen und reichte ihr entspannt den Spieß. Einen Moment starrte sie zwischen Obst und Mann hin und her. Dann schmunzelte sie und klemmte das angesenkte Holz zwischen Zeigefinger und Daumen. "Bei so einem freundlichen Angebot übergehe ich mal das Prinzessin." Sie brummte und hielt sich den Apfel prüfend einige Zentimeter vor den Lippen, um sich nicht an dem heißen Saft zu verbrennen. Gut. Sie würde wohl tatsächlich warten, bis sie hinein beißen konnte. "Mh... noch zu heiß."
Er brachte ein „Tse.“ über die Lippen, als sie sich beiläufig über ihren Kosenamen beschwerte. Liam zuckte wenig interessiert mit der Schulter – soweit wie möglich eben – und schenkte der Jüngeren ein Lächeln, welches eindeutig zeigte, dass sie ihn nicht allzu schnell loswerden würde. Vor allem nicht, wenn sie ihn stattdessen mit Dingen wie ‚Prinzchen‘ piesackte. Letztlich ließ er sich gänzlich in den Sand fallen, verschränkte den linken Arm hinter dem Kopf und drehte ihn wieder in die Richtung seiner Begleiterin. „Vielleicht wirkt er ja wie warme Milch mit Honig vor dem Einschlafen.“ Gegönnt hätte er es ihr.
Nur langsam rollte sie sich auf die Seite, den Apfel in der Linken haltend, um ihn nicht noch aus Versehen im weichen Sand unter sich einzutunken und stützte den dunklen Schopf mit der Rechten ab. "Ich bezweifle es. Aber genießen werde ich ihn trotzdem." Sie zuckte mit der Schulter, hielt sich prüfend erneut das dunkle Obst vor Lippen und biss dann genüsslich zu. Schweigend kaute sie, den Blick auf das saftige Fruchtfleisch gerichtet und spürte wie sich der warme Saft über ihr Kinn hermachte. "Schmeckt ganz gut.", murmelte sie leise und versuchte sich mit dem Handrücken über Mund und Kinn zu wischen.
Er nahm es mit einem Lächeln hin. Vermutlich nicht. Mehr als ein Spaß war es ohnehin nicht gewesen. Wären Schlafprobleme so einfach zu handhaben, wären sie vermutlich nicht erst jetzt darauf gekommen. „Ich habe selbstverständlich all meine Kochkünste für dich ausgegraben.“ berichtete er gespielt stolz und hob Anerkennung erwartend das Kinn. Er sah tatsächlich ziemlich lecker aus, aber Liam dachte nicht eine Sekunde daran, sich einen Bissen stibitzen zu wollen. Sein Appetit litt unter den Schmerzen und wäre Skadi nicht gewesen, hätte er den Apfel morgen wohl zurück zu den Vorräten gelegt. Einen Moment beobachtete er sie bei dem Versuch, die Frucht möglichst elegant vom Spieß zu naschen, dann verlor sich sein Blick wieder gedankenverloren in den etlichen Sternen, die am Firmament funkelten. „Mohntee.“, brachte er schließlich ohne Vorwarnung hervor, als er den Gedanken zu greifen bekommen hatte, den er offenbar die ganze Zeit gesucht hatte. „Mohntee war es glaube ich. Soll einen wie auf Wolken schlummern lassen. Hat Lubaya jedenfalls gesagt. Also, wenn es nicht besser wird.“ Er hatte sich tatsächlich die ganze Zeit Gedanken darüber gemacht, während Skadi den Apfel verputzt hatte. Ihretwegen, nicht seinetwegen. Sein eigenes Problem damit zu lösen – daran dachte er gerade nicht einmal. „Aber vermutlich kannte deine Großmutter das Rezept auch, hm?“
Während Liams Blick unter ihrem matten Lächeln gen Himmel glitt, starrte sie bei jedem ihrer Bisse unverfroren auf seine Miene. Nachdenklich und irgendwie geistig nicht ganz anwesend. Bis erneut ein Tropfen Apfelsaft über ihr Kinn perlte und sie seufzend mit dem Handrücken unter ihren Lippen entlang fuhr.
Seine Worte realisierte sie erst, als er bereits weitersprach. Hatte den Blick zum ersten Mal seit einer Gefühlten Ewigkeit auf die Umgebung gerichtet, wenngleich ihre Augen irgendwo im Nichts verharrten und sich auf nichts beständig zu konzentrieren versuchten. "Kann sein. Nicht umsonst hatten so ziemlich alle einen Heidenrespekt vor ihr." Aus den Augenwinkeln huschten die braunen Iriden auf Liam zurück, ehe der dunkle Schopf folgte und die Nordskov mit einer lässigen Handbewegung den Spieß mit samt der Hälfte des Apfels zu Liam hinüber reichte. "Möchtest du?"
Wäre ihm aufgefallen, dass Skadis Blick unentwegt auf ihm gelegen hatte, hätte er vermutlich den Faden verloren. Manchmal war es auch ein Vorteil, alles um sich herum auszublenden, wenn man den eigenen Gedanken nachging. Und gerade war er wirklich angestrengt all die Dinge durchgegangen, aus denen die blonde Piratin Tee zubereitet hatte, um denen, an die er sich erinnerte, die richtige Sorte zuzuordnen. Für die Dunkelhaarige schien es bloß etwas Beiläufiges zu sein - Liam hingegen hatte es sich längst in den Kopf gesetzt und versuchte, sich auch noch daran zu erinnern, welchen Teil der Pflanze man mit heißem Wasser aufbrühen musste. „Hm? Willst du nichts mehr?“ Er reckte den Kopf und richtete den Oberkörper etwas auf, machte aber noch keine Anstalten, ihr den Stock abzunehmen. Es roch noch immer köstlich, aber ihn trieb momentan eher die Intention, den Apfel nicht verkommen zu lassen. Das allerdings wollte er ihr nicht auf die Nase binden. Es gab keinen Grund, sich noch mehr Sorgen zu machen. Mit den Schmerzen hätte auch seine Appetitlosigkeit ein Ende. Also nahm er den vom Saft klebrigen Stock entgegen, sah sich den restlichen Apfel genauer an und biss ein Stück ab.
Sie schüttelte nur beiläufig den Kopf, geduldig darauf wartend, dass Liam ihr den Stock und somit den Rest ihres Mitternachtsnacks aus der Hand nahm. Was sie ihm nicht verriet war, dass sie sich zügeln musste und schon beim ersten Bissen und dem süßlichen Geschmack auf ihrer Zunge kaum aufhören konnte. Dieses Gefühl von unstillbarem Hunger hatte sie fast schon vergessen. Spürte dumpf die Erinnerungen in ihrem Hinterkopf aufploppen, wie es gewesen war, als ihr Vater sie im Alter von 6 mit nur einem Stück Brot und einem leeren Wasserbeutel im Urwald ausgesetzt hatte. Ein effektives, wenn auch verstörendes Training, das ihren Geschwistern Gott sei Dank erspart geblieben war. Eine Weile ruhte ihr Blick noch auf dem Lockenkopf, ehe sie sich auf den Rücken rollte und alle Viere von sich streckte. Mit einem herzhaften Gähnen.
Ein wenig beobachtet kam er sich schon vor, während er versuchte, sich nicht den gesamten kurzen Bart mit warmem Apfelsaft zu bekleckern. Aber er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, schielte bloß zu der Nordskov hinüber und beendete die Reise eines Tropfens sein Kinn hinab alsbald mit dem Handrücken. Skadi ließ sich zurück in den Sand fallen. Ihre Müdigkeit teilte er. Wie spät es war, wusste er nicht. Er hatte keinen Grund gehabt, eine Taschenuhr einzupacken. Die Sonne würde ihnen morgens schon Bescheid geben, wann es Zeit war, sich wieder auf der Sphinx blicken zu lassen. Als die Hälfte des Apfels verspeist war, warf er den Stock in die knisternden Flammen, rieb sich die Reste so gut es ging aus dem Gesicht und ließ sich ebenfalls nach hinten in den warmen Sand fallen. Er bemühte sich, möglichst leise zu sein, um Skadi im Fall des Falles nicht wieder aufzuwecken, sollte sie bereits von ihrer Erschöpfung übermannt worden sein. Mit einem ruhigen Atemzug schloss er die Augen und fuhr sich mit der Linken flüchtig über die langsam heilende Wunde an seinem Oberarm. Es ging. Vielleicht war es der Rum, der sie tatsächlich wieder etwas ruhig stellte.
Wann immer eine neue kleine Welle an den Strand schwappte und den hellen Sand verdunkelte, senkte sich der Körper der Nordskov mehr und mehr in die angenehme Wärme unter sich. Fühlte mit vergrabenen Fingerspitzen im Sand der schwächer werdenden Hitze des Feuers an ihren Zehen nach, das allmählich bis zu seinen Grundmauern hinab brannte. Dieser Abend war aufwühlender, als sie beim Anblick des Lockenkopfs anfänglich vermutet hatte. Nicht umhing fühlte sich ihr ganzer Körper an, als hätte er ihn mit Blei gefüllt. Wenigstens war sie nicht direkt ins Meer geschupst worden und ertrank in den Emotionen, die er, aller Wahrscheinlichkeit nach, vollkommen unfreiwillig frei gesetzt hatte. Ob sie ihm dafür noch dankbar sein würde, wusste die Nordskov nicht, deren Blick sich von der Welt abwandte und unter geschlossenen Lidern versteckte. Vielleicht fühlte sie sich morgen bereit dazu, eingehender darüber nachzudenken. Womöglich wäre sie es auch nie. Mit einem tiefen Seufzen rollte sie sich auf die Seite und zog die Beine hinauf in Richtung ihrer Brust. Lauschte dem kläglichen Knistern des Feuers und den Geräuschen der Nacht, bis jeder Gedanke zu Schäfchenwolken verpuffte und die junge Jägerin mit ruhigem Atem und entspannter Miene eingeschlafen war.
Das Knistern des Feuers mischte sich sanft in das Rauschen der Wellen. Liam hatte den Blick nach einer gewissen Zeit wieder zu den Sternen gehoben, während er zunehmend entspannter der leisen Atmung Skadis lauschte, die mit der Zeit tatsächlich so gleichmäßig wurde, dass er davon ausging, dass sie eingeschlafen war. Mit einem tiefen Atemzug starrte er zu den Sternenbildern, die über ihren Köpfen funkelten und die Geschichte einer weiten, weiten Welt erzählten, die sie von dort oben überblicken konnten. Er merkte gar nicht, wie auch er schließlich unter der friedlichen Geräuschkulisse einschlief und seit Tagen das erste Mal tatsächlich erholsamen Schlaf fand. Als er mit einem irritierten Blinzeln die Augen öffnete, stand die Sonne bereits am Himmel und stach ihm - unvorbereitet wie er gewesen war - unangenehm in den Augen. Er brauchte einen Augenblick, bis er einen zweiten Versuch startete und sich gewahr wurde, wo er sich befand. Er erinnerte sich, dass er nachmittags aufgebrochen war, um dem Trubel auf dem Schiff zu entfliehen. An das Lagerfeuer und – langsam drehte er den Kopf zur Seite. Auch Skadi schien noch zu schlafen. Ein flüchtiges Lächeln huschte über seine Züge, ehe er den Kopf wieder zurückdrehte und noch für einen kurzen Moment die Augen schloss. Damit, wirklich Schlaf zu finden, hatte er am wenigsten gerechnet.