09.04.2020, 21:08
Wie erwartet zeigte sich Enrique schweigsam. In Anbetracht der Lage war es nicht einmal verkehrt, dass zumindest einer von ihnen wusste, wie man den Mund hielt. Und trotzdem – es war vielleicht zu übertrieben, zu sagen, dass Liam dem ehemaligen Offizier misstraute, aber er behielt sich ein Maß an Vorsicht vor. Enrique hatte sich bislang nichts zu Schulden kommen lassen, seit er an Bord der Sphinx war, wenn man mal von gegenseitiger Koexistenz absah – ihm gegenüber jedenfalls nicht und in alles andere mischte sich Liam schlichtweg nicht ein. Nicht einmal das, was Skadi ihm im Laufe ihrer gemeinsamen Zeit über den schweigsamen Mann erzählt hatte, war für ihn von Belang, denn diese Beziehung ging nur die beiden etwas an. Er diente lediglich als Prellbock, was Enrique vielleicht das ein oder andere Mal bereits unliebsame Situationen erspart hatte. Und was dieser Tag bringen würde, würde er auf sich zukommen lassen. Vielleicht würde es ihm etwas besser verdeutlichen, wie man den ehemaligen Offizier zu nehmen hatte – das unscheinbare Schmunzeln nämlich entging Liam keineswegs, der Hintergrund dessen allerdings schon. Letztlich überging er es also einfach und nickte knapp, während er gedanklich ein paar der Begriffe überflog, die Gregory ihm in der Kategorie ‚Kräuter‘ genannt hatte. Sein „bei uns“ deutete er automatisch als „bei der Marine“ – überrascht, dass die hohen Tiere offenbar ebenso auf Kräutermittelchen angewiesen waren wie der einfache Pöbel. Welch Ironie, dass in beiden Fällen manchmal ein kleines Kraut über Leben oder Sterben entscheiden konnte.
„Nicht nennenswert. Ein paar Pflanzen, die sich für Teemischungen eignen von einer Freundin.. Ein bisschen was hat mir auch Skadi gezeigt.“, redete er sein Wissen herab.
In Anbetracht zu Enriques Erfahrungen war sein kümmerliches botanisches Wissen aber vermutlich wirklich unspektakulär. Kamille erkannte er, seit er etliche Blüten mit Skadi für Gregory in Alkohol eingelegt hatte. Ansonsten hatte er Lubaya zu selten über die Schulter geschaut, aus was sie ihre Kräutermischungen für Tee zusammenmischte. Inzwischen verfluchte er sich für seine Unachtsamkeit. Anis, Blutwurz und andere Dinge, die man genauso gut in guten Schnaps destillieren konnte. Breitwegerich gegen Insektenstiche oder offene Blasen. Das meiste aber hatten sie stets am Wegesrand übersehen, während Lubaya fleißig am Sammeln gewesen war. Mittlerweile hatten sie die Schwelle zur Hintertür erreicht. Auf der Straße waren die Leute bereits geschäftig unterwegs. Es wäre kein Problem, sich unter die Menge zu mischen. Hier jedenfalls nicht. Als Enrique innehielt, wandte sich Liam herum und erkannte den Ernst in den Zügen des Älteren. Für einen kurzen Augenblick verzog er die Mundwinkel unbegeistert. So sehr er bemüht gewesen war, vorerst auszublenden, dass nicht alles so einfach zu beschaffen sein würde – Enrique hatte Recht. Und es war schlauer, vorher darüber zu reden. Am Ende nämlich würden sie keine Zeit mehr dazu haben. Dennoch ließ er ihn warten und antwortete erst einen tiefen Atemzug später.
„Mag sein, dass ich den Anschein erwecke, diesbezüglich im Augenblick keine große Hilfe zu sein, aber…“ Dass die Schussverletzung seiner Rechten noch immer nicht ganz verheilt war, war immerhin kein Geheimnis. Dass er mit der Hand aber noch immer keinen Degen sicher führen konnte, allerdings schon. Nicht umsonst führte er den Degen zur Zeit mit der Linken. „Ich habe nicht vor, dir die abenteuerlichen Orte ganz allein zu überlassen.“
Ein optimistisches Schmunzeln schlich sich zurück auf seine Züge und vertrieb den Ernst. So oder so – er war kein Feigling. Und Enrique – oder irgendjemand anderen seiner momentanen Crew – einfach bei der erstbesten Gefahr alleine stehen zu lassen, sah ihm alles andere als ähnlich. Er führte den Degen sicher mit der Linken. Sicherer jedenfalls, als er es mit der Rechten konnte. So, wie er auch kaum Probleme gehabt hatte, die Feder mit der Linken zu führen. Ungeübter zwar, aber wehrhaft.
„Trotzdem wäre ich dafür, vielleicht erst einmal die üblichen Dinge zu besorgen. Ein bisschen auskundschaften, wie die Stimmung bei den düsteren Gestalten ist und abschätzen, ob sich das Risiko heute lohnt. Oder ob wir ein bisschen mehr Vorbereitung brauchen. Informationen, einen Handel mit uns verlockender zu machen.“
Enrique wusste, wovon er sprach. Und auch Liam wusste das, auch wenn er nicht den Anschein erweckte. Eigentlich waren derartige Gefälligkeiten und Verhandlungen immer die Aufgabe eines anderen gewesen.
„Oder hast du einen anderen Vorschlag?“
Man hätte es bissig nehmen können; manch anderer hätte diese Frage vermutlich auch bissig vor die Füße des ehemaligen Offiziers gespuckt. Aber Liam war wirklich offen für seinen Vorschlag.