09.04.2020, 18:30
Von undefinierbaren Ruhe derart beherrscht, registrierte Lucien kaum, wie sehr er die Schwarzhaarige tatsächlich verunsicherte. Wie schwer sie es im Moment hatte, hinter seine Gedanken zu kommen – und zu wissen, dass er nach wie vor an ihrer Seite war, wenn es um den Kampf gegen ihre Vergangenheit ging. Wie wenig es ihm ausmachte, mit hineingezogen zu werden. Schließlich war er doch schon längst involviert. Seit dem Moment, in dem sie die Carta unterschrieben hatte, mindestens. Vor allem aber, seit er begonnen hatte, sie zu mögen. Genug, damit ihr Wohlergehen ihm nicht mehr egal war.
Doch nichts davon zeigte der Dunkelhaarige gerade besonders offensichtlich. Im Gegenteil. Mit Shanayas Erklärung wanderte seine Augenbraue ein Stück weit die Stirn hinauf. Ein Hauch zweifelnder Unglauben in seinem Blick.
„Du bist... freiwillig auf sein Schiff gegangen?!“
Er verstand die Logik hinter ihrer Überlegung durchaus. Eine Frau auf einem Piratenschiff – auf irgendeinem, das nicht zufällig die Sphinx war – galt wahrscheinlich als nichts anderes denn als Freiwild. Als Spielzeug für Männer, die oft eine lange, sehr lange Zeit auf See verbrachten und entsprechende... Bedürfnisse hatten. Und trotzdem klang die Entscheidung, die sie deshalb für sich getroffen hatte, geradezu wahnwitzig. Vielleicht weil sie es in vollem Bewusstsein dessen getan hatte, was sie dort erwartete.
Lucien stieß leise, fast resignierend die Luft aus, fuhr sich mit der Hand kurz übers Gesicht. Doch ein zaghaftes Klopfen an der Tür rettete die Schwarzhaarige vor einer Antwort oder einer weiteren seiner Fragen. Der junge Mann warf einen Blick zum Eingang, zögerte nur kurz. Stand dann schließlich auf und griff im vorbei gehen nach dem Schlüssel auf dem Tisch.
Als er die Tür schließlich gerade weit genug öffnete, um zu sehen, wer da stand, entdeckte er ein Mädchen von vielleicht 9 Jahren. So, wie sie aussah, vermutlich die Tochter des Wirts oder sein Mündel. In der Hand trug sie ein hölzernes Tablett mit einem Laib Brot, einem großen Stück Käse und ein wenig Gemüse. Kohlrabi, Karotten und kleine Tomaten in einer Schale.
Die Kleine wirkte derart eingeschüchtert, dass sie nichts anderes Zustande brachte, als seine Stiefel anzustarren und dabei ein paar unverständliche Worte zu stammeln. Allerdings hatte Lucien dafür nur wenig Geduld. Er zog die Tür weiter auf, nahm dem Mädchen das Tablett ab und schloss sie mit einem Fußtritt vor ihrer Nase, bevor er erneut den Schlüssel im Schloss drehte.
Doch die kleine Unterbrechung reichte, um die skrupellose Kälte in seinem Inneren zumindest aufzubrechen. Als er sich umwandte, die tiefgrünen Augen auf Shanaya zur Ruhe kamen, reagierte er wieder mit sichtbarer Sanftheit auf ihre Anspannung. Er ging mit dem Tablett zum Tisch hinüber, legte den Schlüssel zurück auf seinen Platz und griff stattdessen nach der Flasche, bevor er sich der jungen Frau auf dem Bett zuwandte.
„Wirklich, manchmal bekomme ich den Eindruck, du bist ein bisschen lebensmüde.“ Ein Hauch sanften Spotts lag in seiner Stimme. Er stellte das Tablett neben ihr aufs Kissen, bevor er sich selbst auf ihre andere Seite setzte. Den Oberkörper ihr zugewandt, ein Bein fest auf dem Boden, das andere in einem nicht ganz vollendeten Schneidersitz auf der Matratze angewinkelt. Er hob die Hand, strich flüchtig über ihre tränenfeuchte Wange.
„Du meinst also, er wird es wieder versuchen.“
Mehr eine Feststellung denn eine Frage.