08.04.2020, 11:29
Während Shanaya einen Augenblick zögerte, mit sich selbst auszumachen schien, was sie ihm erzählte oder auch nur wie sie ihm all das erzählte, versuchte Lucien auf irgendeine Art und Weise zu ergründen, was in ihm vor ging. Ja, er sorgte sich um sie. Der Wunsch, ihr zumindest eine Ahnung von Sicherheit zu vermitteln, damit sie sich körperlich und vor allem seelisch von dem erholen konnte, was passiert war, beherrschte jede einzelne Handlung seinerseits.
Doch all das überlagerte eine geradezu ernsthafte Sachlichkeit. Eben die, die ihn in brenzligen Situationen auszeichnete, wenn es darum ging, schnelle Entscheidungen zu treffen. Er musste warten. Bis sie ihm erzählt hatte, was er wissen wollte. Bis er das Gefühl hatte, dass es ihm reichte. Vielleicht lockte sie damit die ein oder andere Emotion aus ihm heraus.
Als Shanaya schließlich das Wort ergriff, hörte der Dunkelhaarige schweigend zu. Auf ihre erste Frage hin nickte er leicht, erwiderte sonst jedoch nichts, um sie nicht zu unterbrechen. Derweil schlich sich ein leicht ironisches, aber doch sanftes Lächeln auf seine Lippen, während er nach und nach verstand: Sie fürchtete nicht ihren Bruder. Sondern Gefühle, die so heftig und so beherrschend waren, dass sie nicht mehr wusste, was sie tat – oder vielleicht auch gar nichts tun konnte. Gefühle, die sie lähmten. Den kleinen aber feinen Unterschied begriff er durchaus.
Leicht verlagerte Lucien seine Haltung, lehnte sich nach vorn, stützte die Ellenbogen auf die Oberschenkel und das Kinn in die miteinander verschränkten Hände, während seine Zeigefinger nachdenklich auf seinen Lippen ruhten. Nur kurz runzelte er dabei die Stirn, als ihm auf die Beschreibung ihres Bruders hin ein flüchtiger Gedanke kam.
Er lauschte in sich hinein, ob sich bei ihrer Geschichte irgendetwas in ihm regte. Abscheu, Wut, Hass, irgendetwas. Doch er fand nur eine geradezu friedliche, pragmatische Eiseskälte. Sicherlich, es widerte ihn an. Der Gedanke, einer Frau das anzutun, was ihr Bruder ihr antun wollte, ebenso wie die Tatsache, dass ausgerechnet ihr Bruder sie auf diese Art zu verletzen gedachte. Der Dunkelhaarige dagegen hätte alles getan, hätte gemordet, um Talin zu beschützen, notfalls auch vor ihm selbst, und nicht anders sollte ein Bruder für seine Schwester einstehen. Eine solche Abscheulichkeit ließ sich nicht mit seinem Weltbild vereinbaren.
Aber er fand auch Erleichterung. Matt seufzende Erleichterung, die es der Kälte dahinter nur leichter machte, Voraussetzung für sie war und ihr Tür und Tor öffnete. Er musste sich nur vergewissern. Sicher gehen, dass er sie richtig verstanden hatte und sie unversehrt war. Danach konnte er jede andere Frage stellen, die sich ihm noch so unwillkürlich aufdrängten.
„Du sagst, er hat es nur versucht. Also ist es ihm bisher nicht gelungen? Auch heute nicht? Er hat dich nicht...“
Als Lucien zu sprechen begonnen hatte, klang seine Stimme noch wachsam, geradezu lauernd. Doch mit jedem Wort wurde sie sanfter, wurde sein Blick weicher. Sie würde schon wissen, worauf er hinaus wollte, ohne dass er sie bedrängte. Er stand nicht auf, ging nicht zu ihr, obwohl das verletzte Glänzen in ihren Augen dieses Verlangen in ihm wach rief und er es nur mühsam im Zaum hielt.