05.04.2020, 20:03
Mit milder Genugtuung nahm der Dunkelhaarige zur Kenntnis, dass Shanaya über die Tatsache, dass er eben nicht ging, kein weiteres Wort verlor. Mitnichten hatte er das 'ich' in ihrer Aussage falsch gedeutet, die unterschwellige Botschaft darin überhört. Was dahinter stecken mochte – ob der Wunsch, ihn nicht erneut in die Angelegenheit mit hinein zu ziehen oder weil sie nach wie vor glaubte, sie müsse so etwas allein durchstehen – wusste Lucien nicht und es war ihm beileibe auch egal. Er ignorierte ihren leisen Hinweis. Und zwar vollkommen bewusst.
Er würde nicht gehen, sich nicht wegschicken lassen. Er würde sie nicht allein lassen und für sie kämpfen, wenn es sein musste. Und in diesem Augenblick würde er dafür sorgen, dass niemand sonst ihr auf die Pelle rückte. Weder ihr durchgeknallter Bruder noch irgendein versoffener Dreckskerl von der Straße.
Gemeinsam bogen sie in die nächste Seitengasse ab und als hätte Lucien nichts anderes erwartet, hob er den Blick zu den höheren Stockwerken. Dorthin, wo zwischen den eng zusammenstehenden Häusern Leinen gespannt und Wäsche zum Trocknen aufgehangen worden war. Was den beiden Piraten in dieser Situation wie gerufen kam. Es gab eben doch nicht nur Lagerhäuser hier. Irgendwo in den oberen Etagen musste wohl auch jemand wohnen. Jemand, der ihnen unfreiwilligerweise ein Hemd leihen konnte.
Der Dunkelhaarige wandte sich an seine Begleiterin, hielt bei ihren Worten jedoch inne – nur um kurz darauf flüchtig zu schmunzeln.
„Ich würde das sicherlich weit mehr genießen, wenn du dich nicht vorher immer wieder in Lebensgefahr bringen würdest.“ Er maß sie mit einem geradezu zärtlich spöttischen Blick, bevor er sie vorsichtig losließ. „Warte einen Moment.“
Er trat einen Schritt vor, ließ Shanaya neben der Hauswand stehen und zog seinen Degen. Mit über den Kopf gestrecktem Arm reichte die Klinge gerade so bis zu der Leine, die ob ihrer Last ein Stück weit nach unten durchhing, und durchtrennte die Schnur mit einer schnellen Bewegung.
Ein Laken, ein Hemd und eine Hose kamen ihm entgegen, bis sich letztere in der Halterung an der Wand verhedderte, den Fall stoppte und alles zusammen neben der Schwarzhaarigen gegen die Ziegelmauer klatschte. Lucien schob den Degen zurück in dessen Scheide und zog das Hemd von der Leine, um es kurz darauf der jungen Frau neben sich zu reichen. Wieder nahm seine Stimme eine ungewöhnliche Wärme an.
„Zieh das über. Ich kann dich ja so nicht rumlaufen lassen.“