30.03.2020, 14:31
Sie drängte sich an ihn, als versuche sie, in ihn hinein zu kriechen, erinnerte ihn in diesem Moment mehr denn je an seine kleine Schwester in einem Augenblick tiefster Verzweiflung. Sie, die immer starke ewige Einzelkämpferin. Dass es diese andere Seite in ihr gab, wusste er längst. Tief vergraben und verborgen vor den Augen anderer hinter ihrem sonst so unerschütterlichen Selbstvertrauen. Doch nie in all der Zeit seit sie sich kannten, hatte Lucien darüber nachgedacht, wie groß das Maß an Vertrauen sein musste, dass sie ihm inzwischen entgegen brachte. Das Maß, das nötig war, um in diesem Augenblick, in dem sie so endlos verletzlich wirkte, seine Nähe zu suchen. Gerade seine. Gerade er, dem das Elend anderer nicht gleichgültiger sein konnte. Gerade er, der für jene verletzliche Seite in ihr die ungesündeste Wahl war, wenn sie den Fehler beging, sie in seine Obhut zu legen.
Doch er bildete sich ein, dass es half. Das Zittern in ihren Gliedern ließ nach, nur der Griff ihrer Hände in seinem Hemd blieb unvermindert kraftvoll. Eine feine Blutspur färbte bereits den hellen Stoff eben dort, wo sie mit dem lädierten Handrücken die Leinenfasern streifte. Er störte sich nicht daran, hauchte ihr rein intuitiv einen sachten Kuss auf den Scheitel und wiederholte in immer gleicher, beruhigender Weise die Bewegung, mit der seine Finger durch ihr dunkles Haar glitten.
Bis ihre Worte ihn abrupt innehalten ließen und sich eine Welle der Anspannung durch jeden Muskel seines Körpers zog. Scharf zog er die Luft ein, bevor er in seiner Atmung kurzerhand stoppte. Bláyron? Bláyron?!?
„Dein Bruder hat dir das angetan??“
Abscheu regte sich in ihm, brachte ihn dazu, sich ein Stück weit von ihr zu lösen, um einen Blick in ihr Gesicht zu erhaschen. Vorsichtig zwar und ohne allzu viel Abstand zwischen sie zu bringen und ihr den Halt nicht zu verwehren, den sie suchte, aber nachdrücklich. Ihr eigener Bruder...
Lucien wusste nur zu gut, dass das Verhältnis zwischen Shanaya und Bláyron in keinster Weise dem zwischen Talin und ihm entsprach. Er hatte die Narben gesehen, hatte gehört, wie die Schwarzhaarige über diesen Mann sprach... und einen seiner Schläger schließlich leibhaftig kennen gelernt. Der Mensch, der hinter all dem steckte, konnte nichts Gutes an sich haben. Doch das er so weit gehen würde? So abgrundtief verdorben war, dass er seine eigene Schwester auf diese Art verletzte?
„Komm.“ Der 21-Jährige zwang sich zu Ruhe, zu Besonnenheit, bewegte sich nur vorsichtig, um Shanaya die Gelegenheit zu geben, ihm zu folgen. „Lass uns erst mal von hier verschwinden. Wir sollten von der Straße runter.“
Und auch wenn er ihre letzten Worte kaum gehört hatte, hätte das ebenso die Antwort darauf sein können.