28.03.2020, 22:51
Etwas ungelenk drückten die zitternden Finger Papier auf Papier. Formten kleine sichtbare Kanten in die gelbliche Oberfläche, die alsbald als kleines Schiffchen auf dem Sand ruhte. Mit jedem weiteren dieser Papierboote wurde die Nordskov ruhiger. Sah unter dem versiegenden Tränenberg auf ihrem Lid die Welt allmählich klarer, auch wenn der Druck in ihrer Brust kaum nachgelassen hatte. Nickend antworte sie dem Lockenkopf auf seine Frage, ohne aufzusehen. Die dunklen Augen blieben auf das kleine Boot zwischen ihren Fingerspitzen fixiert, als suchte sie darin die tatsächliche Antwort. Nein. Sie war nicht bereit ihre Kinder für immer loszulassen. Das wäre sie womöglich nie. Oder hatte sie vielmehr Angst davor, sie zu vergessen, wenn sie den Schmerz gehen ließ? Tief ein- und ausatmend erhob sie sich. Stapelte die kleinen Papierfiguren auf ihrem Arm und folgte dem Musiker zum Meer hinab, das ruhig vor ihnen bis zum Horizont reichte. Der Sand unter ihren Schuhsohlen war so weich. Als schwebe sie für einen Moment auf Wolken. Schwankte von links nach rechts und blieb dicht neben dem Lockenstopf stehen. Ging in die Hocke, um die kleinen Schiffchen vorsichtig neben ihm in den Sand gleiten zu lassen, während er die Kerzen entzündete. Mit zitternder Hand nahm sie das Papierboot entgegen, das er ihr reichte. Sog sichtlich aufgewühlt die Nachtluft in ihre Lungen und zog sich beiläufig die Schuhe von den Füßen. Dann trat sie hinein ins angenehm warme Nass. Lief behutsam tiefer hinein und schluckte schwer. Wieder verschwamm der orangerote Schein der Kerze in ihrer Hand. Verschmolz mit der glitzernden Meeresoberfläche, die so friedlich vor ihnen lag. Doch Skadi hielt dem stechenden Gefühl in ihrem inneren Stand. Verkeilte einige Meter entfernt ihre Zehenspitzen in den Meeresboden und schloss die Augen. Angenehm umspielte der Abendwind ihre Beine, das mit Tränen getränkte Gesicht. Stob ihre Haare zur Seite und ließ immer wieder ein paar Wassertropfen gegen ihre Leinenhose schwappen. Ein Summen verließ ihre Kehle. Erst leise, dann zunehmend lauter. Noch immer hielt sie den Blick auf die feine Linie am Horizont gerichtet. Beugte sich nur langsam zur Wasseroberfläche hinab und schob das winzige Boot hinaus in Richtung Ozean.
Pan’s Labyrinth Lullaby
Es war einfach, zu erkennen, wie schwer Skadi dieser Gang fallen musste – sogar für ihn, der nicht gerade selten das ein oder andere übersah. Aber auch Liam wusste, dass nicht immer alles einfach war im Leben und der Tod gehörte zweifellos dazu. Das Gewicht auf sein Gemüt nahm wieder zu, als er in das von Schmerz zerfressene Gesicht seiner Freundin sah und trotzdem hatte er ein blasses, ermutigendes Gesicht für sie übrig, ehe sie sich – Seite an Seite – in Bewegung setzten. Eines der Boote fand seinen Platz in den Händen der Nordskov, den Rest stapelte er vorsichtig in seiner eigenen Handfläche, um sie hinaus aufs Meer zu tragen, bevor sie ihre eigene Reise in die Nacht begannen. Das Meer rauschte leise und ruhig in ihren Rücken, während das Wasser sanft ihre Beine umspielte und den Stoff ihrer Hosen hinaufkroch. Aber es spielte keine Rolle, war unbedeutend zwischen all der Emotion, die in dieser Geste lag. Liams Blick war in die Ferne gerichtet, ruhte ohne wirklichen Fixpunkt am Horizont, wo sich die Sterne mit ihrem Spiegelbild im tiefschwarzen Ocean trafen. Er schwieg und als sich Skadis leise Stimme in die Nachtluft mischte, hielt er für einen flüchtigen Moment den Atem an. So leicht, wie ihre feine Stimme auch klang – die Nachricht, die darin mitschwang, die Trauer und der Verlust, wogen schwer. Er blinzelte, als sein Blick ein wenig verschwamm, biss sich auf die Unterlippe und reagierte auf eine Regung ihrerseits. Bedächtig streckte er den Arm aus, um das Kerzenfragment des kleinen Papierbootes zu entzünden, kurz bevor sie es in die Wogen des Meeres übergab. Eine Zeit lang sahen sie dem winzigen Lichtbringer nach, ehe er das nächste Schiff des kleinen Stapels in seiner Hand entzündete, damit Skadi es zu Wasser lassen konnte. Als sie das vorletzte Boot genommen hatte, entzündete er das letzte und entließ es zeitgleich mit ihr in die Obhut der Wellen. Es verstrich keine Sekunde, bis er die Hand ausstreckte und seine Finger zwischen ihren verkeilte, um schweigend den Lichtern hinterherzusehen, die sich wacker auf der Wasseroberfläche hielten.
Wie kleine Sterne flackerten die Lichter der Kerzen inmitten der dunklen See. Schwammen friedlich und ruhig unter dem freien Himmel davon, als könne keine Traurigkeit sie jemals erreichen. Trugen die verstorbenen Seelen sorgenfrei und mit Leichtigkeit in die Anderswelt, wo ihre Ahnen sehnsüchtig auf sie warteten. Fest umschlangen Skadis Finger Liams warme Hand, kaum dass sie seine Fingerkuppen auf ihrer Handfläche spürte. Summte noch immer unter Tränen das kleine Lied, das so viele Erinnerungen mit sich trug, dass es ihr fast die Kehle zuschnürte. Brandr in ihrem Arm, der nach Stunden endlich in ihrem Schoß eingeschlafen war. Dessen dichte Locken sie liebevoll um ihre Finger zwirbelte, während sie Eirík und Idunn beim Schlafen beobachtete. Sólveig, die lachend durch das hohe Gras des Sommers rannte und ihr aufgeregt Geschichten erzählte. Ihre Brüder, denen sie in ihren Fieberträumen jenes Lied summte und ihre kleinen Hände hielt. Ihre Mutter, die vollkommen in Gedanken versunken auf einem Eimer saß und schillernde Muster in Kleider nähte. Summende Bienen. Rauschende Baumwipfel. Fast glaube Skadi den Duft von Gräsern und Blumen wahrzunehmen, als sie tief einatmete und den Kopf zu Liam herum wandte. Augenblicklich wischte sie sich mit der freien Hand über die Augen, schluckte und zwang sich ein Lächeln auf, das augenblicklich kippte, als sie seiner Tränen gewahr wurde. Die Jägerin verstummte. Verstärkte den Druck ihrer Finger auf seiner Hand für einen Moment und ließ dann den dunklen Haarschopf gegen seine gesunde Schulter gleiten.
Er schluckte, doch das löste den Kloß in seinem Hals nicht im Geringsten. Die kleinen Lichter tanzten wie Irrwiche in der Dunkelheit zwischen den Sternen, als würden sie sie in die Ferne locken wollen, ins Ungewisse, in die Vergangenheit. Sein Kopf waren wie leergefegt, während er in die Dunkelheit starrte und das kleine Licht mit dem Blick verfolgte, welches er auf der Meeresoberfläche ausgesetzt hatte. Mit ihm segelten seine Gedanken an seine Mutter und all die, die irgendwo dort draußen waren in der Hoffnung, dass es ihnen gut ging. Außerdem galten sie Skadis Kindern, die sie viel zu früh hatte gehen lassen müssen. Als sich der Druck ihrer Finger kurzzeitig erhöhte, ahnte Liam, dass ihr nicht entgangen war, dass sie nicht die einzige war, die nicht an sich halten konnte. Er räusperte sich leise, um ihr Klagelied nicht zu unterbrechen, doch Skadi war von sich aus verstummt. Er schloss die Augen, als er ihren Schopf auf seiner Schulter spürte und hörte auf, sich gegen das zu wehren, was an Erinnerungen auf ihn niederprasselte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der die Wellen einem Metronom gleich mit einem leisen Rauschen ihre Beine umspült hatten, traf ihn die Gegenwart wieder hart ins Gesicht. Allmählich fröstelte die Nachtluft ihn mit den nassen Hosenbeinen und auch die Lichter waren bloß noch in der Ferne zu erkennen, wenn eine Welle sie hoch auf ihrer Kante trug. Mit einer sanften Bewegung seiner Hand wollte er auch Skadi zurück in die Gegenwart rufen, um ihr Andenken am Feuer fortzuführen und ihre Sachen zu trocknen. „Ich habe keinen Zweifel daran, dass du eine großartige Mutter bist.“ Seine Stimme bleib gedämpft, während sie durch das Wasser zurück zum Ufer wateten. Skadi war fürsorglich, aufopfernd und konsequent und Scortias gegenüber so liebevoll gewesen, dass er sich im Nachhinein hätte denken können, dass es nicht bloß weibliche Intuition gewesen war. „Erzählst du mir von ihnen?“ Er war ehrlich interessiert daran, forderte es allerdings nicht. Es war mehr eine Einladung, ihre Erinnerung an sie mit ihm zu teilen, wenn sie wollte. Gleichzeitig umging er damit, sich seinen eigenen Dämonen stellen zu müssen.
Vermied er mit Absicht das war in seinen Worten, die er nach ewigem Schweigen an sie richtete? In einem lichteren Moment wäre es ihr durchaus aufgefallen. Doch ihr Kopf war zu benebelt, um sich daran zu stoßen. Um es als Kompliment wahrzunehmen, das es unweigerlich gewesen sein musste. Sie schenkte ihm ein mattes Lächeln auf ihrem Rückweg und erwiderte nichts darauf. Was hätte sie wohl groß erwidern können? Dass er wohl ein genauso guter Vater sein konnte, wenn er nur wollte? Sicherlich nicht. Weniger weil es nicht stimme, sondern weil ihm diese Erkenntnis wohl wenig brachte. Schon gar nicht, wenn er offensichtlich trauerte. Vor dieser Tatsache konnte Liam nicht mehr seine Augen verschließen, weil die Nordskov bereits zu viel gesehen und davon gespürt hatte, um nicht zumindest eine Vorahnung, ein bitteres Gefühl davon zu haben. Kaum knirschte der erste Sand unter ihren Füßen, klebte ihre Hose wie eine zweite Haut an ihren Beinen. Nur widerwillig löste Skadi ihre Finger aus dem festen, aber sanften Griff ihrer Hände. Schob sich im Gehen die Hose von den Beinen, wrang sie mit voller Kraft am Feuer angekommen aus und hob den Blick zu Liam hinauf. Vielleicht tat es gut darüber zu sprechen, um den dunklen Staub vom Bild ihrer Kinder zu wischen und die Erinnerungen zurückkehren zu lassen, die so viel schöner waren als die traurige Tatsache, dass es auf ewig der Vergangenheit angehörte.
Tief seufzend überließ sie Liam für einen Moment sich selbst, während sie aus ein paar Ästen eine Trockenleine errichtete, über die sie erste ihre Hose warf und dann mit ausgestreckter Hand nach der seinen verlangte. „Brandr war womöglich ein genauso wilder Chaot wie dein Alex und mindestens ein ebenso großer Sturkopf wie seine Mutter.“ Ihr Lächeln glich einer Mischung aus Sanft- und Wehmut. Doch verlor es nicht an Leuchtkraft als sich der schmale Körper dicht am Feuer in den Sand gleiten ließ und die Knie anwinkelte. „Gott, er hätte allen ganz schön auf der Nase herumgetanzt vor Langeweile auf dem Schiff. Er war schon damals kaum zu bändigen und ständig irgendwo am Klettern und Jagen.“
Zwar war die Stille zwischen ihnen schwer, gleichsam aber auch dazu einladend, sich ein wenig mit innerem Frieden anzufreunden. Skadis Finger lösten sich aus seiner Hand, doch tatsächlich nahm er das nur beiläufig wahr. Mit einem tiefen Atemzug und seinen Gedanken beschäftigt bemerkte er erst ein paar Schritte später, dass die Nordskov innegehalten hatte, um sich ihrer nassen Hose zu entledigen. Er registrierte es, setzte sich allerdings wie von selbst wieder in Bewegung, um die letzten Meter bis zum Feuer zurückzulegen, ohne auf die Idee zu kommen, es ihr gleichzutun. Wenn es nach ihm ging, hätte er sie der Einfachheit wegen einfach an seinem Leib trocknen lassen. Aber als die Jüngere wortlos danach verlangte, leistete er Folge, ohne es in Frage zu stellen. Er hatte sie schweigend dabei beobachtet, wie sie Stöcke zusammengeklaubt und ein einfaches Gestell errichtet hatte. Einen davon hatte er sich stibitzt, um abwesend eines der Enden anzuspitzen, bis er leise das Wort erhob. Er wusste, dass sein Angebot zum Gespräch gewagt war. Tatsächlich konnte er in diesem Moment nur schwer voraussagen, ob Skadi sich darauf einlassen würde oder nicht. Diesbezüglich waren sie sich kein bisschen ähnlich. Liam war der Meinung, dass man auch über die schlechten Dinge sprechen musste. Über die Schweren, bis sie zur Normalität wurden. Nur dann hatte man sie akzeptiert wie sie waren. Als sie dann tatsächlich zu erzählen begann, breitete sich ein warmes Gefühl in seinem Inneren aus, selbst wenn der bittere Beigeschmack blieb. Doch die Bilder wurden greifbarer, lebhafter. Lebendiger. Als sie sich neben ihm niederließ, musterte er flüchtig ihre Züge, wendete sich herum und kramte die Decke aus seinem Seesack. „Vermutlich wäre er ziemlich häufig über Bord gegangen.“ Liam räusperte sich, was darauf schließen ließ, dass er wusste, wovon er sprach. Schiffe waren ein wahnsinnig aufregender Spielplatz für ein Kind. Und der Übermut ein ständiger Begleiter, der einen nicht selten in missliche Lagen brachte. Für ihn war es allerdings noch immer eine Gradwanderung. Inzwischen kannte er Skadi gut genug, um zu wissen, dass ihre Offenheit recht schnell umschlagen konnte. Beiläufig entfaltete er das zusammengeknüllte Laken und hielt ihr einladend eines der Enden hin. Seine Verletzung verhinderte, dass er es ihr um die Schultern legen konnte.
„Gegangen oder geflogen?“ Ein amüsiertes Schnauben verließ ihre Brust. Womöglich hätte ihr Sohn in Trevor einen ziemlich Nerv tötenden Spielkameraden oder vielleicht sogar ein potentielles Opfer gefunden. Schwer zu sagen, wie er jetzt, 5 Jahre älter, seine Wildheit ausgelebt hätte. Vielleicht war er auch ebenso still und schweigsam wie Enrique. Oder verträumt und stets positiv wie Liam. Das wissen wohl nur die Götter. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie die Regung des Älteren und hob den Kopf in seine Richtung. Starrte schweigend auf den Zipfel der Decke, den er ihr entgegen hielt und rückte ein paar Zentimeter heran, ehe sie ihm das Ende aus den Fingern klaubte und es sich über die Schultern legte. „Auf deine Geschichten wäre er allerdings versessen gewesen. So viel ist sicher.“
Das Lächeln auf seinen Lippen wurde wärmer und die Unruhe legte sich so langsam wie Nebel an einem feuchten Herbsttag. Es war schön, Skadi so über ihre Vergangenheit reden zu hören. Über ihre Familie, auch wenn die Sehnsucht schwer in ihrer Stimme bebte. „Bislang haben wir nicht mal Trevor von Bord geworfen.“, erinnerte er sie und legte damit einen Maßstab, den Brandr in diesem kleinen Paralelluniversum erst einmal überbieten musste. „Du hattest bestimmt deine Arbeit damit, ihn von Dummheiten und waghalsigen Abenteuern abzuhalten, hm? Wenn er so stur war wie seine Mutter, wird er sich nicht von einfachen Verboten abhalten gelassen haben.“ Er lehnte seine Schulter sanft, aber beiläufig an ihre. Sein Blick folgte noch immer den tanzenden Flammen, deren Funken in den dunklen Nachthimmel stoben. „Ich vermutlich auch auf seine.“ Er ließ den Gedanken kurz im Raum stehen, folgte ihm in Stillen und lächelte schließlich. „Nichts ist blühender als die Fantasie eines Kindes. Da werden aus Schlangen Lindwürmer und aus Fledermäusen Drachen.“
Skadi musste unweigerlich lachen, als Liam davon sprach, wie schwer es wohl gewesen sein musste, mit einer kleineren Version ihrer Selbst und dessen Wildheit klar zu kommen. Nun. Eigentlich war hier vielmehr die Frage, WER hier WEN bändigen musste. “Wenn ich nicht diejenige gewesen wäre, die ihn ständig dazu angestiftet hätte… gut möglich.“ Außerdem hatte sie für die Predigten ihren Mann gehabt, der nicht nur Brandr, sondern ebenso seiner Frau die Leviten gelesen hatte. “Oder aus Vätern große Ungeheuer, die man mit Schlamm bewerfen muss.“ Die Beziehung ihrer beiden Männer war auf so viele verschiedene Weisen kompliziert gewesen. Auch wenn ihr das Grundproblem schon immer bewusst gewesen war.
Auch das konnte er sich nur zu gut vorstellen. Wobei er keinen Zweifel daran hatte, dass Skadi ihr Kind wie eine Löwenmutter beschützt hätte. Es war so schon keine gute Idee, sich mit ihr anzulegen – ihr Kind zu bedrohen hätte einen wohl unweigerlich einen Kopf kürzer gemacht. Allmählich verstand er, woher die Verbitterung und Distanz rührte, die sie nicht allzu selten auf den Zügen trug. Doch diese Erkenntnis sickerte nicht bis auf seine Züge durch, nicht einmal in sein direktes Bewusstsein, das sich plötzlich auf einen ganz anderen Punkt konzentrieren musste, den er bis hierher nicht berücksichtigt hatte. „Also hast du ihm gleich jeglichen Respekt vor Gefahr ausgetrieben.“ So, wie er es sagte, klang es ganz gewiss nicht nach etwas Negativem. Eigentlich hätte es ihm peinlich sein müssen, dass Skadi ihn so offensichtlich darauf stoßen musste. Sie hatte nicht bloß ein Kind verloren, sie hatte auch den Mann verloren, mit dem sie diese Familie gegründet hatte. Skadi war keine Frau, die sich dem erstbesten hingab. So freizügig sie sich auch meistens gab – Liam schätzte sie so ein, dass ihre Liebe aufrichtig war. Jedem gegenüber, der es verdiente. Und daran war sie gebrochen. „Du hast also deinen Sohn vorgeschickt?“, hob er die moralische Verwerflichkeit gespielt ernst hervor und schielte zu ihr hinüber. „Dieses Ungeheuer konnte einem ja nur leid tun, wenn ihr es gemeinsam mit Schlamm gebadet habt.“
Ihr Blick glitt bei seinen Worten zurück ins Feuer, an dem sich die dunklen Augen festhielten, um nicht tiefer über die Bedeutung dahinter nachzudenken. Denn so gesehen hatte sie ihrem Kind den natürlichen Fluchtreflex aberzogen, der für das Überleben in der Wildnis wichtig war. Doch so lebte man nun einmal in ihrem Dorf. Hatte es zumindest damals. Besser war man auf die Gefahren vorbereitet und konnte ihnen ohne Angst entgegen treten, als sich überall zu verstecken. Und Mut konnte durchaus auch Türen öffnen. Oder ein Kind davor bewahren im Brunnen ertränkt zu werden. „Nun… er kannte seine Grenzen. Das war mir immer wichtig. Dass er weiß, wer er ist und was er kann. Es gab schon genug Menschen, die ihn für seine Existenz aufgezogen haben.“ Würde sie jetzt wirklich so weit gehen, ihm auch noch von diesem Geheimnis zu erzählen? Für einen Moment zog sich ihre Kehle zusammen. Nur gut, dass Liam augenblicklich das Thema wechselte und ihr einen kurzweilig spitzbübischen Ausdruck auf die Züge legte. „Tja. Wofür hat man seine Familie denn sonst? Rangeln ist doch irgendwie auch eine Art Liebesbeweis oder?“ Mit einer Drehung des Kopfes lugte die Jägerin zu ihm zurück und schmunzelte. “Ging dir mit deinem Vater doch nicht anders oder? Und es gab doch bestimmt auch Dinge, die du…“ Kurz hielt sie inne, kaute für einen Moment auf ihrer Unterlippe. „Nun… die du nicht tun durftest und sie doch gemacht hast, weil deine Mutter dir wichtig war.“
Das letzte, was er gewollt hatte, war, ihr Zweifel an ihrer Art der Erziehung einzureden. Seine Abenteuerlust überwog auch nicht selten seinen Sinn für Gefahren – selbst wenn sie vorerst vermutlich einen deftigen Dämpfer verpasst bekommen hatte. Zum Glück kam er gar nicht auf den Gedanken, dass man seine Worte auch anders hätte verstehen können. Nicht zuletzt wahrscheinlich, weil Skadi ihn mittlerweile gut genug kennen musste, um zu wissen, dass ‚Verbote‘ für ihn kaum mehr als ein Rat waren, etwas nicht zu tun. Was genau sie allerdings damit meinte, dass man ihren Sohn seiner Existenz wegen aufgezogen hatte, erschloss sich ihm nicht. Er dachte im Gespräch allerdings auch nicht daran, danach zu fragen und einen Augenblick später war es für den Moment vergessen. Er wog zustimmend den Kopf von einer zur anderen Seite. Zu einer guten zwischenmenschlichen Beziehung gehörte es definitiv dazu, sich auch einmal aufzuziehen, sich Streiche zu spielen. Daran hatte er absolut nichts auszusetzen. Er lauschte auf, als sie die Frage indirekt zurück gab. „Du willst wissen, ob meine Mutter mich auch gegen meinen Vater eingesetzt hat?“, fragte er ehrlich schmunzelnd und blickte schließlich einige Herzschläge lang nachdenklich ins Feuer, ehe er weiterredete. „… Ich glaube, sie ist ziemlich häufig an uns verzweifelt.“ Das war seine ehrliche Einschätzung. „Ihr war es nicht ganz unwichtig, was die anderen Familien über unsere dachten. Wir waren dabei nicht immer unbedingt zuträglich. Die anderen Kinder mussten nämlich eher Etikette lernen, statt sich gegen Schlammmonster zu verteidigen.“ Vielsagend wandte er den Blick vom Feuer ab und sah zu ihr hinüber. Es war selbstredend, dass seine Faszination eher letzterem gegolten hatte. „Letztlich… Egal, wie wichtig ihr das Ansehen der anderen war. Am Ende war es ihr immer wichtiger, dass wir glücklich waren. Auch wenn es bedeutete, mich wiedermal aus einem Baum zu pflücken.“
Sie nickte knapp auf seine Frage. Beobachtete ihn aufmerksam, während er erzählte und zog erneut ihre Beine dicht an ihren Körper. In einer flüssigen Bewegung schlang sie beide Arme um ihre Oberschenkel und bettet ihr Gesicht seitlich auf die Knie. Schmunzelte für einen Moment und atmete tief ein und aus. Allmählich nahm der Druck auf ihrer Brust ab und blieb nur noch als ein wildes Klopfen zurück. „Stammte deine Mutter denn aus adligeren Kreisen, dass ihr die Ansichten anderer nicht vollkommen egal waren?“ Tatsächliche Neugierde spiegelte sich in den Augen der Nordskov, die solche Verhaltensweisen überhaupt nicht aus ihrer Heimat gewohnt war. Es gab durchaus Hierarchien und ganz sicher war niemand vor Spitzfindigkeiten oder Eitelkeiten gefeit.
Es war schön, sie trotz ihres Gesprächsthemas lächeln zu sehen. Ihm fiel es einfacher als ihr über die Vergangenheit zu sprechen. Er lebte in der Gegenwart, vielleicht sogar zum Teil mehr in der Zukunft, als dass er an den Dingen festhielt, die unabänderbar zurücklagen. Natürlich vermisste er sie – welcher Junge vermisste seine Mutter nicht? – aber er dachte gern an das zurück was war. Jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, als sie angefangen hatte, zu leiden. „Mittelschicht.“, korrigierte er mit einem Lächeln, den Blick noch immer ins Feuer gerichtet, weil das Flackern einen beruhigenden Eindruck auf ihn machte. „Adel wäre etwas zu hoch gegriffen. Wir waren also unbekannt genug, dass man sich unseren Namen nicht gemerkt hat, aber wichtig genug, dass vermutlich jede meiner neuen Schrammen in aller Munde war.“ Seine Mundwinkel zuckten amüsiert, als er daran zurück dachte, wie oft er mit Schürfwunden oder blauen Flecken übersät gewesen war. Er war sich für nichts zu schade gewesen. Für keinen Dornenbusch und auch keinen Sturz von einer Mauer oder Baum. „Sie hatte sehr viel Gefallen an den Gesellschaften, tanzte für ihr Leben gern. Nachdem sie krank wurde, hat mein Vater die kleinen Feierlichkeiten nach Hause gebracht so gut er konnte. Nur für uns drei eben.“ Mit einem gutgemeinten ‚Festmahl‘, bei dem sie beide nicht selten ausgesehen hatten wie Urmenschen. Und selbstgespielter Musik, während der kleine Liam sie seinen Fähigkeiten entsprechend durch die Wohnstube hatte führen dürfen.