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Say goodbye to yesterday
Crewmitglied der Sphinx
für 0 Gold gesucht
dabei seit Feb 2016
#3
Er schnaubte ungläubig. In diesem Unglauben war er sich ausnahmsweise sogar recht sicher. Nicht bloß seine Stimmung litt unter den anhaltenden Schmerzen in seinem Oberarm, sondern auch sein Appetit hatte sich ziemlich heruntergefahren. Da fiel ein weiterer Apfel mehr oder weniger ganz gewiss nicht ins Gewicht. Gerade, als er sich wieder erheben wollte, kam sie ihm zuvor. Er sah auf und erwischte sich dabei, erstmals zu zögern, ihre dargereichte Hand anzunehmen. Nichts Persönliches, sondern viel mehr ein Teil seines Unwillens, seine Einschränkung derzeit wahrhaben zu wollen. Und das, obwohl er keine Sekunde glaubte – oder glauben wollte - , dass Skadi ihm deshalb die Hand reichte. Einige Sekunden später erst nahm er also die dargebotene Hand entgegen, um aufzubrechen. „Du darfst dich gerne weiter ausruhen. Ich war es doch, der dir so großspurig einen Bratapfel angeboten hat.“ Außerdem hatte sie ein wenig Erholung ebenso notwendig wie sie alle. Er machte allerdings keine Anstalten, sie wirklich davon abhalten zu wollen, ihn bis zum Waldrand zu begleiten.
„Ts. Wenn du allein in den Wald läufst, werde ich alles anderes als hier ruhig sitzen bleiben können.“ Nichts gegen Liam, aber sie hatte definitiv keine Lust irgendwann auf Rettungssuche zu gehen, wenn er nicht wiederkam. Obendrein erschwerte ihm seine Schulter wohl so oder so die Suche nach was auch immer er im Begriff war in den Wald zu verschwinden. Denn viel darüber nachgedacht hatte die Nordskov nicht. War viel zu sehr darauf fixiert, ihn nicht aus den Augen zu lassen. „Und ganz ehrlich... mit der bist du leider mehr denkende, als ausführende Kraft.“ Mit einem Nicken deutete sie auf seine Schulter und verzog die Lippen. Weil ihr klar war, dass sie gerade wie die Axt im Wald auf ihn niedergerauscht war. Weniger um ihn damit zu verletzten, sondern viel mehr um ihn irgendwie vor seiner eigenen Dummheit zu schützen und auf den Boden der Realität herunter zu holen. „Ich verarzte dich gern Liam... aber ich fänds doch schöner, wenn das mehr nen Spiel als Wirklichkeit ist.“ Schon setzte sie ein verschmitztes Grinsen auf. Schenkte ihm ein vielsagendes Zwinkern und trat an ihm vorbei in Richtung Unterholz.
Im Schatten des Feuers waren die Falten, die sich langsam auf seine Stirn legten, unauffällig. Er hatte nur vor, nach einem Stock zu gucken, wie ihn normalerweise jeder Allerweltsbaum abwarf, nicht die Jagd auf einen Säbelzahntiger. Doch Skadi klang so unnachgiebig, dass er es nicht wagte, sie davon zu unterrichten. Erst, als ihre mütterliche Ausführung tatsächlich persönlicher wurde, zog er die Luft etwas schärfer ein. Ob er es jetzt herunterspielte oder Skadi den Zustand seines Armes aufbauschte – vermutlich lag die Wahrheit irgendwo in der Mitte. „Es geht schon.“, erwiderte er etwas zerknirscht und schnaufte. „Er ist noch dran und versichert mir das fast den ganzen Tag sehr ausdauernd. Mit einem Ast sollte ich also gerade noch so fertig werden.“ Bei allem Gefährlicheren würde Skadi nämlich wohl oder übel Recht behalten. Doch kaum, dass der erste Trotz aus seinen Gedanken verflogen war, dämmerte ihm, woher ihr übervorsichtiges Verhalten rührte. Er schluckte trocken und rang sich bei ihrer Bemerkung zu einem Schmunzeln durch. Und so gerne er auch darauf angesprungen wäre – ihm wurde wieder bewusst, wie oberflächlich ihr gut gelauntes Geplänkel war. Es ging ihnen nicht gut. Egal, wie sehr sie sich gegenseitig davon überzeugen wollten. Egal, wie sehr sie sich gemeinsam davon überzeugen wollten. Scortias‘ Tod hing ihr mehr nach, als er bisweilen geglaubt hatte. Jedenfalls hätte das ihre Fürsorge gut erklärt. „Was muss ich tun, damit du mir glaubst, dass alles gut ist?“, hing er verschmitzt hinten dran, während er aufschloss und von der Seite her zu ihr hinüberspähte. Vielleicht war das wirklich die beste Möglichkeit, sie ein wenig von ihren Sorgen abzulenken. Und die Tonlage, die zwischen den Zeilen verriet, dass er darauf anspielte, dass es ihm gut genug für derlei Dinge ging, traf er – seiner Meinung nach – eigentlich recht gut.
Skadi seufzte. Tiefer als beabsichtig und konnte nicht einmal mehr das Augenrollen zurückhalten. Musste einem der Arm vielleicht noch abfallen, damit MANN einsah, dass nen Schuss in die Schulter nichts war, was man als Schürfwunde verbuchen konnte? Und nein. Es tat auch nichts zur Sache, dass sie selbst alles dafür getan hätte, weiterzumachen wie bisher, hätte die Kugel ihre eigene Schulter getroffen. Sie wäre ja schließlich nicht sterbenskrank. DAS hätte sie ihm womöglich geantwortet, wenn sie hier auf der jeweils anderen Seite gestanden hätten. Doch sie war nahezu unverletzt aus der Aktion heraus gekommen, im Gegensatz zu ihm. Pech gehabt. „Aufhören so zu tun, als wäre es das, wäre nen Anfang.“, kam es ihr fast patzig über die Lippen, als hätte sie den Tonfall des Lockenkopfes vollkommen ignoriert. „Es ändert zwar nichts an deiner Situation, aber dann komm ich mir nicht so dämlich vor, weil ich genau weiß, dass es nicht so ist.“ Mit jedem ihrer Worte wurde sie leiser. Ihre Schritte langsamer. Dann blieb sie stehen. Den Blick starr in die Dunkelheit vor sich gerichtet. Und einem Schwall Tränen im Gesicht. Woher zum Henker kam das? Wer drehte da ungefragt ein Ventil auf, das sie mit tausend Ketten verschlossen hielt? Vorhin hatte doch vollkommen gereicht, was zur Hölle sollte das jetzt also? Sie war kaputt. Einfach nur am Ende.
Sein Plan ging nach hinten los und statt Skadi in eine Position zu schieben, in der sie nahezu alles von ihm hätte verlangen können, schien sie sich in der Rolle der bemutternden Glucke weitaus wohler zu fühlen. Liam seufzte tonlos, während sie ihm abermals vorzuschreiben versuchte, wie es ihm zu gehen hatte. Er litt nicht. Nicht körperlich. Nicht derart jedenfalls, dass er es wirklich als Einschränkung gesehen hätte. Nicht in Anbetracht dessen, dass er im Augenblick nicht mal einen Stift gerade über Papier führen konnte. Aber das wusste sie nicht. Und er würde einen Teufel tun und ihr von Sorgen geplagtes Herz heute oder die nächsten Tage damit belasten. Vermutlich hatte es sich ohnehin bald erledigt und war kaum der Rede wert. Er stellte sich darauf ein, dass ihr Vortrag noch nicht zuende war – dementsprechend überrascht nahm er zur Kenntnis, dass ihr unnachgiebiger Ton wie ihre Schritte an Kraft verloren und sie schließlich stehen blieb. Wenn sie vorhatte, ihn damit zu verunsichern, hatte sie Erfolg. Liam zögerte, wartete, dass sie weiterlief, doch sie regte sich nicht. Erwartete sie eine Antwort von ihm? Er hatte nichts zu entgegnen – nichts, was sie zufriedenstellen würde jedenfalls. Dementsprechend setzte er sich wieder in Bewegung, schwieg und bemerkte erst, als er sie passiert hatte, dass sie nicht da stand, weil sie etwas erwartete. Sondern weil sie überfordert war. Mit sich, mit alledem. Der kindliche Trotz, der sich in seinem Inneren aufgebaut hatte, verpuffte. Und Bratapfel samt Stock waren vergessen. „Du meinst, ich soll ehrlicher zu mir selbst sein, als du es zu dir bist?“, fragte er abwartend, ohne sie anzusehen. Nicht, weil er den Anblick nicht ertragen hätte, doch er ahnte, dass Skadi es nicht gut ertrug, so gesehen zu werden. Ihm reichte allein der Gedanke, dass sie dastand, weinte und es sich gleichzeitig selbst nicht erlaubte. Weinen war kein Zeichen von Schwäche. Es nicht zulassen zu können, war es. Mit einem Ruck wandte er sich herum und schloss sie einer Puppe gleich in die Arme, senkte den Kopf, sodass seine Lippen auf der Höhe ihrer Ohren waren. Es gab vieles, was er ihr sagen wollte. Und doch entschied er sich letztlich dazu, zu schweigen. Es passieren zu lassen, unkommentiert. Weil nichts dabei und Weinen selbstverständlich war.
„Ach… halt die Klappe.“ Die Hände hingen nun mehr zu Fäusten geballt neben ihrem Körper. Sie war wütend auf sich, weil sie schon wieder die Kontrolle verlor. Wütend auf Liam, weil er das aussprach, was sie sich selbst wohl schon gedacht, es nur nicht laut ausgesprochen hatte. Ja ja. Sie war selbst nicht besser als er. Danke. Damit konnte sie jetzt wirklich viel anfangen. Gott. Sie hatte keine Lust mehr. Gerade fühlte sie sich, als wäre es einfach an der Zeit, dass sich ein Loch in der Erde auftat und sie verschluckte. Sang und klanglos. Das wäre doch ehrlich mal nen Fortschritt. Oder? Doch das würde wohl oder übel eine Wunschvorstellung bleiben. Weil da nichts außer gähnender Leere vor ihr war und einem knisternden Feuer in ihrem Rücken. Und Liam, der sie nicht einmal ansah. Aus was für irrationalen Gründen auch immer. Der dazu überging sie in die Arme zu nehmen. So gut er zumindest konnte. Immer noch stocksteif verkeilte sich ein dicker Kloß in ihrem Hals, den sie weder beim ersten, noch beim Zweiten Schlucken herunter zwingen konnte. „Scheiße.“, murmelte die Nordskov leise und bekam kaum mehr Luft. Sie hatte doch alles so gut verdrängen können in den letzten Tagen. Sich von den anderen abgekapselt, um mit sich ins Reine zu kommen und die Wunden mit einem Heftpflaster zu verschließen. Wieso musste sie es sich jetzt mit voller Kraft schmerzhaft von der Haut reißen? „Ich werde diese Bilder nicht los… Ich… egal was ich tue. Sie sind immer wieder da. Ich werde noch wahnsinnig.“ Zum ersten Mal nannte sie ihre Dämonen beim Namen. Dieser Bilder. Diese Erinnerungen, die Scortias lebloser Körper in ihr wach gerufen hatte. Alles schwappte mit jedem Schwall Tränen an die Oberfläche und brachte ihren Körper zum Zittern.
Weil er Recht hatte und Skadi es ganz genau wusste. Im Augenblick hätte er aber gut und gerne darauf verzichten können. Wie es schien, war er besser darauf programmiert, die üblen Dinge in der Welt ein wenig besser zu reden. Und er war diesbezüglich leichtgläubig genug, sich selbst zu glauben, während Skadi dazu neigte, Dinge zu zerdenken. Selbst, wenn es nicht in ihrer Macht lag, etwas an ihnen zu ändern. Auch jetzt schien sie wie erwartet mehr gegen sich selbst zu kämpfen, statt es einfach geschehen zu lassen, sich auszuweinen und sich danach geringfügig besser zu fühlen. Der Lockenschopf seufzte innerlich. Bei einem Kampf gegen sie selbst konnte er nur wenig ausrichten. Sie war stur. Gerade im Bezug auf das, was so selbstverständlich sein sollte - Emotionen. Er vernahm das Zittern ihres Körpers und war entschlossen, ihn erst loszulassen, wenn sie Anstalten machte, der Nähe wirklich entkommen zu wollen. Mit Worten konnte er ohnehin nichts ausrichten. „Scortias.“, murmelte er schließlich den Gedanken, der ihm vor ein paar Minuten bereits gekommen war. Dass es tiefer ging, konnte er nicht ahnen. Er seufzte schwer bei der Erinnerung an den toten Jungen. Kinder sollten nicht bestattet werden müssen. „Er kann nun wieder gemeinsam mit Feuerbart durch die achte Welt segeln. Wie früher. Das hätte ihn bestimmt gefreut.“, flüsterte er, die Augen geschlossen und ihren Schmerz erahnend. Sie hatte einen guten Draht zu ihm gehabt.
Das abfällige Schnauben war bereits heraus, noch ehe Skadi sich zurück halten konnte, als Liam diesen einen Namen aussprach, der Grund für all das hier war. Ganz gleich wie wenig das Ausmaß der Katastrophe vorhersehbar gewesen war. Dieser vermaledeite Dreckskerl trug jegliche Schuld daran, dass sie sich mit Enrique in diesem Teufelsspirale befand und jetzt auch noch den Tod eines Jungen verarbeiten musste, der… Sie schluckte erneut unter dem Gedanken. Ließ die Stirn gegen Liams Schulter gleiten und presste die Lippen fest aufeinander. Es brachte nichts ihrem Körper zu befehlen endlich mit diesem scheiß Geheule aufzuhören. Ganz gleich, wie wenig es die Toten zurück brachte oder ihre Gefühle besserte. Und ja. Es änderte Gott verdammt noch einmal nichts daran, dass Scortias nur der Stein war, der die Bilder ihrer Vergangenheit ins Rollen brachte. Doch sie hatte keine Kontrolle mehr darüber, was ihr Körper tat, der unaufhörlich, wenn auch stillschweigend Tränen über ihre Lider sandte. Als wären sie verdammte, kleine Hilfeschreie. „Feuerbart. Ich kann mir besseres für Scortias vorstellen als das.“ Liam konnte hören wie bitter diese Worte waren, die sie gegen sein Hemd hauchte. Wie viel Wut darin steckte, die sich immer mehr in den Fäusten entlud, die allmählich zu zittern begannen. „Er hätte mein Sohn sein können, Liam.“ Diese Erkenntnis ergoss sich in einem Schwall Tränen in seinem Leinenhemd. Nun war es Skadi die sich nicht wagte, auch nur den Blick zu heben. Die sich lieber mit geschlossenen Augen gegen ihn lehnte und tief Luft holte.
Er wusste, dass Skadi Feuerbart als Sündenbock sah. Als Grund für ihr zerrüttetes Verhältnis zu dem einzigen Menschen, den sie auf diesem Schiff länger kannte als ein paar Wochen. Dass ihre Abneigung dem Toten gegenüber allerdings so tief saß, dass er selbst jetzt noch ihre Wut heraufbeschwor, ahnte er nicht. Wie auch als Mensch, der die meisten Leute kommen und gehen ließ und nicht nachvollziehen konnte, was wirkliche Abscheu eigentlich überhaupt bedeutete. Sein Griff um Skadi lockerte sich etwas, als sie sich schließlich doch der Situation hinzugeben schien. Mit Sorge im Gesicht streifte sein Blick ihre verschlossene Miene und all die Tränen, die sich unaufhaltsam ihr Gesicht hinabkämpften und im Stoff seines Hemdes ihr Ende fanden. Seine Mundwinkel zuckten freudlos ob ihrer Bemerkung. Und obwohl er ihr innerlich zustimmte, oblag es nicht ihnen, darüber zu urteilen. „Er war sein Held.“, erinnerte er sie mit leiser Stimme, wohlwissend, dass sie das weder hören noch nachvollziehen konnte. Und schließlich jagten ihre Worte ihm einen dunklen Schatten ins Gesicht, ein Runzeln auf die Stirn und Ratlosigkeit in die Gedanken. So wahr ihre Worte auch waren, er konnte ihren Gedankengang nicht nachvollziehen. Natürlich hätte er es sein können. Aber er war es nicht gewesen. Es machte seinen Tod nicht weniger bedauernswert, aber wozu etwas anderes aus ihm machen als er war? „Aspen hätte auch mein Bruder sein können, aber er war es nicht.“ Vorsichtig und unsicher zugleich verließen diese Worte seine Lippen und zeugten davon, dass er ihren Gedankengang nicht nachvollziehen konnte. Es lag ihm fern, sie zu beleidigen. Er war bereit, es erklärt zu bekommen, aber gerade konnte er mit dieser Aussage nicht mehr anfangen, als es als irrational abzustempeln. Und wenn Skadi begann, sich in derart irrationalen Paralellwelten aufzuhalten, musste er sich schleunigst etwas einfallen lassen, um sie zurück in die Realität zu begleiten.
Er war sein Held und sein Untergang. Wie grauenhaft sowas doch Hand in Hand gehen konnte, nicht wahr? Skadis Lippen durchfuhr ein Zucken. Nur kurz und fast schon bedeutungslos. Natürlich verstand Liam nicht, was sie da sagte. Dafür hätte er einen Blick in ihre Gedanken werfen oder ihre Geschichte kennen müssen, um zu verstehen, dass dieses lose Konstrukt tiefer wurzelte, als eine reine Fantasie. War sie so weit, es ihm einfach zu sagen? Wenn sie ihre körperliche Verfassung in Betracht zog, war es dafür längst zu spät. Nicht wahr? Allmählich löste sich der Krampf in ihren Händen und ließ Luft an die roten Stellen, in denen eben noch ihre Fingernägel unerbittlich ins Fleisch gedrückt hatten. „Weil du keinen Bruder wie ihn hattest. Das ist der Unterschied.“ Die Tränen verebbten. So schlagartig wie sie gekommen waren. Der Körper der Nordskov stand wie im Auge des Sturms ruhig an Liams Seite. Noch immer hielt sie den Blick in den rau gewebten Stoff seines Hemdes gesenkt. Hob unter mehreren tiefen Atemzügen die Hand an Liams Bauch und bettete die langen Finger gegen die angenehme Wärme, die er ausstrahlte.
Nach außen hin wirkte er ruhig und bedacht, obwohl er innerlich unheimlich aufgewühlt und überfordert war. Er war kein Mensch, der den Dingen lange nachhing. Klar, man grübelte, man hatte schlaflose Nächte, aber in seinem Fall wusste er, dass es sich irgendwann erledigt hatte. Er kannte diese Art Verzweiflung nicht, die Skadi heimsuchte und damit auch kein greifbares Gegenmittel, um aus dem Sturm einen lausigen Regentag zu machen. Der Schatten blieb auf seinen Zügen, lauschte Liam gleich ihrer Erklärung, die ebenso wenig Sinn ergab wie ihre Bemerkung zuvor. Auf Anhieb jedenfalls nicht, doch die Erkenntnis sickerte langsam, aber stätig durch das unbewusste Unwollen, die Nachricht so einfach zu entschlüsseln, wie sie ihm dargeboten wurde. „Ich verstehe nicht.“, sagte er so langsam, dass seine Miene indes Zeit hatte, die Erkenntnis zu verdauen und nach Außen zu tragen. Das Unbehagen in seinem Inneren knäulte sich zusammen und ließ sich in seinem Magen nieder wie ein Fels, der haltlos von einer Klippe in die tosenden Wellen des Meeres brach. „Scheiße.“ Liam schloss die Augen, wagte es kaum zu atmen, während der Erkenntnis folgend all die Eindrücke auf ihn niederprasselten, die er bislang entweder übersehen hatte oder nicht hatte sehen wollen. All die Dinge, die ihm jetzt klarer wurden und die die Tür auf all die Schmerzen und Verzweiflung, die Skadi heimsuchen musste, noch weiter aufstieß. Ihm war schlecht. Schlecht aus Mitgefühl, aus Sorge und aus der Hilflosigkeit heraus. Er wollte sie nicht leiden sehen. Aber er war nicht imstande, ihr irgendetwas abzunehmen. Er war nicht einmal imstande, es mit ihr gemeinsam zu tragen. „Scheiße.“, wiederholte er, während sich seine Finger in die lockige Mähne ihres Hinterkopfs gruben. „Ich wusste nicht…“, murmelte er, aber es war nicht an der Zeit für Entschuldigungen. „Es tut mir so leid, Skadi.“ Eine Floskel, ja. Aber Liam konnte nichts dafür, dass sie für die meisten bedeutungslos geworden war. Es tat ihm leid. Es tat ihm unendlich leid.
Die Zeit verstrich, in der die Stille jede seiner Fragen beantwortete, die wortlos zwischen ihnen schwebte. Bis er verstand. Bis sein Atem flacher und stoßweise gegen ihre Schläfe traf. Doch Skadi fühlte nichts mehr in jenem Moment. Schien wie taub für seine Reaktion. Sie fühlte den Griff seiner Hand, ohne die Wärme seiner Fingerkuppen zu spüren. Nahm jede Regung seiner Bauchmuskeln unter ihrer Linken war und starrte doch apathisch gegen seine Schulter. „Woher solltest du es auch wissen. Niemand weiß das. Und die einzigen, die es wussten… die gibt es schon lange nicht mehr.“ Immer fester verkeilte sich der Kloß in ihrem Hals. Kälte schoss in ihre Finger, wenngleich die Nacht angenehm warm und wohlig war. „Ich dachte eigentlich, dass ich nach all den Jahren damit abgeschlossen hätte.“ Ein schiefes, kaputtes Lächeln schob sich auf die vollen Lippen und kippte jäh schmerzhaft zur Seite. „Da habe ich mich wohl geirrt, was?“ Und wem hätte sie es wohl sagen sollen? Enrique, der mit sich selbst schon genug zu kämpfen hatte? Allein seine Reaktion am Strand, an der sie ihm nur einen Teil ihrer Geschichte erzählt und sich ihm geöffnet hatte, war ausreichend gewesen, um seine Gefühle vollkommen außer Kontrolle geraten zu lassen. Dabei musste er sich auf das einzig Wichtige in seinem Leben fokussieren. Auf das, was für Skadi selbst die eine bedeutende Sache in ihrem Leben gewesen wäre. „Ich vermisse sie… so sehr.“ Die Tränen kehrten zurück. Und mit ihnen das plötzliche Zittern, das sich von ihrer Brust, bis zu ihren Fingern ausbreitete, die sich Hilfe suchend in Liams Hemd verkeilten.
Und er hatte die ganze Zeit geglaubt, dass sie ihre Scharade hinter sich hatte. Dass sie sein konnte, wer sie war, ohne die Dinge in sich reinfressen zu müssen. Er kam sich so dumm vor. Dumm, weil er naiv geglaubt hatte, sie hätte es tatsächlich geschafft, die Geister hinter sich zu lassen und so stark zu sein, wie kein anderer, den er kannte. Dumm, weil *er* sich *allein* vorkam, wie lächerlich. Er wusste, wie es war, einen Teil seiner Familie zu verlieren. Er wusste, wie es war, sie auf dem Weg ins Verderben zu begleiten, ohne ihnen helfen zu können. Aber er kannte auch die Angst, die seinem Vater so oft im Gesicht gestanden hatte. Keine Angst um sich selbst, sondern die Angst, sein eigenes Kind zu verlieren. Ein Verlust, der schwerer wiegen musste als alles andere. Und er bezweifelte, dass es einen Zeitpunkt gab, an dem man wirklich damit ‚abgeschlossen‘ hatte. Man lernte, damit umzugehen. Ein Teil blieb es allerdings ein Leben lang. „Das wird sich auch niemals ändern.“, flüsterte er ehrlich und blinzelte die Feuchtigkeit aus seinen eigenen Augen. Er schluckte schwer und gab sich schließlich einen Ruck, löste die Hände von ihr und suchte nach ihren Fingern, die sich im Stoff seines Hemdes verkeilten. „Komm. Ich will dir etwas zeigen.“ Seine Stimme blieb leise, während er ihre Hände sanft aus seinem Hemd löste und ihnen stattdessen seine eigenen Hände als Stütze bot, wobei der Griff seiner Rechten deutlich schwächer war als links. Auch, wenn es nicht viel war, war es zumindest einen Versuch wert. Eigentlich hatte er es allein machen wollen, war auch deshalb aufgebrochen. Aber vielleicht brachte es Skadi zumindest ein bisschen Seelenheil. Vergessen war der Bratapfel für den Moment, während Liam sie langsam wieder durch den Sand zurück zu seinem kleinen Lager führte.
Nein. Nichts in dieser Welt würde sie jemals von diesem Gefühl befreien, dass sich in ihrem Brustkorb eingenistet hatte. Doch es würde vielleicht Tage geben, an denen sich der Verlust weniger wie eine drückende Einsamkeit anfühlte und sie in der Lage war die schönen Erinnerungen zu erhalten, die sie mit ihren Kindern verband. Tage die eigentlich alle Schatten überstrahlten konnten, wenn sie es nur zuließ. Wenn. Zukunftsmusik, die sie dumpf aus der Ferne wahrnahm und die nichts weiter war als ein monotones Brummen. Wie lange standen sie hier eigentlich schon? Welchen Tag hatten sie heute? Wo waren sie eigentlich? Orientierungslos hob Skadi den Blick als sich Liams Wärme in Luft auslöste und sich ihr Körper an jenen Stellen eiskalt anfühlte, an denen zuvor seine warmen Hände gewesen waren. Der kratzige Ton seiner Stimme hinterließ ein unangenehmes Kribbeln auf ihren Nervenenden. Verstärkte sich, als sie das Schimmern in seinen Augen sah, kaum dass er sich herum wandte und ihre Hand von seinem Hemd löste. Nur um es daraufhin gleich fest in die eigenen zu schließen und sie einer Puppe gleich zurück zum Feuer zu bringen. Wortlos ließ sich Skadi führen. Fühlte die Bitterkeit, die in ihrem Magen den ersten Keim von Übelkeit pflanzte. Sie wusste nicht, was jetzt passieren würde. Und sie hatte diese irrationale Angst, dass es weitaus schlimmer werden konnte. So hatte sie den Lockenkopf noch nie gesehen.
Der plötzliche Tatendrang dank seines kleinen Hoffnungsschimmers linderte die Hoffnungslosigkeit für den Moment, gaben ihm wieder einen Kurs und die Entschlossenheit und Sicherheit, die er üblicherweise sein Eigen nannte. Und trotzdem blieb er bedrückt und überwältigt von dem, was sie ihm gerade offenbart hatte. Spielte es eine so große Rolle, dass sie Mutter war? Menschlich nicht. Absolut nicht, denn er konnte sie sich ziemlich gut als Mutter vorstellen. In ihrer aktuellen Lage aber war es nichts Gutes. Nicht für ihr Gemüt jedenfalls, das sich haltlos zurück in den Strudel der Vergangenheit ziehen ließ. Er schwieg, bis sie am Feuer angekommen waren und ließ mit einem kurzen, instensiven Blick von ihren Händen ab, ehe er sich zu seinem Seesack beugte. Es dauerte nicht lange, bis er gefunden hatte, was er suchte, sich in den Sand gleiten ließ und das Papier und Kerzen vor sich ausbreitete. „Ich hatte tatsächlich nicht nur vor, hier zu sitzen und Rum zu trinken.“, gestand er mit einem Blick hinauf zur Nordskov und überlegte, wie er fortfahren sollte. „Es ist nicht nur Scortias, den wir verloren haben. Aspen und Taranis haben im Grunde genauso verdient, dass wir sie verabschieden.“ Ungewohnt grobmotorisch faltete er das erste Papier zusammen. Man sah seinen Zügen das Missfallen an, aber er hatte nun keine Zeit dafür. „Ich wollte ihnen wenigstens eine kleine Ehre erweisen. Ein kleines Licht.“ Letztlich hielt er das erste kleine Papierschiff in der Hand, auf dessen Mitte Platz war, um eine kleine Kerze darauf zu platzieren. „Für all die Verlorenen.“ Der letzte Teil seiner Worte verhallte bedeutungsschwer in der nächtlichen Meerespriese. Nicht nur für Aspen und Taranis. Für Feuerbart und Scortias oder Sylas, der nicht mehr aufgetaucht war. Für seinen Großvater und seine Mutter, die ihrem Fluch zum Opfer gefallen waren. Für seinen Vater, der irgendwo dort draußen war und von dem er hoffte, dass es ihm gut ging. Lubaya, die ihre Rückkehr zu ihrer Familie hoffentlich genoß und Alex, der mit seiner Schwester den schönsten Tag ihres Lebens feierte. Und für Skadis Familie, ihre Heimat. Ihre Kinder. Für all die, die nicht mehr hier sein konnten, obwohl sie es wollten. Für all die, bei denen sie nicht sein konnten, obwohl sie es wollten.
Wie angewurzelt stand sie im weichen Sand des Strandes und beobachtete jede seiner Bewegungen, die unter den Tränen verschwommen und unwirklich schienen. Verfolgte den Versuch seine Hände das helle Papier zu einem kleinen Schiffchen zu formen und schluckte schwer unter der Erklärung, die er ihr vor die Füße legte, wie ein zerbrechliches Werk aus Glas. Und Skadi begriff. Lächelte unter dem Schwall an Tränen, der ihre Wangen hinab perlte. Presste die Lippen wie so oft an diesem Abend fest aufeinander, um mit verschränkten Armen das Beben zu unterdrücken, das sich jäh durch ihre Muskeln bahnen wollte. Es erschien ihr in jenem Moment unbegreiflich, wieso er das tat. Wieso es noch irgendeinen Menschen wie ihn gab, der zu solch einer Geste fähig war. Sie schluchzte. Schluckte den Schmerz in ihre Brust zurück und ließ sich mit den Knien voran in den Sand vor ihm sinken. Wischte sich mit dem Handrücken über die feuchten Augenlider und griff fast blind nach dem Papier auf der anderen Seite. „Die Welt hat dich nicht verdient.“, murmelte sie leise. Hielt inmitten der ersten Pfalz inne und sah mit einem Lächeln und Tränen in den Augen zu ihm hinauf. Überwältig von ihren eigenen Gefühlen, der Liebe dieses Vorhabens. Der Dankbarkeit. Der Hoffnung, die Liam immer wieder ausstrahlte und die sie mehr als einmal davon abgehalten hatte, ihre harte Schale für andere zu verschließen.
Es brachte ihm zumindest ein wenig Fassung zurück, mit den Händen zu arbeiten. Das Glänzen in seinen Augen ebbte etwas ab, als er sich beiläufig mit dem halbfertigen Papierschiff in den Fingern mit dem Handrücken über die Wange fuhr. Er spürte Skadis Blick auf sich, die reglos neben ihm stand und zu verstehen versuchte, was er da tat. Ein trauriges Lächeln galt ihr, als er das erste Schiff in die Höhe hielt, bis sie letztlich neben ihm in den Sand glitt und nach dem zweiten Stück Papier griff. Für einen Sekundenbruchteil wurde es hörbar etwas breiter, doch er schwieg. Er war zufrieden, wenn es *ihr* ein klein wenig half. Die Welt konnte ihm gestohlen bleiben und das blasse, mitgenommene Lächeln auf ihren Zügen war ihm Dank genug. Während Skadi sich um das zweite Schiff kümmerte, brach er eine der Kerze mit der Linken in mehrere Stücke, indem er sie unter seinen Fuß klemmte und arbeitete den Dort mit seinem Dolch wieder heraus. „Bist du soweit?“, fragte er mit einem Blick, der verriet, dass er nicht bloß das Schiff in ihren Händen meinte. Langsam erhob er sich wieder auf die Beine, beugte sich herab, um die Kerzen und die Streichhölzer zu greifen und sie zu der Linie zu bringen, die das Meer in den Sand zeichnete. Die Kerzen zwischen die Beine geklemmt entzündete er das erste Streichholz und unterdrückte dabei ein Zittern in der rechten Hand. Als das Wachs der ersten Kerze flüssig war, ließ er es in die Mitte der Papierschiffe tropfen und befestigte so vorsichtig die kleinen, unangezündeten Kerzen als Last, ehe er eines davon Skadi reichte, bloß um sich abermals nach der noch brennenden Kerze zu beugen, die er in den Sand gesteckt hatte. Mit einem Kopfnicken deutete er, dass sie ein Stück weiter hineinwaten müssten, damit die Reise dieser kleinen Hoffnungsträger nicht augenblicklich wieder am Stand endete.
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Say goodbye to yesterday - von Liam Casey - 27.03.2020, 15:01
RE: Say goodbye to yesterday - von Liam Casey - 27.03.2020, 15:07
Say goodbye to yesterday - von Liam Casey - 11.04.2020, 17:12

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