27.03.2020, 13:27
Keine zwei Stunden mochte es her sein, dass er Shanaya zuletzt getroffen hatte. Nur eine kurze Begegnung, ein kleiner Schlagabtausch, bevor sie getrennter Wege gingen, um sich ihren jeweiligen Erledigungen zu widmen. Als er danach auf die Sphinx zurück kehrte, um sie zu suchen, war die Schwarzhaarige noch nicht zurück und da er sonst nichts Weltbewegenderes vor hatte, das ihn die Wartezeit hätte überbrücken lassen, zog er es vor, ihr ein Stück weit entgegen zu gehen. Dieses Nest war klein genug, um die Wege, die sie zurück zum Hafen hätte nehmen können, auf nicht einmal mehr eine Hand voll einzuschränken. Er konnte also getrost davon ausgehen, dass er früher oder später über sie stolperte.
Als er Shanaya jedoch fand, hätte er sie beinahe übersehen. Wäre an der Mündung der Seitengasse, in der sie hockte, einfach vorbei gegangen. Was ihn dazu brachte, zur Seite zu schauen, konnte er im Nachhinein auch nicht sagen. Ein Geräusch vielleicht. Eine Bewegung. Oder einfach sein Unterbewusstsein, das ihm sagte, dass die Silhouette in seinem Augenwinkel etwas Vertrautes an sich hatte. Was auch immer es war, es reichte, um ihn eher beiläufig den Kopf drehen zu lassen – bevor er ruckartig stehen blieb.
Sie kniete im Schmutz, ein hellrotes Rinnsaal zog sich ihren Handrücken und Unterarm hinab, den sie um ihren Körper geschlungen hatte, als versuche sie, die zerfetzte Bluse zusammen zu halten, die sie gerade noch so bedeckte – oder sich selbst. Und niemand, der noch einigermaßen bei Verstand war, hätte in diesem Augenblick nicht die gleichen Schlüsse gezogen, wie Lucien es tat.
Doch noch zu surreal erschien ihm diese Szene, zu taub machte sie ihn, dass er darüber etwas anderes empfand, als den drängenden Wunsch, sie aus ihrer Starre zu holen, aus dieser unglaublich verletzlichen Haltung und sie von hier weg zu bringen. Ohne lange darüber nachzudenken, was er tat, folgte er diesem Wunsch.
„Shanaya?“
Er sprach sie so unendlich sanft an, dass er seine eigene Stimme kaum erkannte, als er langsam vor ihr in die Hocke ging. Wann hatte er sich jemals einem anderen als seiner eigenen Schwester gegenüber so verhalten? Wann war ihm sonst je in den Sinn gekommen, den Anblick eines anderen nicht ertragen zu können? Er konnte sich nicht erinnern.
Leise, fast lautlos, stieß Lucien die Luft aus und hob vorsichtig die Hand. Zögerte einen Moment, bevor er flüchtig ihre Wange mit den Fingerspitzen berührte. Jeden Moment damit rechnend, dass sie sich zur Wehr setzte, sollte sie ihn nicht gleich erkennen.