12.03.2020, 16:33
Während er sich einen Blick über den Rand seines Kruges hinaus genehmigte, stellte er fest, dass er nicht – wie angenommen - Überraschung erkennen konnte. Viel mehr starrte ihn der Fremde derart steif an, als hätte er soeben einen Geist gesehen. Keinen furchtbar schrecklichen, aber zumindest einen, der ihn derart in seinen Bann zog, dass er alles drum herum zu vergessen schien. Außer Atmen nahm Alex an, sonst wäre sein Gegenüber zumindest früher oder später blau angelaufen. Die Stirn des Mannes legte sich unscheinbar in Falten, während sich seine Lippen langsam von seinem Getränk lösten und sein Blick unauffällig zu den Händen des Jüngeren huschten. Doch auch da war trotz der Einladung zum Trinken keine Regung zu erkennen, kein Zucken, dass darauf hindeutete, dass sein Gegenüber seinen Gruß zumindest annehmen würde. Langsam stellte er sich doch die Frage, ob er ihm vielleicht Hilfe besorgen sollte. Andererseits konnte vermutlich nicht mal ein Arzt etwas tun, wenn das Gehirn des anderen gerade langsam aber stetig den Geist aufgab, weil er angesprochen worden war. Und dann – plötzlich! – doch eine Regung. Innerlich wollte Alex schon aufatmen, hätte diese Bewegung die Fratze seines Gegenübers nicht noch mehr entstellt. Nun schob sich dann doch ganz deutlich eine seiner Augenbrauen skeptisch in die Höhe, während der den ‚Blick‘ des anderen erwiderte. Sein Verdacht erhärtete sich, dass er schlichtweg behindert war. Das wiederum hätte zwar die Deserteur-Geschichte entkräftigt, aber dann sah er dem Gesuchten einfach nur unfassbar ähnlich. Vielleicht ein Zwillingsbruder, der im Mutterleib zu wenig abbekommen hatte. Oder eine verdammt gute Masche, weil er wusste, dass man ihn suchte. Und er nun befürchtete, Alex hätte den Plan, ihn einfach auszuliefern. Clever.
Entschlossen, das herauszufinden, stellte er seinen Krug zurück auf den Tisch und lehnte sich entspannt ein Stückchen zurück, während sich die Skepsis auf seinen Zügen zurückzog und sich an sein entspanntes Gemüt anpasste, obwohl der Fremde ihn noch immer anstarrte wie eine leblose, menschengroße Porzellanpuppe. Wäre er ein bisschen blasser und hätte er ihn eben nicht noch hier hereinlaufen gesehen, hätte man ihn tatsächlich für ein Ausstellungsstück für ein Gruselkabinett halten können. Kinder während wahrscheinlich wirklich schreiend davongelaufen, hätte er sich plötzlich in einer staubigen, dunklen Kammer bewegt, um ihnen einen Schrecken einzujagen. Und dann passierte das, womit Alex fast schon nicht mehr gerechnet hatte: Das Püppchen konnte doch sprechen, auch wenn das rein gar nichts an seinem steifen Gesichtsausdruck änderte. Vermutlich doch behindert. Armes Kerlchen.„Ebenfalls, John.“, erwiderte er und hob abermals den Krug in seiner Hand leicht an.Vielleicht hatte er nicht verstanden, dass dies hier wirklich eine Einladung war und der Krug vor ihm tatsächlich für ihn gedacht war. Man konnte beschränktem Verstand ja nicht immer so gut folgen. Aber immerhin schien er tatsächlich zur Konversation fähig zu sein. Vielleicht war er ja auch irgendein Versuch der Marine? Ein herangezogener Spion, der dazu gedacht war, die Feinde in Sicherheit zu wiegen, weil ihr Gegenüber nicht ganz so mit geistiger Unversehrtheit gesegnet war? Und jetzt hatte ihr Spielzeug doch verstanden, was sie mit ihm trieben und war davon gelaufen. Eigentlich hatte Alex ja vor gehabt, ihm zu seiner Entscheidung, zu desertieren, zu gratulieren. Aber er wartete erstmal noch damit.„Nein. Ich arbeite in der Stadt.“Er hatte keinen Grund, ihm das zu verheimlichen. Im Gegensatz zu John anscheinend, der keinerlei persönliche Dinge preisgab und stattdessen das Spielchen herumdrehte. Alex ließ sich nichts anmerken. Er hatte kein Problem mit Smalltalk.„So lange jedenfalls, wie ich Lust dazu habe. Und du, John? Was treibt dich hier her? Wartest du auf jemanden?“