10.03.2020, 15:15
Tag der Güte
Nachmittag des 20. Mai 1822 (vor Plot XII)Jonah Blythe & Alex Mason
Scheiße, wiederholte es sich gelangweilt in seinen Gedanken. Dieser Nachmittag schien gar nicht vergehen zu wollen. Das Kinn auf die Handfläche gestützt saß der Dunkelhaarige über einem Buch, dessen Inhalt er schon lange nicht mehr wirklich aufmerksam überflog. Satz für Satz, Wort für Wort schaffte es nicht einmal mehr über drei Herzschläge lang, in seinem Gedächtnis zu verweilen, bis Alex sein Vorhaben schließlich aufgab und das Buch zusammenklappte, um den Blick mit flüchtigem Interesse über die Gäste am Tresen schweifen zu lassen. Aber auch da war nichts wirklich Vielversprechendes zu erkennen. Keine schöne Maid, nicht einmal intelligenzlose Muskelprotze, bei denen es sich gelohnt hätte, eine Schlägerei zu provozieren, um ein bisschen Schwung in die Bude zu bringen. Die hageren Gestalten wären vermutlich direkt beim ersten Schlag zu Boden gegangen. Alex selbst hatte sich in einer Ecke des Gasthauses niedergelassen, in der er seine Ruhe gehabt hatte. Die Wand im Rücken, um im Fall des Falles alles im Blick zu haben, sollte sich doch irgendetwas Interessantes ergeben. Aber mittlerweile rechnete er gar nicht mehr damit. Seine Hoffnung war verflogen.
Ein Blick aus dem schmutzigen Fenster verriet ihm, dass es noch nicht einmal spät genug war, um sich außerhalb der Stadt ein bisschen auf die Lauer zu legen. Bis zur Dämmerung blieben ihm noch einige Stunden. Die Zeit des Tages also, wo die Aussicht auf ein bisschen Wild mehr als miserabel war. Halbherzig nippte Alex abermals an seinem Bierkrug, seufzte schwer gelangweilt und lehnte sich zurück, um einen Schwung Personen zu beobachten, die das Gasthaus gerade betraten. Ein paar von ihnen hatte er in den letzten Wochen bereits öfter gesehen. Vermutlich die Verwandtschaft des Besitzers oder ähnliches, sodass es sie des Öfteren in dieses Gebäude verschlug, um ihre Liebsten zu besuchen. Ein weiteres Mal öffnete sich die Tür, doch der Dunkelhaarige machte sich nicht die Mühe, den Blick abermals auf die Gestalt zu wenden, die hereintrat. Vermutlich ein Nachzügler, der draußen vor der Tür in ein Gespräch verwickelt worden war.Falsch gedacht. Aus den Augenwinkeln wirkte der Nachzügler zerschlissener als die Gruppe zuvor. Vielleicht – Alex richtete sich in seiner Ecke auf und musterte den unscheinbaren Mann, der hereingetreten war. Auch ihn hatte er in den letzten paar Tagen häufiger hier gesehen. Er übernachtete hier in irgendeinem der Zimmer, hielt sich aber meist im Hintergrund und verschwand oft aus dem Gastraum, ohne dass jemand Notiz von ihm nahm. Die dunklen Augen des Mannes schmälerten sich, während er einen genaueren Blick auf seine Züge zu werfen versuchte, was ihm im Halblicht des Gebäudes aber nur schwer gelang. Er kam ihm nämlich bekannt vor. Nicht auf die Art, wie man Freunde oder Bekannte erkannte, sondern beiläufiger, unbewusster. Vielleicht war er irgendein berühmtes Gesicht, war ihm anfangs in den Sinn gekommen, doch die Tatsache, dass seine Klamotten deutlich in Mitleidenschaft gezogen waren und niemand sich wirklich für ihn zu interessieren schien, hatten ihn schnell von diesem Gedanken abgebracht. Auf dem Weg zur Werft in den Morgenstunden dann aber, hatte er den Grund gefunden – möglicherweise. Wenn er nur mal einen genaueren Blick auf ihn erhaschen konnte. Zum Glück hatte er an diesem angebrochenen Nachmittag nicht wirklich etwas vor. Eine kleine Ermittlung zum Zeitvertreib kam ihm also nur gelegen.Alex leerte den Bierkrug mit einem letzten Zug. Der Mann, auf den er es abgesehen hatte, hatte sich inzwischen wieder in einer dunkleren Ecke des Gastraumes niedergelassen, wo er bereits trotz des geringen Besuches zu dieser Tageszeit kaum mehr auffiel. Der Lockenkopf klemmte das Buch unter den Arm und erhob sich aus seiner Ecke heraus. An der Theke angekommen, klatschte er den leeren Krug in Begleitung einiger Münzen auf das Holz, wies auf den Tisch in der Ecke und machte sich dann auf, um den zwei bestellten Bierkrügen zuvorzukommen.Ungeniert ließ er sich mit einem lockeren Ausdruck auf den Zügen dem Fremden gegenüber auf der Bank nieder, dessen Skepsis nur mehr als verständlich war. Doch Alex ließ sich davon nicht beeindrucken, konterte seine finstere Mine mit einem Lächeln und stellte fest, dass er mit seinem flüchtigen Gedanken an der Theke offensichtlich Recht gehabt hatte. Der Gute hatte etwas zu trinken mehr als nötig, um seine Gesichtsmuskeln mal etwas zu entspannen.„Scheint ein anstrengender Tag gewesen zu sein, hm?“, begann er, ohne zu berücksichtigen, dass sie noch nie im Leben ein Wort miteinander gewechselt hatten. Bevor er fortfahren konnte, stellte man ihnen bereits zwei volle Bierkrüge auf den Tisch. „Dachte mir, bei der finsteren Miene tut dir ein bisschen flüssiges Glück ganz gut. Geht auf mich.“Beiläufig griff er nach dem Henkel des Kruges, ob ihn zu einem angedeuteten Gruß und nahm einen Schluck, dabei unauffällig über den Rand seines Kruges zu ihm hinüberblickend, um zu beurteilen, ob er mit seiner Annahme richtig lag. Denn wenn seine Visage wirklich die war, die man auf einigen Plakaten an den Hauswänden abgedruckt hatte, hatte sein Gegenüber – spätestens bald – ein kleines Problem, wenn die ersten aus ihren Löchern krochen, um mit ihm ein bisschen Gold zu verdienen. Bis er ihn damit konfrontierte, würde er ihm allerdings noch ein bisschen Zeit lassen. Vielleicht verriet er sich ja auch von selbst oder gab etwas anderes Interessantes preis. Denn das die Marine nicht selten Dreck am Stecken hatte, wusste Alex nur zu gut.„Ich bin übrigens Alex.“Einem Fremden gegenüber plauderte man immerhin nicht einfach aus dem Nähkästchen. Normalerweise.