06.03.2020, 16:48
Da der Ältere sich seiner Trauer ergab, hatte sein jüngeres Ich, für einen Weile, die Herrschaft über den Körper im Netz, dabei spürte der Junge mehr und mehr, wie es in dem Erwachsenen aussah und wollte einfach nur noch weinen und sich trösten lassen. Denn dann würde schon alles gut werden.
Doch der Knabe wusste nicht, was er da alles aufwühlte, während er sich an das Licht der junge Frau drückte. Denn während er das tat, strebten weitere Lichter aus der Schatulle auf den Älteren zu und schmolzen, genau wie Skadis Worte und Berührungen, mehr und mehr Eis, mit dem der Offizier sich umgeben hatte.
Wäre es nur das gewesen, es wäre in Ordnung gewesen.
Doch jedes Licht war von seinem eigenen Schatten begleitet, harte Fakten, unschöne Umstände und ausstehende Katastrophen:
Seine Tochter war nicht mehr sicher, seine Schwester tot, seine Mutter hatte die Taten seines Vaters zugelassen, Cornelis ihn damals im Stich gelassen und tat es jetzt wieder.
Alles löste Gefühle aus, unverarbeitete, heftige Gefühle.
Irgendwo im Hinterkopf war dem 26-jährigen klar, dass er das negative in seiner derzeitigen Stimmung gnadenlos überbewertete, doch das war eine müßige, logische Herangehensweise an emotionale Probleme, die plötzlich und unkontrolliert über ihn hereinbrachen, mit einer Gewalt, die Enrique nicht mehr gewohnt war und die in ihm panische Angst auslöste. Denn ihm fehlte inzwischen das blinde Vertrauen des Kindes daran, dass schon alles irgendwie wieder gut werden würde.
Auf diese Erkenntnis schien weitere Düsternis in der Schatulle nur gewartet zu haben. Sie erhob sich mit Macht, griff mit sengenden Berührungen nach ihm und verbrannte ihn mit alten Schmerzen.
Skadi konnte beobachten, wie de Guzmán ihre Nähe suchte, sich geradezu in ihre Arme flüchtete, dabei heftiger und heftiger bebte, wie mehr und mehr Tränen flossen.
Und dann — wie er sich plötzlich versteifte.
Denn Enrique erkannte nur all zu deutlich, dass die Schatulle all seine Gefühle beinhaltete, die er seit dem Tot seiner Schwester von sich geschoben hatte und die er, seit dem er Isabella anerkannt hatte, irgendwie hatte kontrollieren müssen, dass das Eis seine Lösung gewesen war, das alles von sich fern zu halten und dass er für seine Tochter dieses Kästchen erschaffen hatte, damit er sie nicht mit all dem Übel erdrückte, bevor sie überhaupt ahnte, dass die Welten grausam waren, hatte er doch für sie und mit ihr fühlen wollen.
Es waren keine guten Lösungen gewesen.
Die düstere, alles verschlingende Wut, die abgrundtiefe trauer, der ätzende, ungezügelte Hass, all jene Gefühle, die ganz klein begonnen hatten gärten nun mitunter schon seit über einem Jahrzehnt vor sich hin und waren zügellos, weil verdrängt, bis zur Unkontrollierbarkeit angeschwollen.
Jetzt kehrten sie zu ihm zurück. Und je mehr davon aus dem Kästchen herausstieg, um so kürzer wurden die Ketten, die ihn mit sich selbst verbanden; um so mehr drohte er verloren zu gehen, denn ein Kind, und damit er, war er doch, was Gefühle zu verarbeiten betraf, kaum älter als sein zwölfjähriges Ich, würde daran zerbrechen. Ließe er zu, dass sie in ihnen versanken, es wäre ihr Ende, denn er konnte sie nicht beide retten.
'Nein! So nicht!'
Die Wut, die in jenem Moment seinen äußeren Körper versteifte, gab ihm hier, am Grunde seines Selbst, die Hände frei, seine Entschlossenheit ließ ihn seine harte Schale akzeptieren und in sich aufnehmen. Mit all seiner Wildheit riss er die Entscheidungsgewalt wieder an sich und war plötzlich frei, sich zu bewegen.
De Guzmán hatte geschworen erst aufzuhören, wenn sein Kind sicher und seine Feinde tot wären.
Und das waren sie noch nicht.
Mit lautem Aufbrüllen stürzte er sich auf sein jüngeres selbst, entriss ihm die Schatulle, drückte mit aller Kraft den Deckel herunter, stopfte seine Erinnerungen zurück in das kleine Gefäß, verschloss sich vor ihnen und den damit verbundenen Gefühlen und bediente sich dabei hemmungslos den Kräften der Kälte in und um sich, bis ein Klacken verriet, dass das Schloss des Kistchens eingerastet war. Dann nahm er es und schleuderte es mit Schwung in die Düsternis unter sich.
Der Zwölfjährige starrte ihn entgeistert an. Das konnte der Mann doch nicht ernsthaft getan haben!
Aber er hatte.
Die Anspannung blieb erhalten. Enriques Hände bekamen Skadis Schulter und ein Ende zu fassen. Was war ihm egal, denn er bekam es nicht mit, er brauchte nur etwas zum festhalten. Einen Augenblick lang verspannte er sich, wurde sein Griff schmerzhaft, hielt er den Atem an — dann sackte er erschöpft zurück in die Arme, die ihn nach wie vor hielten, rang mit sich, bis er sich nach und nach beruhigte und aufhörte zu weinen.
Stück für Stück verschloss der Schwarzhaarige sein Herz wieder mit Eis und weigerte sich, seine Vergangenheit zu betrachten. Würde er das jetzt tun, er würde nicht zu seinem Schwur zurückkehren.
'Dann lieber ohne jedes Gefühl und ohne jede Erinnerung.'
Nur zwei Lichter schloss er darin ein, um nicht gänzlich zu erfrieren. Sie beinhalteten wenig genug Schatten, dass er schon irgendwie mit den Emotionen, die sie hervorriefen, klarkommen würde. Da er sein Herz damit auch vor seinem Bruder verschloss, dessen Zuneigung und Wünsche mit Vorwürfen von sich hielt, verschwand damit auch das Gewicht auf seiner Brust, es rutschte an den Fesseln hinab, verhakte sich irgendwo im aufgewühlten Schlamm an den Ketten, die ihn noch immer banden und machte die unsichtbare Last dort noch größer.
Aber die war er gewohnt.
Außerdem musste er sich ihr so nicht stellen.
Je mehr er sich dadurch beruhigte, um so mehr legte sich auch der Sturm in ihm.
Und um so näher rückte der Frost dem Knaben. Hilflos schlang der die Arme um sich und sah flehend zu seinem älteren Gegenstück auf.
Wie sollte er denn so warm bleiben, wenn der Mann ihm nichtmal ein kleines bisschen Hoffnung ließ?
Der schaute zurück:
"Ich muss leben. Auch wenn ich dazu zunächst mich und meine Gefühle vergessen muss. Du hast recht. Ich muss zu ihr zurück. Ich werde sie, im Gegensatz zu unserem Vater, nicht verraten und allein lassen."
Er verharrte, den Blick auf den Jungen gerichtet, die schlanke, hochgewachsene Gestalt schwankte in der Betrachtung, das schwarze Haar, wie eine Wolke aus Tinte um seinen Kopf, beobachtete, wie die Kälte seine Jugend erfrohr und wusste, er verlor. Es war egal das er sich gerade bewußt so entschieden hatte, er verlor. Er hätte noch weit schlimmer verloren, hätte er sich anders entschieden, doch das machte es für de Guzmán nicht angenehmer.
Vielleicht könnte er das hier später zurückgewinnen. Vielleicht war das hier tatsächlich die beste Entscheidung. Er hoffte es inständig.
Und dennoch:
Er verlor.
"Für mich reicht meine Kraft gerade nicht. Später, wenn ich es geschafft habe, für sie da zu sein, dann kann ich mich auf mich besinnen ...", flüsterte er.
Vielleicht.
Vielleicht auch nicht. Aber jetzt war es zu spät. Einem Insekt in Bernstein gleich, schimmernd, verschwommen und unerreichbar, hing seine Kinderzeit in diesem frostigen Block.
Würde er zu ihr wollen, dann würde er zunächst die Schatulle wiederfinden und meistern müssen. Und die lag in der Schwärze seiner Dämonen versunken. Um zu ihr zu gehen, würde er durch seine ganz private Hölle müssen.
Aber jetzt, jetzt musste er seine spärlichen Kräfte darauf ausrichten, zu Skadi und damit zu Isabella zurückzukehren. Es wurde Zeit.
Und dazu musste er das restliche Chaos um sich herum (in sich? Auf einmal war dieser Ozean um ihn herum nicht mehr so klar wie vorher) akzeptieren.
Die Welt um ihn verschwamm weiter, die Erinnerung an sie verblasste, nur seine Entscheidung würde er mit ins Wachen hinüber nehmen können.
Zitternd und schweißgebadet entkam er aus diesem Albtraum, spürte all das, was freigekommen war, in sich hineinsinken und arbeiten. Enrique hatte das Gefühl, daran zu ersticken. Wütend schob er es bei Seite und zwang Luft in seine Lunge, atmete gepresst. Seine Augen öffneten sich, er blinzelte heftig, doch sie blieben noch verschleiert und unfokussiert. Eine plötzliche, undefinierte Woge von Trauer ließ die Tränen zurückkehren. Nicht nur die See rauschte in seinen Ohren. Noch immer waren seine Sinne verstopft, und so bekam er noch immer nicht mit, wo er sich befand oder dass er sich wieder verzweifelt und voller Angst an Skadi festhielt, geschweige denn, wie sehr er ihre Nähe gerade suchte und brauchte.