17.11.2019, 22:55
Enriques unmittelbare Zustimmung zum Aufbruch drang schlagartig nicht mehr zu Lucien durch. Denn draußen, im Schatten zwischen den eng stehenden Häusern, knirschten fremde Schritte auf der staubigen Straße. Ohne auch nur den Bruchteil einer Sekunde darüber nachzudenken, riss der Dunkelhaarige die geladene Pistole in die Höhe, richtete beides, Blick und Mündung, auf die Gestalt, die sich aus der Dunkelheit schälte und auf ihn zu trat.
Betrunken oder nicht, auf die Entfernung hätte Lucien niemals daneben geschossen. Aber er drückte nicht ab. Vielleicht lag es an der Haltung des Mannes, die Art, wie er seine Hände gut sichtbar präsentierte, oder an dessen beschwichtigendem Tonfall. Was auch immer es war, es reichte, um ihn kurz innehalten zu lassen. Zeit genug, damit die warnenden Worte bis zu seinem Verstand vordrangen und er ihre Bedeutung vollkommen begriff. Und wie zur Antwort ertönte die Schiffsglocke der Sphinx, rief ihre Mannschaft zurück. Ihre Mannschaft, die in Gefahr schwebte.
Es war nicht so, dass er keine Sekunde an Talin gedacht hatte. Irgendwo in seinem Unterbewusstsein hatte die Erkenntnis längst auf ihre Enthüllung gelauert, dass sie zurück gekommen wäre, als in der Taverne die ersten Schüsse fielen, wenn sie nur gekonnt hätte. Dass sie deshalb selbst in Schwierigkeiten sein musste. Irgendwo in den Straßen und Gassen dieses verfluchten kleinen Ortes. Dass sie verletzt sein konnte. Oder schlimmer noch. Tot.
Aber so lange er um sein eigenes Leben gerungen hatte und in unmittelbarer Gefahr gewesen war, gestattete er sich nicht, darüber nachzudenken. Da nicht. Doch jetzt traf es ihn umso härter.
Durch seinen Pistolenarm ging ein Zucken. Die Mündung der Waffe sackte ein gutes Stück nach unten ab, als Lucien die Farbe aus dem Gesicht wich. Talin. Er musste sie finden. Er musste seine Schwester finden.
Erst die plötzliche Anwesenheit von Enrique und Ceallagh riss ihn aus diesem Gedankenkarussell wieder heraus. Der junge Captain hörte, was sie sagten, begriff es aber im ersten Moment nicht. Bis sein Verstand träge wieder zu arbeiten begann.
Ceallagh mocht mit seiner Korrektur Recht haben, dass die Sphinx das einzige Schiff seit Langem war, das hier angelegt hatte. Aber den anderen Bedenken stimmte Lucien durchaus zu. Niemand sagte ihnen, dass dieser Typ nicht zu den Kopfgeldjägern gehörte. Niemand sagte ihnen, dass er sie nicht in die nächste Falle lockte. Ihm nicht zu trauen wäre nur vernünftig, ihn direkt zu erschießen wäre wahrscheinlich sogar vertretbar gewesen. Aber alles, worüber der 21-Jährige in diesem Augenblick nachdenken konnte, war die Frage, wie er am schnellsten zu seiner Schwester kam. Also entschied er sich gegen langes Überlegen, gegen Erschießen und gegen weiter Rumstehen.
Die Waffe senkte der Dunkelhaarige erst, als Ceallagh sich mit einem Seil an ihm vorbei schob und den Fremden fesselte. Ein kluger Schachzug, der ihnen zumindest einen Vorteil verschaffte. Aber für den jungen Captain war das ohnehin längst zweitrangig.
„Erst mal.“, antwortete er knapp auf die Frage seines alten Freundes, der von ihm eine Entscheidung verlangte. Erst mal würden sie Enriques Vorschlag folgen und diesen Schrein ansteuern. Dort würde man sie zumindest nicht gleich als Erstes suchen und dort konnte dieser Fremde ihnen auch immer noch sagen, wie er gedachte, sie heil aus ihrer Zwangslage heraus zu manövrieren. Und wenn es sein musste, dann ohne ihn. Denn er würde sich bestimmt nicht irgendwo verkriechen, bevor er Talin nicht gefunden hatte.
Sie setzten sich in Bewegung, Josiah mit dem bewusstlosen Kopfgeldjäger über der Schulter und Ceallagh, der den Fremden in Schach hielt. Lucien hatte die Pistole mittlerweile gesenkt, steckte sie aber nicht weg. Er ließ derweil Enrique den Vortritt, die kleine Gruppe zu dem Gebäude zu führen, das er als erstes Ziel ausgesucht hatte, während er den Druck seiner Hand auf die Wunde verstärkte und einen kaum vernehmlichen Schmerzlaut ausstieß. Schon seine Stimme hatte sich gerade deutlich gepresst angehört und auch, als er sich jetzt an den Fremden wandte, beschränkte er sich nur auf das absolut Nötigste.
„Und wenn du schon dabei bist, zu reden... Wie kommen wir deiner Meinung nach am schnellsten zu unserem Schiff zurück? Bestenfalls ohne dabei erschossen zu werden.“, fügte er eher etwas beiläufig mit an.