28.10.2019, 16:13
Rúnar schaffte ein paar Schritte, dann—er wusste nicht genau woher—kam Trevor auf ihn zu, fiel ihm um den Hals. Rúnar krallte sich in Trevors Kleidung. (Zumindest mit der einen Hand. In der anderen hielt er noch immer Trevors Pistole.) Nur für ein paar Momente. Einerseits, damit sie beide nicht hinfielen, andererseits, weil es sich für einen Moment wunderbar schützend anfühlte, sich an etwas (oder jemandem) festhalten zu können. Auch wenn Trevor so betrunken nicht wirklich zum Schutz von irgendwem beitragen konnte.
Dann wiederum—hatte er diese eine Frau in diesem Zustand erledigt. Das sollte Rúnar vielleicht nicht vergessen.
„Hab dich! Bist du tot?! Nein, warte, was kommt vor tot sein, sterben, nein, also doch, aber ich meine, bist du verletzt?“
Rúnar verbiss sich das Lächeln. Er wollte dieses betrunkene Gefasel nicht gutheißen.
„Ja, bin ich“, sagte er. Falls das nicht offensichtlich war. Es hing überall Blut an ihm. Und jetzt sicherlich auch an Trevor.
Plötzlich schob Trevor ihn hinter sich. „Wer ist da?!", rief er. „Gehört ihr zu den angriffslustiger Schiffsentführern mit fragwürdigem Modegeschmack?!“
Rúnar hielt sich dicht hinter Trevor und spickelte ihm an der Schulter vorbei. Eine der Personen aus der Gruppe, in die er selbst fast hineingerannt war, trat vor. „Wir sinds Trevor ...“
Rúnars Herz machte einen Satz. Sie kannten sich. Diese Leute und Trevor kannten sich—und es waren viele. Eins, zwei, drei, vielleicht vier, aber die Schatten machten es ihm unmöglich noch mehr zu erkennen. Das waren die Piraten. Ihnen gehörte das Schiff mit den roten Segeln. Sie waren sein Weg hier raus und jetzt waren sie auch in der Überzahl der restlichen Kopfgeldjäger. Falls sie die nicht sowieso abgehängt hatten.
Er zuckte kurz zusammen, als eine Schiffsglocke laut zu läuten begann und im nächsten Moment wurde direkt zwischen ihnen eine Tür aufgeschlagen.
Ein Lichtkegel weitete sich und schien auf die beiden Frauen. Rúnar konnte es nicht richtig erkennen, aber er glaubte, auch an ihnen das nasse Schimmern von Blut zu erkennen. Sie waren den Tötungskommandos also auch nicht ganz glimpflich entkommen. Ein wenig Licht reichte auch bis zu den beiden Männern, die dahinter standen. Es waren also doch vier Leute.
Oder nein. Es waren doch fünf. Nein, sechs.
Rúnar machte gerade Anstalten zur Seite zu gehen um den Männern, die aus der Tür kamen Platz zu machen, damit sie ungehindert vorbei gehen konnten. Außerdem war es auffällig, wenn sich eine Gruppe blutverschmierter Halbwilder (so kamen sie ihm tatsächlich vor, inklusive er selbst) in einer Gasse versammelte. Obwohl, auf dieser Insel konnte man wohl nie wirklich—
Der, der aus der Tür getreten war hielt der blonden Frau eine Pistole an den Kopf.
zu früh gefreut.
Aber es reichte ihm jetzt edngültig. Vergiss die Mitfahrgelegenehit, vergiss jegliches Moralgefühl, vergiss die blöde Harpune. Er würde sich irgendwo ein Ruderboot klauen und sich zur nächstbesten Insel treiben lassen. Er hatte das auch schon mal auf weniger als einem Ruderboot geschafft und mit weniger als dem, was er selbst ohne seiner Harpune bei sich hatte.
Rúnar setzte zum Sprint an, drehte sich um—aber da standen sie auch. Drei Männer im Schlepptau einer Frau. Ein, zwei, drei Momente lang starrte er der Frau direkt ins Gesicht. Sie in seins. Zwei Schüsse. Einer der Männer hinter ihr fiel um, der andere schrie auf. Sie drehte sich erschrocken um, die Schöße ihres Mantels streiften Rúnars Bein.
Er spannte die Pistole.
Aber er konnte das einfach nicht. Er zielte nicht einmal, dachte nicht einmal groß nach und nutzte den Schreckmoment, um der Frau mit der Schulter voran in den Rücken zu springen. Sie hatte zum Rennen angesetzt und verlor sofort die Balance. Das Momentum des Aufpralls jagte Rúnar einen dumpfen Schmerz in den Kopf und schlug der Frau ihren Dolch aus der Hand, der mit einem Klappern auf dem Pflaster aufkam. Sie blieb reglos liegen.
Mit schmerzenden Gliedern richtete sich Rúnar auf—auf die Knie. Er atmete durch. Nur einen Moment. Und noch einen. Wann war diese götterverdammte, schreckliche Nacht endlich vorbei?
Die Frau regte sich wieder.
„Bastard,“ zischte sie durch einen mundvoll Blut.
Fuck, dachte Rúnar. Er versuchte aufzustehen und davon zukommen so schnell es ging. Die Ringe in seinem Stiefel bohrten sich in seinen Fuß und er sackte ein, die Frau packte ihn seitlich am Mantel, zog ihn nach hinten und streckte ihren Arm aus. Sie wollte an seine—an Trevors Pistole.
Rúnar fiel rücklings hin und versuchte die Pistole so weit wie möglich von sich weg zu halten, aber die Frau ächzte, lehnte sich über ihn um dranzukommen.
Was sollte er sonst tun? Er holte seitlich nach hinten aus, die fremde Hand folgte der Pistole, dann schmiss er sie weiß der Weltenwind wo hin. Die Frau gab ein frustriertes Ächzen, versuchte dann über Rúnar hinweg zu klettern und gleichzeitig aufzustehen, aber Rúnar packte sie an den langen Haaren. Sie stürzte, diesmal ein frustrierter Aufschrei. Rúnar kämpfte sich mit einem Schritt nach oben und ließ sich dann wieder auf ihren Rücken fallen. Er hörte den hohlen Laut in ihrem Brustkorb. Mit dem einen Ellbogen drüchte er ihren Oberörper nach unten, mit der anderen Hand ihr Gesicht auf das Pflaster. Der Schnitt in seiner Hand brannte.
Was sollte er als nächstes tun? Er konnte sie nicht töten. Aber wenn er nichts tat, dann würde sie ihn töten.
„Wenn du mich loslässt ...“, brachte sie hervor und atmete tief ein. Ihr Brustkorb hob sich, senkte sich, hob sich. Rúnar ging mit dem Gesicht näher an ihres, um sie besser zu verstehen. „... dann gehe ich.“ Atemzug. „Ich schwöre es.“ Atemzug. „Beim Grab meiner Schwester.“