26.10.2019, 11:16
„Sein Herz! Oder seinen Kopf?!“ Trevor schlug erst die Hände über dem einen und dann über dem anderen zusammen. „Oder beides! Dann hat er jetzt ein Loch mitten in seiner Brust – aber es ist bestimmt nicht so groß, das passt schon – und läuft kopflos rum.“ Mit großen Augen ging er rasch die kopf- und herzlosen Menschen durch, die ihm in seinem Leben bisher über den Weg gelaufen waren. Oh, die meisten davon waren nicht gelaufen – nicht mehr. „Dann ist er jetzt ein Untoter, oder?! Sie brauchte einen neuen, weil ich ihren letzten ausgeknockt habe, ganz bestimmt!“ Eigentlich war er sich sehr wohl bewusst, worauf die anderen beiden anspielten, aber Untote und Ehemänner waren ja eh fast dasselbe. „Genau, das meine ich!“ Er nickte eifrig zu Liams Theorie. „Vielleicht wollte die Hexe auch unterirdische Schätze suchen gehen so wie ihr?! Aber sie wollte sich keins von ihren eigenen Augen ausstechen, also hat sie gleich den ganzen Ryan mitgenommen! Ich hätte da ja kein Problem mit.“ Er angelte sich eine besonders große, unförmige Kartoffel aus Liams Eimer und hielt sie sich zu Demonstrationszwecken vor das rechte Auge. „Steht mir sogar, oder?“ Er lachte und testete, wie schief er den Kopf halten musste, damit er die Kartoffel über seinem zugekniffenen Auge balancieren konnte. Ganz schön schief. „Hey, vielleicht würde ich dann meinen einen Stiefel wiederfinden. Ich hab sogar eine Augenklappe! Stimmt‘s, Greg? … Irgendwo.“ Er runzelte kurz die Stirn, was die Kartoffel aus dem Gleichgewicht brachte. Er fing sie geschickt auf und zuckte er mit den Schultern. Die würde sich schon wieder anfinden – Augenklappen, Schuhe, Menschen, alles fand sich früher oder später wieder an. Hoffentlich.
„Wer weiß schon was diese Frau kann? Auf jeden Fall müssen wir warten, bis wir einen der Beiden treffen oder wiedertreffen. Wäre aber schon interessant, was sie dann erzählen.“ Entspannt lauschte Greg dem weiteren Gespräch der Beiden. Trevor war mit vollem Einsatz dabei, die Stimmung nicht gekippt. Alles war gut. ‚Zumindest an der Oberfläche ...‘ Grimmig verbannte er diesen Einwand aus seinen Gedanken. Es war alles gut oder würde es bald wieder sein. Punkt. „Die liegt in deiner Seekiste“, antwortete er dann seinem Bruder, „da wo sie hingehört. Im Gegensatz zu deinem Stiefel, da habe ich keine Ahnung. Wie wäre es, wenn du die Augenklappe aufzieht und dann deinen Schuh suchst? Vielleicht ist die ja auch magisch und du findest ihn wieder?“ Langsam schob er die Kräuter zusammen und in eine kleine Schüssel. Ihm war nur recht, dass das Gespräch anfing in eine andere Richtung zu driften. Er würde es Liam überlassen wohin. Das Thema wäre ihm gleich, wichtig war lediglich, das es Trevor gefiele.
Liam lachte bei dem Gedanken an einen Ryan, dem man das Herz gestohlen hatte, selbst wenn sich seine Vorstellung offenbar nicht mit der Trevors überschnitt. In diesem Fall war der Gedankengang des Musikers weitaus romantischer und weniger blutig als der des Jüngeren, der sich offenbar einfach nicht von den Untoten loseisen konnte. Zugegeben: Die Geschichte wäre weitaus spannender mit herz- und kopflosen Zombies, aber tatsächlich wünschte er Ryan dieses üble Schicksal nicht. In einem Roman hätte er definitiv Trevors Vorschlag bevorzugt – im realen Leben aber gönnte er dem Einäugigen lieber sein Glück, als ihm Unheil zu wünschen. Liam verkniff sich den Kommentar, dass Ryan sich damals ja immerhin auch kopflos an Deck der Sphinx begeben hatte und diese Naivität mit einiger Zeit in der provisorischen Zelle hatte bezahlen müssen. Dazu war der Fluss von Trevors Gedanken ohnehin viel zu einnehmend und – wenn man es genau nahm – eigentlich sogar recht schlüssig. Eine Hexe, die die Untoten zum Agieren brachte? Wenn man an die ganzen Geschichten über beispielsweise Draugr nachdachte, vielleicht ja doch gar nicht so unmöglich? Trevor brachte ihn mit seiner Darbietung wieder von seinem Gedanken ab. Er folgte seinem Griff nach der Kartoffel, während er eine weitere geschälte Knolle in den Eimer fallen ließ. „Kartoffelauge – findet Euch garantiert jeden Bodenschatz.“, gluckste er mit gesenktem Kopf und spähte von unten zu Trevor auf. Gregory stieg nun auch wieder ein und ließ Liam für einen Moment schweigend, aber schmunzelnd seiner Arbeit nachgehen. „Hast du mal im Lager im Stroh gesucht? Ich kenne einen kleinen, pelzigen Drachen, der dort gerne seine Schätze versteckt.“ Mit einer gehobenen Augenbraue dachte der Lockenkopf an die Ginsterkatze, die ihre Zeit nicht selten damit verbrachte, unbeaufsichtigte Dinge von A nach B zu schleppen.
„Nein, ist sie nicht“, widersprach Trevor unbekümmert, warf die Kartoffel in die Höhe und fing sie geschickt wieder auf, ehe Liam sie auf den Kopf bekam. „Gestern war sie in meiner Seekiste. Dann hab ich versucht, sie Cesarea aufzusetzen, aber sie war ihr viel zu groß, und dann hab ich in deiner Seekiste nach einer Schere gesucht und daaaann …“ Er fing die Kartoffel erneut, hielt inne und tippte sich betont nachdenklich damit gegen die Lippen. Hey, waren das rohe Kartoffeln oder rohe Bohnen gewesen waren, die Greg für giftig hielt? Hm. Ach, bestimmt wurde beides total gesund, wenn er nur genug von Rayons Grünzeug oben drauf häufte. Er gluckste und warf die Kartoffel erneut in die Höhe. „Ein pelziger Drache?!“ Es schepperte laut – die vergessene Kartoffel war mitten auf Gregs Schneidebrett gelandet. „Ups“, grinste Trevor ohne den geringsten Anflug von Reue und schnappte sich sein Spielzeug, bevor Greg auf die Idee kommen konnte, es zu beschlagnahmen. Er sprang schwungvoll von der Anrichte und war schon halb durch den Raum, bevor ihm auffiel, dass man den Satz auch anders betonen konnte. „Ein pelziger Drache?!“ Er fuhr herum und sah erst Liam, dann Greg und dann wieder Liam mit großen Augen an. „Du meinst Sineca? Kann sie Feuer speien?!“ Sein Blick wandelte sich von Erstaunen in pure Entzückung.
Greg schwankte zwischen Lachen und Seufzen und entschied sich für ersteres. Jetzt wusste er also, warum da mal wieder Chaos geherrscht hatte. „Na dann“, grinste er und brachte das Geschnittene in Sicherheit, ehe die Kartoffel es erwischen konnte. Da hatte Liam mal wieder was angerichtet. Aber hey! Er würde sich nicht beschweren. Immerhin würde das Trevor und die Ginsterkatze beschäftigen: Den Eine mit suchen und die Andere mit neue Verstecke finden. Heiter meinte er also: „Na geh schon! Lass nur die Kartoffel hier, damit du sie nachher essen kannst.“
Obwohl er mit einer derartigen Reaktion Trevors gerechnet hatte, zuckte er doch instinktiv zusammen, als die plötzliche Aufregung des jüngeren Scovell von lautem Scheppern begleitet wurde. Liam schmunzelte unscheinbar und freute sich innerlich darüber, das Leben des jungen Abenteurers zumindest für den Augenblick wieder etwas spannender gestaltet zu haben. Und wie erwartet kam er erst einige Herzschläge später auf die Idee, dass Liam nicht nur Drache erwähnt hatte, sondern auch das kleine, aber feine Wort pelzig. Der Lockenkopf sah auf, als er den Blick aus großen Augen auf sich spürte und zuckte vielsagend mit der Schulter, während er eine weitere Kartoffel schälte. „Ich hab’s noch nie beobachtet, aber das muss ja nicht heißen, dass sie’s nicht kann, oder?“, mutmaßte er und lächelte Trevor entgegen. „Wenn du’s beobachtest, gib mir Bescheid.“ Er bezweifelte, dass Trevor nun noch viel hier halten würde. Nicht nur, weil er die Aussicht darauf hatte, seinen verlorenen Stiefel oder die Augenklappe wiederzufinden.