08.09.2019, 23:30
Immer wieder stahl sich eine Welle drückender Gänsehaut über ihren Körper, wenn Talin erneut zu würgen begann. Noch immer fühlte sich die Nordskov benebelt und ausgelaugt. Wagte es jedoch nicht für einen kurzen Moment innezuhalten und sich auszuruhen. Sie waren bei weitem nicht auf sicherem Gelände. Diese vier Männer bildeten nur einen verschwindend geringen Teil des ganzen Problems und es wäre absolut fahrlässig davon auszugehen, dass dieser Zwischenfall der letzte an diesem Abend bleiben würde. All das hier wirkte zu gut geplant. Zu durchdacht um purer Zufall oder gar Einbildung zu sein. Und wenn Skadi dem Bauchgefühl vertraute, das hier und da schmerzhaft an ihrem Körper zwickte, dann war der Kampf für Talin und sie nur aus einem Grund so glimpflich ausgegangen: sie waren nicht das eigentliche Ziel gewesen. Man hatte sie nicht töten wollen. Die andere Frage war, weshalb? Und noch während sie mit gezogener Waffe auf die Gasse starrte, dessen Dunkelheit nur zaghaft zwei menschliche Schemen Preis gab, dämmerte es ihr. Wie ein flüchtiger Gedanke, der sich schmerzhaft in ihre Eingeweide fraß. Der Angriff auf die Morgenwind. Das massige Damoklesschwert, das die letzten Wochen über ihren Köpfen gehangen hatte und nun – mit hoher Wahrscheinlichkeit – zitternd hinab gefallen war. Erst als Shanayas Stimme und wenig später die Liams die Gasse erfüllte, wagte es Skadi die verengten Augen zu öffnen. Bemerkte, wie ihre Lungen angespannt nach Sauerstoff verlangten und wohl seit etlichen Sekunden unter der plötzlichen Konzentration erstarrt waren. Ruckartig löste sie den Finger vom Abzug und schnaubte knapp. Versuchte damit das ungute Gefühl aus ihren Gliedern zu vertreiben, während sie Talin sanft mit der anderen Hand über den Rücken strich und das blonde Haar Strähne um Strähne zurückgleiten ließ. Das Würgen hatte schlagartig aufgehört. Ebenso das sanfte Zittern, das durch den zierlichen Körper direkt in ihre Fingerspitzen gedrungen war.
Mit einem knappen “Passt schon.“ entgegnete sie den Worten der Dunkelhaarigen und wandte erst den Blick auf Talin zurück, ehe sie begann den dritten und vierten im Bunde aus den Augenwinkeln zu mustern. Sowohl Liam als auch Shanaya und Farley schienen weitestgehend unbeschadet zu sein. Doch sie zweifelte keineswegs daran, dass alle drei dazu in der Lage waren etwaige Verletzungen herunterzuspielen und sich kaum anmerken zu lassen. Ob aus Stolz, Pflichtgefühl oder dem inneren Wunsch nicht zur Last zu fallen – das war wohl zweitrangig. Noch während sie Liam auf seinem Weg in Richtung der Leichen folgte und bei seiner knappen Berührung die brennende Gänsehaut in ihrem Nacken zu ignorieren versuchte, pressten sich die vollen Lippen zusammen. Formten kurz darauf Worte, die ungewohnt sanft und mütterlich ihre Kehle verließen.
“ Ich hoffe ihr seid wohlauf?“
Langsam wandte sich der dunkle Haarschopf herum. Musterte kurz Farley, dann Shanaya, ehe er erneut prüfend über die Dächer streifte und auf Liam hängen blieb, der bereits zurückkehrte und dicht hinter ihr zum Stehen kam. An der Unterhaltung beteiligte sich die Nordskov jedoch nicht weiter. Behielt lieber die Umgebung im Blick, während Talin den anderen von der Schießerei in der Taverne berichtete. Nur für einen kurzen Moment schweiften ihre Gedanken zu Enrique ab. Gestattetem dem Rumoren in ihrem Magen für einen Lidschlag die Oberhand zu gewinnen und die aufkeimenden Sorgen zuzulassen, die mit den Schüssen einher gingen und den Talins um Lucien wohl nicht unähnlich waren. Wurden jedoch ruckartig zerschlagen, als der Ton zu ihrer Seite rauer wurde und sie dazu zwang den Kopf herum zu drehen. Den Körper halb zu Liam gewandt, dessen Gesicht sie kurz nach dem eisigen Blick Talins in Augenschein nahm. Sollte sie sich wirklich in diese Diskussion einmischen? Stellung beziehen, wenn sie sowohl die Jüngere als auch den Musiker verstehen konnte? Tot brachten sie immerhin niemandem etwas. Doch die anderen zurück zu lassen, kam ebenso wenig in Frage. Allerdings widerstrebte ihr diese brutale Kälte, die der blonde Lockenkopf ausstrahlte. Und es hinterließ kleine Furchen auf ihrer Stirn, als sie sich letzten Endes herum wandte und mit ernster Miene zu Talin hinüber sah.
“Wir lassen niemanden im Stich… aber bei allem Respekt Talin… mit dieser Schulter wirst du kaum kämpfen können. Eher bist du verblutet.“
Wie von selbst legten sich die langen Finger der Jägerin beschwichtigend auf Liams Schulter und spürten für einen kurzen Moment das weiche Fell Sinecas, deren pelziger Leib auf die andere Seite des Älteren geklettert war.
“Bevor wir also wie Wildgewordene davon stürmen, sollten wir uns …“
Weiter kam die Nordskov allerdings nicht mehr. Wie ein Kanonenschlag zerbarst die zweite Rakete an diesem Abend in schillerndem Rot am Nachthimmel. Lenkte den Blick der Dunkelhaarigen ruckartig auf die schillernden Funken und presste ein dumpfes, bedrohliches und bebendes Gefühl in ihre Magengrube.
“Was zur Hölle.“, flüsterte sie leise und wandte sich, Liam immer noch an der Schulter ergriffen, vollends zu ihm herum.
Das braune Augenpaar auf das nun mehr dunkel gewordene Sternenmeer gerichtet und aufmerksam in die abrupte Stille hinein horchend. Bis zu jenem Moment, indem sich zwischen das starke Klopfen ihres Lebensmuskels ein weiterer Laut mischte. Ein beständiges Klackern. Nein. Ein Rattern. Skeptisch und aufgewühlt schnellten die braunen Iriden auf die feinen Züge Liams, versuchten in dessen Miene eine Antwort auf die tausend Fragen zu erkennen, die sich in ihrem Kopf überschlugen. Nur um sich dann schlagartig zu Shanaya, Talin und Farley herum zu drehen.
“Wir müssen schleunigst runter von der Straße. Sofort.“
Und mit einem letzten Blick hechtete sie an Liam vorbei auf die Leichen zu. Griff gezielt nach einem Dolch, einer Pistole, Munition und einem Satz voll Wurfmesser, ehe sie zur Gruppe zurück sprintete und fieberhaft in der Dunkelheit nach Fenstern und Türrahmen Ausschau hielt. Hatte sie sich bereits bei ihrem ersten Fluchtversuch auf die Dächer der Stadt gewünscht, bäumte sich das Verlangen unbarmherzig in ihrem Inneren auf. Denn nirgends waren sie sicherer als in den luftigen Höhen über der Stadt.
[erst schützend vor Talin in der Seitengasse | dann bei Shanaya, Talin, Liam und Farley | nach dem Feuerwerk bei den Leichen und auf dem Rückweg zur Gruppe ]