05.09.2019, 18:34
Talins abdriftender Blick ließ ihn zwar die Worte hören, aber nicht ihren Inhalt realisieren. Auf einmal wirkte die Blonde weit fort.
Wo sie wohl war? Und was war es, dass sie dort unangenehm beschlich? Sie hatte von Feinden gesprochen und so mussten es wohl die ihren sein. Wer? Wo? Wann? Was? Warum? Er war kurz davor, sie zu fragen, doch widerstreitende Emotionen hielten ihn zurück. Was ging es ihn an? Nichts! Und selbst wenn er es wüsste, was brächte es? Auf ihn hören würde sie eh nicht. Außerdem hatte er bereits mehr als genug Probleme, da brauchte er nicht auch noch ihre. Sie hatte ihm sowieso noch einiges zu erklären!
Und doch ...
Was hatte sie mit ihren eigenen Worten in sich aufgewühlt?
Erst als sie vom Tisch hüpfte schloß der Schwarzhaarige kurz die Augen. Es war ungewohnt, Zeit und die Wahl zu haben und so nickte er nur.
Kurz darauf befand er sich wieder an Deck, hatte für einen Moment vor der Kajüte verweilt, ehe er aufs Achterdeck gestiegen war und, an der Reling stehend, lange auf den Horizont starrte.
Sie hatten nicht gefragt. Und er auch nicht.
'Warum nicht?'
Diese Frage kreiste durch seine Gedanken, wieder und wieder. Keine der Antworten war einfach.
Die für Lucien vielleicht noch am ehesten:
Es schien dem Offizier, als interessiere sich der Grünäugige einfach nicht dafür, was mit ihm passieren würde, so als wären seine Schwester und die Welten in seinem Kopf wichtiger. Und als könnte er deshalb hemmungslos ehrlich sein.
'Und Talin?'
Er verstand sie einfach nicht.
War es ihr gleichgültig, wer in ihrer Crew diente? War sie so abgebrüht? Wollte sie mit ihm spielen? Verfolgte sie irgendwelche Hintergedanken? Oder war es schlicht Mitleid und Spott?
Und dann diese Aussage!
'Der Feind meines Feindes ist eben nicht zwangsläufig mein Freund!', dachte er bitter, auch wenn das Schicksal ihm scheinbar derzeit geradezu das Gegenteil einbläuen wollte:
Kaladar, Samuel, Lucien, der Attentäter — Nein, der gerade definitiv nicht! Aufgebracht jagte er seine Gedanken zu den Geschwistern zurück. Die Beiden waren sein aktuelles Problem. Vor allem die Blonde:
Alles an ihr regte ihn auf, ließ ihn ihr gleichzeitig eintrichtern wollen, warum ihre unbeteiligte Arroganz so gefährlich wäre und ihr zusehen wollen, wie sie in ihr Unglück stolperte. Außerdem:
Was verbarg sich hinter ihrer Scheinheiligkeit? Und wie konnte sie so drastisch verschieden zu ihrem Bruder sein?
'Oder ist sie das eigentlich gar nicht, sondern ich verrenne mich hier nur, weil ich nicht mit meinen Entscheidungen klar komme und die Beiden meinen das tatsächlich ernst?'
Diese Überlegung war verwirrend und verführerisch zugleich. Denn falls sie das ernst meinten, dann hieße das auch, dass sie es wagten ihm soweit zu vertrauen, dass auch er die Carta ernst nähme, dass er seinen Dienst tun und zumindest so loyal wäre, dass er nicht gegen sie arbeiten würde. Das wäre zwar verwegen aber nicht unrealistisch.
Und er war mit sich selbst definitiv nicht im Reinen.
'Und was, wenn ich gegen sie vorgehen würde?'
Nun, zumindest das lag offen auf der Hand:
Dravean würde ihn erschießen oder sie ihm einen Dolch ins Kreuz rammen. Auch nicht gerade ein Freundschaftsbeweis. Da durfte und würde er sich nichts vormachen. Gegen sie zu arbeiten wäre also ziemlich tötlich, falls er nicht besser als die Beiden zusammen wäre.
Aber wollte er das überhaupt?
Ja: Was war eigentlich mit ihm? Was war denn gerade mit ihm los gewesen? Warum bei allen Untiefen hatte er nicht gefragt?!?
Hart schlug die Faust des Schwarzhaarigen auf das Geländer.
DIESE eine Frage, die, die er von Anfang an hatte stellen wollen, war für ihn alles entscheidend gewesen und er hatte sie nicht gestellt. Stattdessen hatte er gescherzt und gelacht und alles andere gefragt.
War er wirklich so ausgehungert nach dem, was sie ihm anboten?!? So verzweifelt?!?
Wut brandete in ihm auf, Wut über seine eigene Inkonsequens, auf sie, weil sie ihn davon abgebracht hatte und auf die Frage selber, weil sie sich jetzt wieder in alles hineinschlich und die Möglichkeit zu bleiben ihn mehr als sonst hinterfragen ließ.
Und hinuntergehen um die Frage jetzt noch stellen?
Nein, das kam nicht in Frage. Wenn dann später vielleicht, aber jetzt nicht. Jetzt musste er nachdenken.
Langsam stützte er sich auf und ließ seine Gedanken wandern. Erinnerungen stiegen auf, Tote wie Lebende gaben sich ein Stell-dich-ein. Am Ende blieben zwei andere Fragen, die es für ihn, vor allen Anderen, sogar jener, zu beantworten galt:
Was wollte Kaladar?
Und was wäre das Beste für seine Pläne; was um Isabella zu schützen?
Die eine Frage konnte er alleine nicht beantworten und die andere ... hatte gerade ein paar interesante neue Optionen erhalten. Wie die Beiden gesagt hatte: Die Carta würde seine Feinde auch zu ihren machen. Und falls nicht, wer würde Lügnern folgen?
Ein wölfisches Grinsen stahl sich auf Enriques Gesicht.
Vielleicht war das Gespräch doch nicht ganz so schlecht gelaufen, wie er zunächst gedacht hatte. Er hatte zwar keine Antwort auf diese Frage, dafür inzwischen einen brauchbaren Plan ...
Last Post