27.08.2019, 22:35
Aufmerksam lauschte er der Antwort Skadis. War es nicht das mindeste, was man tun konnte, wenn man sich schon mit Jagd über Wasser hielt – alles zu verwerten, was verwertbar war? Liam hatte sich nie groß Gedanken darum gemacht, aber ihnen war auch meist nur mit etwas Glück ein Kaninchen oder Hase in die Falle gegangen, wenn sie unterwegs gewesen waren. An die Jagd auf größeres Wild hatten sie sich nie herangetraut. Und für ein ganzes Dorf hatten sie auch nicht sorgen müssen. Die Felle hatten sie verkauft, wenn es sich ergeben hatte – aber auch das war mehr aus der Not heraus passiert als aus irgendwelchen moralischen Grundsätzen. Doch Skadi lenkte ihn von seinen Gedanken ab, als sie ihm erstaunlich bereitwillig offenbarte, dass ihre Mutter Schneiderin gewesen war. Überrascht zogen sich seine Augenbrauen für einen Augenblick in die Höhe, als er zu ihr aufblickte. „… Also weißt du eigentlich ganz gut, wie es geht, bist nur nicht geübt darin.“, schlussfolgerte er über seine eigene Naivität amüsiert, Skadi wüsste sich in irgendeinem Bereich des Lebens nicht selbst zu helfen. Es überraschte ihn nicht. Als sie fortfuhr, wurde seine Miene ganz automatisch wieder ernster. Abermals kramte er in der Holzschatulle nach Nadel und Faden und konnte nichts daran ändern, dass ihm bei ihren Worten eine ganz bestimmte Person vor Augen erschien. Vermutlich tat er ihm Unrecht, jedenfalls versuchte er, sich das einzureden. Wie dem auch war – ihm erschien es schlauer, ausnahmsweise einfach mal den Mund zu halten. „Definitiv nicht.“, lachte er stattdessen. Eine Uniform war doch nichts anderes, als einen für ein Schachspiel zu kennzeichnen und einem trügerische Verbundenheit vorzugaukeln, während eigentlich jeder jedem in den Rücken fiel, sobald es Vorteile für einen selbst brachte.
Liam war kein Gesetzesloser, aber dem willkürlichen und bestechlichen Regime der Marine oder dem königlichen Hof wollte er sich um nichts in der Welt einfach beugen. Als er gefunden hatte, was er suchte, blickte er seitlich zu ihren feinen Zügen auf, fädelte den Faden durch das Nadelöhr seiner eigenen Nadel und spürte, wie das Lächeln auf seinen Zügen wieder breiter wurde. Einen kurzen Moment überlegte er, ehe er sich räusperte und sich um einen recht ernsten Ton bemühte. „Rein nüchtern betrachtet…“, begann er, sich eines der Hemden auf den Schoß ziehend. „… stündest du wohl ganz oben auf der Liste derer, mit denen es mir am schlausten erscheint, sich in einem Wald zu verlaufen.“ Also ungeachtet jeglicher Sympathien oder Vorlieben, denn man merkte, dass die Natur ein Teil von ihr war. Etwas, in dem sie sich auskannte, wohlfühlte; etwas, wo man ihr nur schwer etwas vormachen konnte.
Gesehen zu haben wie jemand seiner täglichen Arbeit nach ging befähigte einen nicht automatisch dazu, selbiges zu können. Demnach verrannte sich Liam wohl in der Vorstellung, dass Skadi ihrer Mutter mehr als einmal zur Hand gegangen sein musste, um zumindest die Grundzüge ihres Handwerks zu beherrschen. Allerdings vermied es die Jüngere in diesem Moment ihn zu korrigieren und ging viel lieber dazu über es sich auf dem Boden gemütlich zu machen und mit angehaltenem Atem den Faden durch das Nadelöhr zu fädeln. Seine plötzlich ernste Miene bemerkte sie unterdes nicht einmal, hätte jedoch nur mit einem bestätigenden Nicken geantwortet. Womöglich hatte er ein ähnliches Gesicht vor Augen, wie sie selbst. Allerdings wäre ihre Reaktion weniger „negativ“ behaftet gewesen. Immerhin sah sie in ihrem Sorgenkind mehr positive Eigenschaften als vielleicht die meisten auf diesem Schiff. Zumindest konnte sie nun nach allem was geschehen war mit Fug und Recht behaupten, mehr über Enrique zu wissen, als er womöglich selbst beabsichtig hatte. Doch es verschaffte ihr den nötigen Einblick in seine Gefühlswelt, die er sonst so gut unter Verschluss hielt. Nach wie vor hieß sie nicht jede seiner Handlungen für einen Geniestreich, doch sie brachte weitaus mehr Geduld auf, als unter den damaligen Umständen auf der Morgenwind. Und es war ihr weitaus weniger egal wie es ihm ging und was er wirklich über die Dinge dachte, die sie beschäftige. “Nur ganz oben?” Fast schon erschüttert wandte Skadi den dunklen Schopf zur Seite und musterte Liam mit einer Spur von Entrüstung und skeptisch zusammengezogenen Augenbrauen.
“Jetzt bin ich ja schon etwas enttäuscht.“ Mit vorgezogener Unterlippe entlockte sie ihrer Nase ein geräuschvolles Schniefen, senkte die dunklen Augen wieder auf ihren Schoß hinab und ging erst eine gefühlte Ewigkeit später in das breite Grinsen über, das bereits aufgeregt in ihren Mundwinkeln kribbelte. “Aber ich schätze du hast Recht. Und das nicht nur, weil ich seit meiner Kindheit gelernt habe allein im Wald klar zu kommen, sondern ich nicht will, dass du am Ende noch draufgehst.“ Kurz zuckte Skadi zusammen, als sie sich beim ersten Nähversuch gepflogen in den Zeigefinger stach. Fing ja super an.
Er war jemand, der sich kaum eine Möglichkeit entgehen ließ, sich fremde Handwerkskunst näher bringen zu lassen. Neugierig und unbesorgt genug, um auch Dinge zu versuchen, mit denen er bislang vielleicht nicht in Berührung gekommen war oder die ihm vielleicht weniger lagen – einfach, um im Fall der Fälle vielleicht irgendwann auf diese Erfahrungen zurückgreifen zu können. Man musste nicht alles in Perfektion beherrschen. Manchmal reichte ein Grundverständnis, um sich selbst voran zu bringen. Und er schätzte Skadi ähnlich ein; sie hielt ihn auch nicht wirklich davon ab. Mit einem belustigten Schnauben nahm er ihre Reaktion zur Kenntnis, behielt den Blick allerdings vorerst auf das Stück Stoff zwischen seinen Fingern gerichtet, welches er gerade im Begriff war, zu flicken. „Was denn? Wäre dir eine Liste für dich allein lieber?“, fragte er schließlich und war der Brünetten einen kurzen Seiten Blick zu. „Wäre doch langweilig, so ganz allein.“ Vermutlich hatte tatsächlich jeder irgendwelche Vorzüge, wenn man gemeinsam mit ihm im Wald verloren ging. Jeder für sich auf ganz besondere und amüsante Art und Weise. Wie lange Aspen wohl über die Situation motzen würde? „Außerdem gibt es ganz andere Listen, die du momentan für dich alleine hast.“, schob er den Gedanken an einen verzweifelten Prinz Eisenherz mit einem Schmunzeln beiseite und beobachtete seine Finger dabei, wie sie die Nadel abermals durch den Stoff schoben, ohne Skadis Schwierigkeiten mit dem eigenen Faden zu bemerken. Seine Aussage kam ihrem indirekten Kompliment wohl nahe, welches ihm ein triumphierendes Zucken der Mundwinkel entlockte. „Mein Glück. Ich sollte wohl aufpassen, dass das so bleibt. Ich weiß nämlich auch, wer ganz oben auf der Liste der Menschen steht, die einen Körper ungesehen im Wald verschwinden lassen kann.“
Eine Liste nur für sie allein. Das klang vielleicht für den ein oder anderen verlockend, doch Skadi verfolgte definitiv andere Ambitionen. Und dennoch musste sie hörbar darüber schmunzeln und schnaubte abweisend. Blickte erst von ihrem zerstochenen Zeigefinger und den ersten vernähten Fäden auf, als Liam mit einer seltsamen Information heraus rückte. Skeptisch legte sich Skadis Stirn in Falten. “Was für eine Liste?“ Nicht, dass sie es sich nicht ausmalen konnte, doch hielt sie die Möglichkeit dessen einfach für zu absurd. Vielleicht war es dennoch so etwas Niedliches wie „meine allerersten Male“. Das war bei weitem kindlicher als das, was ihr zuerst in den Kopf geschossen war. Ihre darauf folgende Ablenkung fruchtete indes prompt. Und endete in einem Kommentar, der sie kurz innehalten ließ und den gerade noch gesenkten Blick nach oben wandern ließ. Bedächtig als glaubte sie, dass Liams warme Augen sie schlagartig trafen. Doch nichts dergleichen folgte. Der Ältere war vollends mit seiner Arbeit beschäftigt. Andernfalls hätte er wohl den Hauch dessen gesehen, dass Skadi schlagartig unter Kontrolle brachte: den Ausdruck des Ertappt worden seins.
Doch sie wusste, dass er sie damals im Wald nicht gesehen haben konnte und sich wohl einfach auf ihre bisher offenbarten Fähigkeiten berief. Somit blieb ihr nur eine Möglichkeit – das Starten eines Ablenkungsmanövers. “Welchen Grund sollte Josiah haben, dich unter die Erde bringen zu wollen? Soweit ich weiß, sieht sein Ehrenkodex nicht vor harmlose und friedfertige Musiker, die ihm obendrein noch das Leben gerettet haben, das Licht auszuknipsen.“ Mit ernster Miene blickten die dunklen Augen auf die Silhouette des Lockenkopfes. Verstärkten ihren zweifelnden Ausdruck mit einer hinauf schnellenden Augenbraue, die fast zu ihrem Haaransatz reichte.
Er hatte sich vorher keinerlei Gedanken darüber gemacht, wie sie wohl reagieren würde – allerdings war das hier auch nicht mehr für ihn als freundschaftliches Geplänkel. Demnach hatte er auch keinerlei Problem damit, amüsiert einen Mundwinkel zur Seite zu verziehen, als ihre skeptische Reaktion an seine Ohren drang. Die Frage allerdings war zu erwarten gewesen und der Lockenkopf hatte auch jetzt nicht vor, unnötig Süßholz zu raspeln. Diese Art von Zuwendung – diese süße, fast schon naive Art – lag ihnen beiden nicht, ganz davon abgesehen, dass es nicht das war, worauf sie aus waren. „Leute, mit den ich mir gerne die Nachtschicht teile.“, antwortete er ohne große Pause zwischendrin und ohne aufzusehen. „Leute, vor denen ich mich beim Angeln blamiert habe. Marinesoldaten, die mir sympathisch sind. Menschen, denen mein leibliches Wohl am Herzen liegt.“ - An dieser Stelle meinte er übrigens Essen. - „Leute, die nicht davor zurückschrecken, Kindern einen ordentlichen Schrecken einzujagen. Frauen, die mich zeitweise um den Verstand bringen.“ Auch beim letzten Punkt klang seine Stimme weiterhin nach Aufzählung, selbst wenn er kurz zu ihr aufsah, nur um sich danach wieder seiner Arbeit zu widmen. Dementsprechend entging ihm auch der Ausdruck auf ihren Zügen, der ihm verraten hätte, dass er offenbar irgendeinen wunden Punkt getroffen hatte. Skadis Ablenkungsmanöver also war ein voller Erfolg. Liam runzelte die Stirn, als er in seiner Arbeit innehielt und den Blick hob. Wie auch immer sie nun jetzt ausgerechnet auf Josiah kam, erschloss sich ihm nämlich nicht, aber er entschied sich, das Spielchen mitzuspielen. „Wenn ich dir das erzähle, hat er’s vermutlich auch auf dich abgesehen.“ Zugegeben, dem Attentäter würde man derartig kalte Aktionen tatsächlich zutrauen, aber Liam hatte absolut keinen Grund etwas dergleichen von ihm zu erwarten. Er würde ihn also definitiv auf kaltem Fuß erwischen.
”Wow.”, entglitt es Skadi spöttisch mit einem leichten Schnauben. Eine ziemlich häufige Reaktion in den letzten paar Minuten, wie ihr auffiel. “Ich könnte mich ja fast geschmeichelt fühlen.“ Nicht, dass seine Punkte nicht durchaus positiv auf sie zurück fielen, doch irgendwie klang die Auswahl eigenartig. Erwartet hatte sie jedoch nichts weltbewegendes. Somit wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu, wechselte das Thema galant auf jemand anderen und lachte auf, als Liam ihr doch tatsächlich versuchte ein Schnippchen zu schlagen. Nicht, dass sie nicht davon ausging, dass sie mal ein zwei Worte gewechselt hatten, seitdem die Morgenwind auf dem Grund des Meeres versunken war. Doch DAS stank geradezu nach einer feisten Lüge. “Hab nichts zu verlieren.“, entgegnete sie spöttisch und zog den Faden fester. Brummte kurz als sich der Stoff in kleinen Wülsten zusammenzog und ignorierte den klopfenden Perfektionismus in ihrem Hinterkopf. “Ich stünde dann so oder so auf seiner Todesliste, weil er auch meiner gelandet wäre.“ Als wäre es das Banalste der Welt führte Skadi ungestört ihre ungeschickten Stiche weiter und verknotete das Ende des Fadens. Wie ein Meisterwerk sah das jetzt nicht aus, doch wie Liam schon sagte, kam es wohl kaum darauf an. Kraftvoll zerbiss sie das Ende des restlichen Fadens und warf das Hemd zur Seite, um sich das nächste zu schnappen.
Hatte sie etwas anderes erwartet? Wirkte fast so, doch Liam beschäftigte sich nicht weiter mit der Frage und warf ihr lediglich einen flüchtigen Seitenblick zu. „Könntest du.“, fing er dabei ihre selbst aufgezeigte Möglichkeit mit einem unscheinbaren Lächeln beiläufig auf, verknotete das Ende seines Fadens und zerriss die überschüssige Schnur, um das geflickte Hemd auf den fertigen Stapel zu werfen. Hätte er hinter dem plötzlichen Themenwechsel gen Josiah ein Geheimnis vermutet, hätte er wohl auf die Richtung des Gespräches beharrt, so jedoch wunderte er sich lediglich ein wenig, wie sie ausgerechnet auf ihn kam, nahm das Gesprächsthema aber ohne weiteres an. Mit einem belustigten Glucksen wandte er sich dem nächsten Hemd zu, ohne Anstalten zu machen, seine Meinung zu ändern – nicht zuletzt, da Josiah tatsächlich keinen Grund hatte, ihm ein Haar zu krümmen, was Skadi mit Sicherheit wusste. Aber Liam würde sich nicht in übler Nachrede üben, bloß um ihren kleinen Spaß aufrecht zu erhalten. Eigentlich war der Ältere doch gar nicht so übel. Vielleicht berief sich sein Eindruck dabei allerdings auch darauf, dass er nicht unbedingt präsent wirkte durch seine Art als schweigsame Mauer. Als Skadi fortfuhr, lächelte Liam – vielleicht sogar etwas verlegen? – still vor sich hin, bis er den nächsten Stich beendet hatte. „Ich glaube tatsächlich, dass er gar nicht so verkehrt ist.“, gestand er schließlich ehrlich und blickte ernster drein als zuvor noch. ‚Gar nicht so verkehrt‘, wenn man ausblendete, dass er vermutlich etliche Unschuldige auf dem Gewissen hatte, bloß weil irgendjemand mit zu viel Geld sie hatte tot sehen wollen. Doch Liam war gut im Ausblenden, gut im Verdrängen und solange ihm jemand freundlich begegnete, hatte er kein Problem damit, es ihm gleichzutun.
Er musste seine Taten nicht gutheißen – er hatte sie immerhin auch nicht zu verantworten. Und wie er Josiah gegenüber damals schon erwähnt hatte – sie hatten alle ihre Wege gehen müssen, um letztlich hier zu landen. „Aber du kennst ihn vermutlich besser als ich.“ Eine reine Vermutung bloß, immerhin wusste er nicht, wie viel sie vor ihrer Befreiungsaktion tatsächlich mit den Häftlingen zu tun gehabt hatte. „Oder… länger zumindest.“ Aber vermutlich war Skadi auch nicht unbedingt der geduldigste Mensch, um sich in ihrer jetzigen Lage mit jemandem auseinander zu setzen, der so verloren wirkte, ohne es selbst wahrhaben zu wollen. Vermutlich reichte Enrique, um genügend an ihren Kräften zu zerren. Liam hielt in seiner Arbeit inne und griff nach seinem Becher, um sich einen Schluck des Tees zu genehmigen, während seine Gedanken kurz um das Gespräch kreisten, welches er mit dem Älteren gehabt hatte – oder zumindest um das, woran er sich noch erinnerte. Vielleicht war das sogar das redseligste Gespräch gewesen, was jemand mit ihm an Bord dieses Schiffes geführt hatte – abgesehen von Lucien vielleicht. Eigentlich also kein Wunder, dass man ihm alles und nichts gleichzeitig zutraute.