11.08.2019, 17:08
Ruhig aber ernst erwiderte Lucien ihren Blick, als sie ihn direkt ansah. Der Grund für seine Frage war eigentlich ein ganz simpler, ganz naheliegender. Er wusste gern, womit er rechnen musste. Auch wenn er sich das ein oder andere selbst zusammen reimen konnte – einerseits zum Beispiel, dass sie für heute mit großer Wahrscheinlichkeit ihre Ruhe haben würden, andererseits, dass Mardoc nach dieser Pleite mit ebenso großer Sicherheit eine andere Taktik anschlagen würde. Sogar zwangsläufig musste. Aber welche das war, konnte Shanaya ihm am besten beantworten. Der Dunkelhaarige hatte nur nicht damit gerechnet, dass es sie dermaßen aufwühlte, darüber nachzudenken. Zumindest nicht, bis sie ihren Bruder erwähnte.
Mitten auf der Treppe blieb Lucien stehen, hielt sie mit der Hand an ihrem Arm davon ab, die nächste Stufe zu nehmen und zwang sie damit, ebenfalls inne zu halten. Er erinnerte sich daran, wie sie ihm vor ein paar Tagen von ihrem Bruder erzählt hatte. Dem Mann, dem sie die Narben an ihrem Körper verdankte. Ihm, Mardoc und wer wusste, wem noch. Sie hatte gesagt, dass er sich häufig dort aufhielt, wo auch ihre Eltern waren. Und wenn sie für ihre Kandidatur in Birlan nach Mîlui gekommen waren, dann bestand tatsächlich das Risiko, dass er ebenfalls hier war. Eine Tatsache, die der Schwarzhaarigen wohl bewusst sein musste.
„Bleib ruhig, Shanaya.“ Seine gedämpfte Stimme wurde unerwartet sanft und wie vorhin legte er auch jetzt die Hand in einer unendlich zärtlichen Geste an ihre Wange, wartete, bis sie seinem Blick begegnete. „Noch wissen sie nur, dass du hier bist. Und dass jemand bei dir ist. Aber sie wissen nicht, wer ich bin. Sie wissen nicht, mit welchen Schiff du unterwegs bist – oder dass es überhaupt eines gibt. Sie werden dich nicht finden, nicht heute und nicht morgen. Irgendwann vielleicht, ja. Aber hör auf zu denken, du müsstest dich dem alleine stellen. Solange du auf der Sphinx bist, wirst du nicht alleine sein.“
Eine einfache, simple Wahrheit.