15.07.2019, 22:12
Shanaya seufzte lautlos über die Antwort des Mannes. Eines dieser Dinge, die dringend erneuert werden mussten. Noch hielten sie... aber wie lange? Die junge Frau hoffte, dass sie vorher neue beschaffen konnten... Sie nickte aber nur als Antwort, hatte sich wieder ihrer Arbeit gewidmet, da sie nicht davon ausging, dass Liam jetzt noch nachfragte. Aber genau das tat er doch, nachdem er ihre Arbeit ein wenig behinderte. Die junge Frau blinzelte, legte bei seinen Worten den Kopf ein wenig zur Seite. „Du glaubst gar nicht, wie mir das gegen den Strich geht. Ich weiß nichtmal, wer da oben jetzt steht.“ Sie verengte leicht die Augen. „Vielleicht auch besser so...“ Schließlich legte sie jedoch mit einem Seufzen die Hand an den Saum ihrer Bluse, hob sie so hoch, dass der Lockenkopf die Verletzung auf der Höhe ihrer Rippen sehen konnte. „Ich dachte mir, ich lege mich mit meiner Vergangenheit an. Hat funktioniert.“ Sie wusste nicht, wie gut Liam sich mit Wunden auskannte, aber es würde wohl schwer zu übersehen sein, dass die Wunde sehr frisch war. Nicht einmal einen Tag alt. „Und ich gönne mir lieber einen Tag Ruhe, damit ich morgen... irgendwen von meinem Platz weg beißen kann.“
Liams Mundwinkel verzogen sich zu einem sichtbaren Lächeln bei ihrem Kommentar. Er konnte sich gut vorstellen, wie viel Wahrheit in ihren Worten lag – umso schwerwiegender musste aber auch der Grund sein, dass sie hier unten bei ihm stand und nicht dort, wo sie eigentlich hingehörte. „Ich hab‘ nicht drauf geachtet, sonst würde ich mir überlegen, ob ich’s dir erzähle.“, entgegnete er, während sein Blick noch immer auf ihren Zügen lag, obwohl die Hände der Jüngeren längst zum Saum ihrer Bluse hinabgewandert waren. Erst, als sich seine Augen auf das senkten, was sie durch Hochziehen ihres Oberteils offenlegte, wanderte eine unangenehme Erkenntnis über sein Gesicht. „Ach, scheiße.“, zischte er leise beim Anblick der Wunde. „Ist das… eine Schusswunde?“ Himmel, Liam wusste nicht zuletzt wegen seiner eigenen Schusswunde, wie so etwas aussah. Und vor allem wusste er, wie schmerzhaft jegliche Bewegung damit war. „Was zum Henker hat deine Vergangenheit gegen dich, dass sie dich anschießen muss? Davon abgesehen, dass ich davon ausgehe, dass das ‚An‘-Schießen nur ein Versehen war.“ Nachdenklich wanderte sein Blick wieder hoch zu ihren Augen, überlegte und sah davon ab, sie zu mehr als einem Tag ‚Ruhe‘ zu überreden. Das würde sowieso nicht funktionieren. „Das ist noch nicht lange her. Warum hast du nichts gesagt?“
Shanaya schmunzelte ein wenig breiter. „Für den Frieden ist es besser, wenn ich es nicht weiß...“ Damit war das Thema für die junge Frau allerdings beendet, Liam betrachtete die Wunde und entlockte ihr mit seiner Frage ein ruhiges Nicken, sie wartete jedoch auf die nächsten Fragen. „Tja... ein Teil davon hätte mich gern zurück, um mir Manieren einzuprügeln. Wenn nicht lebendig, dann eben tot.“ Das war ihrem Vater vollkommen egal. Wie alles, was sie betraf. Außer sie besudelte den Ruf der Familie. „Und das war eine 'Ich hab' noch eine versteckte Waffe' Überraschung...“ Die Schwarzhaarige seufzte bei dem Gedanken daran. Sie war ihm so gut entkommen... „Gestern, um genau zu sein. Einer der Gründe, wieso wir recht schnell abgelegt sind.“ Die letzte Frage des Mannes ließ sie leise schnaufen, allerdings amüsiert. „Ich bin nicht so aufmerksamkeitsgeil, dass ich mit jedem Wehwehchen zu irgendwem renne und ihm etwas aufzwänge. Die, denen es irgendwie wichtig ist, erfahren es von selbst... der Rest interessiert sich so oder so nicht dafür.“
Liam konnte gar nicht anders, als verständnislos den Kopf zu schütteln. Auch, wenn Shanaya nicht genau betitelte, wer sie zurückhaben wollte – Manieren wollten einem meist nur eine bestimmte Personengruppe einbläuen. Und der Lockenkopf erschauderte bei dem Gedanken, wie furchtbar es sein musste, eine derartige Familie zu haben. „Mit so einer Familie braucht man wirklich keine Feinde mehr.“ Wenn er falsch lag, konnte sie ihn noch immer berichtigen, aber allmählich glaubte er ihre Konversation auf der einsamen Insel zu verstehen. „Himmel, Shanaya, hier geht es nicht darum, dass du über’s Deck tanzen sollst, um jedem deine Narben unter die Nase zu reiben. Und das hier ist nicht bloß ein Wehwehchen.“, entgegnete er ernst und erstaunlich nachdrücklich. „Hast du gestern erst erfahren, dass sie auf Milui sind? Und haben sie gesehen, wohin du verschwunden bist?“ Während er fragte, wusste er noch nicht genau, weshalb ihm die Antwort darauf wichtig war. Vielleicht, weil er hoffte, dass Shanaya sonst früher zum Aufbruch getrieben oder irgendjemandem irgendetwas anvertraut hätte. Und, weil er hoffte, dass sie nun nicht auch noch ihre Verwandtschaft am Rockzipfel hatten. Das würde nämlich zwangsläufig bedeuten, dass sie es nicht einfach unter den Teppich kehren konnten. Dann betraf es nämlich nicht mehr nur sie, sondern jeden einzelnen, der auf diesem Schiff weilte. „Hör zu. Von mir aus kannst du hier unten offiziell so viel herumgeräumt haben, wie du willst.“, begann er schließlich und fuhr sich kurz nachdenklich durch die Haare, während er sich einen groben Überblick zu schaffen versuchte. „Ich vertaue das Zeug für dich, während du dich hinsetzt und mir erzählst, wie es so weit kommen konnte, okay? Die Netze kann ich auch später flicken. Von mir erwartet ja sowieso niemand etwas.“ Mit einem kurzen Zucken im Mundwinkel gab er sein Fass frei, damit sie sich dort hinsetzen konnte, wenn sie wollte. „Wenn sich die Wunde nämlich entzündet, kannst du dich ein bisschen länger vom Steuer verabschieden. Und ich will mir nicht ausmalen, wohin wir segeln, wenn ein anderer dran steht.“
Shanaya wog den Kopf bei den Worten des Mannes leicht zur Seite. Wahre Worte. „Absolut nicht. Deswegen habe ich auch keine Feine – außer denen.“ Was er dann sagte, entlockte ihr ein leises Schnaufen. „Genau das hätte ich aber tun müssen. Liam, die Wunde ist nichtmal einen Tag alt. Außerdem kann ich aufrecht stehen. Ich sehe also kein Problem.“ Und das sah sie wirklich nicht. Sie hatte schon deutlich Schlimmeres überstanden. „Ich hatte auf dem Fest die Vermutung, dass einer von ihnen in der Nähe ist. Aber gestern haben sie mich erst gefunden. Und die meisten von ihnen sind nicht mehr am Leben – der letzte Überlebende hatte glaube ich andere Sorgen, als zu verfolgen, wohin ich gehe.“ Zumal ihr erster Weg sie in die Lagerhalle geführt hatte. Sie war vielleicht nicht bei Sinnen gewesen, Lucien wäre allerdings sicher etwas aufgefallen. „Egal, ob sie gesehen haben, wohin ich gegangen bin, suchen werden sie mich so oder so.“ Dessen war sie sich vollkommen sicher, Mardoc würde das nicht so ruhen lassen. Allein schon, weil er ihren Captain... naja. „Was genau willst du wissen?“ Sie wusste nicht, was sie dem Dunkelhaarigen erzählen konnte. Lucien... sie war es ihm schuldig gewesen. Aber jetzt bei Liam? Es kam ganz auf seine Frage an. „Und du willst mich deswegen jetzt an der Arbeit hindern, bis die Wunde verheilt ist? Ich hab' schon deutlich schlimmeres überlebt.“
Liam hatte gewusst, dass es nicht einfach werden würde. Er stand hier immerhin keinem Mädchen gegenüber, das gerne Ratschläge eines anderen annahm. Shanaya war mehr darauf aus, genau das Gegenteil von dem zu tun, was man ihr riet – bloß, um zu beweisen, dass sie es doch schaffte. Himmel, vermutlich war das eine Situation, in der er sich früher oder später wünschen würde, ihm wäre ihr Wohlbefinden ähnlich egal wie den meisten anderen hier. War es aber nicht und es bedurfte schon etwas mehr Gegenwehr, um ihn an den Punkt zu bringen, an dem er sie tun und lassen ließ, was sie wollte. Seine Absicht war es nicht, sie um alles in der Welt an irgendetwas zu hindern, aber er hoffte, dass irgendwo in ihr drin ein Fünkchen Vernunft steckte, das er herausgekitzelt bekam. „Noch.“, entgegnete er trocken gefolgt von einem Schulterzucken. Aber wenn sie nicht mehr aufrecht stehen konnte, hätten sie zumindest ein Problem weniger. „Die Frage ist, ob sie wissen, wo sie suchen müssen oder nicht. Die Sphinx ist nicht unbedingt das Unauffälligste aller Schiffe. Ich sag’s nicht gerne, aber wenn sie bereit sind, über Leichen zu gehen, um dich zu bekommen, haben sie alle ein Recht darauf, es zu erfahren.“ Noch klang es nach einer reinen Hypothese. Liam war der letzte, der ihr solch eine Entscheidung abnehmen würde. Und das wusste sie hoffentlich. Er war keine Tratschtante und das, was sie hier besprachen, würde den Frachtraum gewiss nicht durch ihn verlassen. Bei ihrer Befürchtung schnaufte er belustigt. „Um Gottes Willen, ich bin nicht lebensmüde. Aber zumindest heute, ja.“, entschied er und hob die nächste Kiste demonstrativ auf eine weitere. „Warum sie dich tot sehen wollen, zum Beispiel. Was muss in einer Familie schief laufen, dass man den Gedanken erträgt, sein eigenes Kind tot zu sehen.“ Das Unverständnis in seiner Stimme war ehrlich.
Shanaya strich sich ruhig eine Strähne aus dem Gesicht, ließ den blauen Blick dabei auf Liam ruhen. Sie war nie der Typ gewesen, der sich lang schonte. Vielleicht auch, weil sie sich die Schwäche, krank zu sein, nie hatte gönnen dürfen. Allein die Zeit auf dem Schiff ihres Bruders hätte sie so gewiss nicht überstanden. „Wenn ich nicht mehr stehen kann, muss immerhin niemand mahnend mit dem Finger wedeln.“ Sie grinste. „Ich weiß nicht, ob er irgendwelche Spitzel hatte. Uns hat jedenfalls niemand mehr verfolgt. Und... genau deswegen frage ich dich, was du wissen willst. Wobei ihr ihnen egal seid, solange ihr nicht zwischen mir und ihnen steht.“ So wie Lucien es getan hatte. Immerhin schien der Lockenkopf sie nicht all zu lange einengen zu wollen. Besser für ihn, irgendwann hätte sie ihm sicher dafür die Nase oder ein Ohr abgebissen. Mit skeptischer Miene beobachtete die junge Frau, wie er sich um eine der Kisten kümmerte. Einen Moment überlegte sie, selbst wieder Hand anzulegen... Aber Liam war vermutlich nicht nur in ihrer jetzigen Verfassung kräftiger. „Tja...“ Sie haderte. Es gefiel ihr nicht, all diese Dinge auszupacken. Es reichte, wenn es auf diesem Schiff eine Person gab, die zu viel wusste. Sie seufzte, setzte dann doch zu einer Antwort an. „Meinem Vater reicht es, dass ich seiner Meinung nach in das falsche Geschlecht geboren wurde. Und dazu einen eigenen Willen habe. Ich beschmutze den Ruf der Familie – da passt es ihm besser, wenn ich tot wäre. Also schickt er seine Schläger, die mich auf Milui gefunden haben.“
Liam lächelte, selbst wenn es nicht das gewesen war, was er hatte hören wollen. Das Schlimme war – er konnte sie verstehen. War er es nicht gewesen, der sich damals nur notdürftig von Gregory hatte versorgen lassen? Vielleicht sein Glück, dass die Dunkelhaarige das gerade nicht derart auf dem Schirm hatte, um es gegen ihn zu verwenden. Er wusste, wie es war, wenn man sich nicht erlauben konnte, eingeschränkt zu sein. Umso wichtiger aber war es, diesen Luxus zu nutzen, solange man ihn hatte. Sie waren hier alle nicht allein und auch, wenn sie mehr der Zufall als irgendeine Art Freundschaft zusammengerottet hatte, mussten sie doch irgendwie zusammenhalten, oder? Das Nicken, das folgte, als sie es für unwahrscheinlich hielt, dass sie jemand mit diesem Schiff in Verbindung bringen würde, trieb zumindest eine Sorgenfalte aus seiner Stirn, während sich einen Augenblick später schon wieder ein sachtes Schmunzeln auf seinen Zügen ausbreitete. Auf eine bizarre Art und Weise war ihm leider klar, dass er nicht für alle sprechen konnte. Aber wenn es nach seinem Weltbild ging, hingen sie zumindest so lange, wie sie gemeinsam auf der Sphinx segelten, gemeinsam in ihren Angelegenheiten. „Und genau da wäre vermutlich der Knackpunkt.“, versicherte er ihr indirekt seine Loyalität und warf ihr einen flüchtigen Blick zu. Das hatte nur sekundär etwas mit ihr persönlich zu tun. In seinen Augen gehörte sich das, wenn man eine Mannschaft war – vorausgesetzt, der Gegenüber nutzte das nicht scharmlos aus. Recht zufrieden nahm der Lockenkopf wahr, dass sie die Hände für den Augenblick tatsächlich von den Kisten ließ. Ihm entging nicht, dass sie haderte – ob nun, weil es ihr schwerfiel, den Gedanken zu greifen oder ihr Wissen auszuplaudern, wusste er allerdings nicht. „Du meinst, weil du es dir ausgesucht hast, ein Teil von ihnen zu sein. Und weil es sicherlich ein besseres Licht auf die eigene Familie wirft, wenn man sich gegenseitig meuchelt, als seine Tochter einfach ungeachtet ihren Weg gehen zu lassen, als hätte es sie nicht gegeben.“ Letzteres war natürlich auch keine gute Option, die sich für eine Familie gehörte, aber eine, die weitaus weniger Probleme und Mühen mit sich gebracht hatte. Die Ironie in seiner Stimme erschreckte ihn selbst ein wenig, bis er die Kiste etwas unsanft auf die untere stellte und hörbar seufzte. „Gott, dieser Adel ist wirklich widerwertig. Entschuldige.“ Wie konnte man bloß so sehr auf die Meinungen anderer angewiesen sein? Liam verstand das Gefecht der Reichen und Mächtigen wirklich nicht. Aber je mehr er darüber erfuhr, desto weniger wollte er es.
Shanaya spürte diese leichte Ziehen in ihrem Inneren, das sie davon abhalten wollte, mehr zu erzählen. So etwas fiel ihr nie leicht, aber Liam gehörte zu dem winzigen Kreis, dem sie dieses Wissen ohne vollkommen schlechtes Gefühl anvertrauen konnte. Zumindest hoffte sie, dass sie sich nicht in dem Dunkelhaarigen täuschte. Seine Worte lockten einen hämischen Ausdruck auf ihre Züge. Wenn nur jeder so denken würde... „Tja... Unfälle passieren. Da kann die Tochter, die so gar nicht ihre Rolle spielt, schonmal irgendwelchen Schlägern zum Opfer fallen. Das Gegenteil kann sie dann ja nicht mehr beweisen. Ihm ist alles Recht, solange er seinen Willen bekommt.“ Ihm war jegliches Leben egal, solange sein Ruf und sein Leben gewahrt waren. „Vielleicht würde er meine Leiche auch verschwinden lassen. Niemand weiß, wo ich geblieben bin.“ Sie grinste ein wenig breiter. „Er verlässt sich darauf, dass eh niemand nach mir suchen würde.“ Ihre Stimme klang nicht verbittert, eher amüsiert. Bis zu einem gewissen Grad hatte er da gewiss Recht mit. „Und dabei sind sie noch nicht einmal im Adel aufgenommen. Aber sie verhalten sich schon so...“
Liam fand keinen anderen Ausdruck dazu als widerwertig. Nicht einmal Ratten verhielten sich so. „Ja, Unfälle passieren.“, wiederholte er und musste gestehen, dass sie dagegen wohl oder übel machtlos waren. Kurz besah er sich ihre Gestalt aus dem Augenwinkel, merkte aber selbst, dass ein ‚Dann weiß ich, woher du das hast‘ alles andere als angebracht war. Man konnte seine Wurzeln nicht leugnen, das stimmte. Aber man konnte eigenständig die Entscheidung treffen, sich abzukapseln, nichts mit deren Angelegenheiten zu tun haben zu wollen. In Shanayas Fall jedenfalls und da hatte ihr nichts und niemand in die Entscheidung reinzureden. „Da macht er seine Rechnung wohl ohne uns.“, eröffnete er ihr ohne großes Zögern, selbst wenn er danach eine kurze Zeit lang schwieg, bis er die Kiste an einem der Pfähle vertaut hatte. „Ich weiß zwar, dass ich bei weitem nicht für jeden auf diesem Schiff sprechen kann, aber… Da, wo ich herkomme, hält man seinen Freunden den Rücken frei. Koste es, was es wolle.“
Liams Mundwinkel verzogen sich zu einem sichtbaren Lächeln bei ihrem Kommentar. Er konnte sich gut vorstellen, wie viel Wahrheit in ihren Worten lag – umso schwerwiegender musste aber auch der Grund sein, dass sie hier unten bei ihm stand und nicht dort, wo sie eigentlich hingehörte. „Ich hab‘ nicht drauf geachtet, sonst würde ich mir überlegen, ob ich’s dir erzähle.“, entgegnete er, während sein Blick noch immer auf ihren Zügen lag, obwohl die Hände der Jüngeren längst zum Saum ihrer Bluse hinabgewandert waren. Erst, als sich seine Augen auf das senkten, was sie durch Hochziehen ihres Oberteils offenlegte, wanderte eine unangenehme Erkenntnis über sein Gesicht. „Ach, scheiße.“, zischte er leise beim Anblick der Wunde. „Ist das… eine Schusswunde?“ Himmel, Liam wusste nicht zuletzt wegen seiner eigenen Schusswunde, wie so etwas aussah. Und vor allem wusste er, wie schmerzhaft jegliche Bewegung damit war. „Was zum Henker hat deine Vergangenheit gegen dich, dass sie dich anschießen muss? Davon abgesehen, dass ich davon ausgehe, dass das ‚An‘-Schießen nur ein Versehen war.“ Nachdenklich wanderte sein Blick wieder hoch zu ihren Augen, überlegte und sah davon ab, sie zu mehr als einem Tag ‚Ruhe‘ zu überreden. Das würde sowieso nicht funktionieren. „Das ist noch nicht lange her. Warum hast du nichts gesagt?“
Shanaya schmunzelte ein wenig breiter. „Für den Frieden ist es besser, wenn ich es nicht weiß...“ Damit war das Thema für die junge Frau allerdings beendet, Liam betrachtete die Wunde und entlockte ihr mit seiner Frage ein ruhiges Nicken, sie wartete jedoch auf die nächsten Fragen. „Tja... ein Teil davon hätte mich gern zurück, um mir Manieren einzuprügeln. Wenn nicht lebendig, dann eben tot.“ Das war ihrem Vater vollkommen egal. Wie alles, was sie betraf. Außer sie besudelte den Ruf der Familie. „Und das war eine 'Ich hab' noch eine versteckte Waffe' Überraschung...“ Die Schwarzhaarige seufzte bei dem Gedanken daran. Sie war ihm so gut entkommen... „Gestern, um genau zu sein. Einer der Gründe, wieso wir recht schnell abgelegt sind.“ Die letzte Frage des Mannes ließ sie leise schnaufen, allerdings amüsiert. „Ich bin nicht so aufmerksamkeitsgeil, dass ich mit jedem Wehwehchen zu irgendwem renne und ihm etwas aufzwänge. Die, denen es irgendwie wichtig ist, erfahren es von selbst... der Rest interessiert sich so oder so nicht dafür.“
Liam konnte gar nicht anders, als verständnislos den Kopf zu schütteln. Auch, wenn Shanaya nicht genau betitelte, wer sie zurückhaben wollte – Manieren wollten einem meist nur eine bestimmte Personengruppe einbläuen. Und der Lockenkopf erschauderte bei dem Gedanken, wie furchtbar es sein musste, eine derartige Familie zu haben. „Mit so einer Familie braucht man wirklich keine Feinde mehr.“ Wenn er falsch lag, konnte sie ihn noch immer berichtigen, aber allmählich glaubte er ihre Konversation auf der einsamen Insel zu verstehen. „Himmel, Shanaya, hier geht es nicht darum, dass du über’s Deck tanzen sollst, um jedem deine Narben unter die Nase zu reiben. Und das hier ist nicht bloß ein Wehwehchen.“, entgegnete er ernst und erstaunlich nachdrücklich. „Hast du gestern erst erfahren, dass sie auf Milui sind? Und haben sie gesehen, wohin du verschwunden bist?“ Während er fragte, wusste er noch nicht genau, weshalb ihm die Antwort darauf wichtig war. Vielleicht, weil er hoffte, dass Shanaya sonst früher zum Aufbruch getrieben oder irgendjemandem irgendetwas anvertraut hätte. Und, weil er hoffte, dass sie nun nicht auch noch ihre Verwandtschaft am Rockzipfel hatten. Das würde nämlich zwangsläufig bedeuten, dass sie es nicht einfach unter den Teppich kehren konnten. Dann betraf es nämlich nicht mehr nur sie, sondern jeden einzelnen, der auf diesem Schiff weilte. „Hör zu. Von mir aus kannst du hier unten offiziell so viel herumgeräumt haben, wie du willst.“, begann er schließlich und fuhr sich kurz nachdenklich durch die Haare, während er sich einen groben Überblick zu schaffen versuchte. „Ich vertaue das Zeug für dich, während du dich hinsetzt und mir erzählst, wie es so weit kommen konnte, okay? Die Netze kann ich auch später flicken. Von mir erwartet ja sowieso niemand etwas.“ Mit einem kurzen Zucken im Mundwinkel gab er sein Fass frei, damit sie sich dort hinsetzen konnte, wenn sie wollte. „Wenn sich die Wunde nämlich entzündet, kannst du dich ein bisschen länger vom Steuer verabschieden. Und ich will mir nicht ausmalen, wohin wir segeln, wenn ein anderer dran steht.“
Shanaya wog den Kopf bei den Worten des Mannes leicht zur Seite. Wahre Worte. „Absolut nicht. Deswegen habe ich auch keine Feine – außer denen.“ Was er dann sagte, entlockte ihr ein leises Schnaufen. „Genau das hätte ich aber tun müssen. Liam, die Wunde ist nichtmal einen Tag alt. Außerdem kann ich aufrecht stehen. Ich sehe also kein Problem.“ Und das sah sie wirklich nicht. Sie hatte schon deutlich Schlimmeres überstanden. „Ich hatte auf dem Fest die Vermutung, dass einer von ihnen in der Nähe ist. Aber gestern haben sie mich erst gefunden. Und die meisten von ihnen sind nicht mehr am Leben – der letzte Überlebende hatte glaube ich andere Sorgen, als zu verfolgen, wohin ich gehe.“ Zumal ihr erster Weg sie in die Lagerhalle geführt hatte. Sie war vielleicht nicht bei Sinnen gewesen, Lucien wäre allerdings sicher etwas aufgefallen. „Egal, ob sie gesehen haben, wohin ich gegangen bin, suchen werden sie mich so oder so.“ Dessen war sie sich vollkommen sicher, Mardoc würde das nicht so ruhen lassen. Allein schon, weil er ihren Captain... naja. „Was genau willst du wissen?“ Sie wusste nicht, was sie dem Dunkelhaarigen erzählen konnte. Lucien... sie war es ihm schuldig gewesen. Aber jetzt bei Liam? Es kam ganz auf seine Frage an. „Und du willst mich deswegen jetzt an der Arbeit hindern, bis die Wunde verheilt ist? Ich hab' schon deutlich schlimmeres überlebt.“
Liam hatte gewusst, dass es nicht einfach werden würde. Er stand hier immerhin keinem Mädchen gegenüber, das gerne Ratschläge eines anderen annahm. Shanaya war mehr darauf aus, genau das Gegenteil von dem zu tun, was man ihr riet – bloß, um zu beweisen, dass sie es doch schaffte. Himmel, vermutlich war das eine Situation, in der er sich früher oder später wünschen würde, ihm wäre ihr Wohlbefinden ähnlich egal wie den meisten anderen hier. War es aber nicht und es bedurfte schon etwas mehr Gegenwehr, um ihn an den Punkt zu bringen, an dem er sie tun und lassen ließ, was sie wollte. Seine Absicht war es nicht, sie um alles in der Welt an irgendetwas zu hindern, aber er hoffte, dass irgendwo in ihr drin ein Fünkchen Vernunft steckte, das er herausgekitzelt bekam. „Noch.“, entgegnete er trocken gefolgt von einem Schulterzucken. Aber wenn sie nicht mehr aufrecht stehen konnte, hätten sie zumindest ein Problem weniger. „Die Frage ist, ob sie wissen, wo sie suchen müssen oder nicht. Die Sphinx ist nicht unbedingt das Unauffälligste aller Schiffe. Ich sag’s nicht gerne, aber wenn sie bereit sind, über Leichen zu gehen, um dich zu bekommen, haben sie alle ein Recht darauf, es zu erfahren.“ Noch klang es nach einer reinen Hypothese. Liam war der letzte, der ihr solch eine Entscheidung abnehmen würde. Und das wusste sie hoffentlich. Er war keine Tratschtante und das, was sie hier besprachen, würde den Frachtraum gewiss nicht durch ihn verlassen. Bei ihrer Befürchtung schnaufte er belustigt. „Um Gottes Willen, ich bin nicht lebensmüde. Aber zumindest heute, ja.“, entschied er und hob die nächste Kiste demonstrativ auf eine weitere. „Warum sie dich tot sehen wollen, zum Beispiel. Was muss in einer Familie schief laufen, dass man den Gedanken erträgt, sein eigenes Kind tot zu sehen.“ Das Unverständnis in seiner Stimme war ehrlich.
Shanaya strich sich ruhig eine Strähne aus dem Gesicht, ließ den blauen Blick dabei auf Liam ruhen. Sie war nie der Typ gewesen, der sich lang schonte. Vielleicht auch, weil sie sich die Schwäche, krank zu sein, nie hatte gönnen dürfen. Allein die Zeit auf dem Schiff ihres Bruders hätte sie so gewiss nicht überstanden. „Wenn ich nicht mehr stehen kann, muss immerhin niemand mahnend mit dem Finger wedeln.“ Sie grinste. „Ich weiß nicht, ob er irgendwelche Spitzel hatte. Uns hat jedenfalls niemand mehr verfolgt. Und... genau deswegen frage ich dich, was du wissen willst. Wobei ihr ihnen egal seid, solange ihr nicht zwischen mir und ihnen steht.“ So wie Lucien es getan hatte. Immerhin schien der Lockenkopf sie nicht all zu lange einengen zu wollen. Besser für ihn, irgendwann hätte sie ihm sicher dafür die Nase oder ein Ohr abgebissen. Mit skeptischer Miene beobachtete die junge Frau, wie er sich um eine der Kisten kümmerte. Einen Moment überlegte sie, selbst wieder Hand anzulegen... Aber Liam war vermutlich nicht nur in ihrer jetzigen Verfassung kräftiger. „Tja...“ Sie haderte. Es gefiel ihr nicht, all diese Dinge auszupacken. Es reichte, wenn es auf diesem Schiff eine Person gab, die zu viel wusste. Sie seufzte, setzte dann doch zu einer Antwort an. „Meinem Vater reicht es, dass ich seiner Meinung nach in das falsche Geschlecht geboren wurde. Und dazu einen eigenen Willen habe. Ich beschmutze den Ruf der Familie – da passt es ihm besser, wenn ich tot wäre. Also schickt er seine Schläger, die mich auf Milui gefunden haben.“
Liam lächelte, selbst wenn es nicht das gewesen war, was er hatte hören wollen. Das Schlimme war – er konnte sie verstehen. War er es nicht gewesen, der sich damals nur notdürftig von Gregory hatte versorgen lassen? Vielleicht sein Glück, dass die Dunkelhaarige das gerade nicht derart auf dem Schirm hatte, um es gegen ihn zu verwenden. Er wusste, wie es war, wenn man sich nicht erlauben konnte, eingeschränkt zu sein. Umso wichtiger aber war es, diesen Luxus zu nutzen, solange man ihn hatte. Sie waren hier alle nicht allein und auch, wenn sie mehr der Zufall als irgendeine Art Freundschaft zusammengerottet hatte, mussten sie doch irgendwie zusammenhalten, oder? Das Nicken, das folgte, als sie es für unwahrscheinlich hielt, dass sie jemand mit diesem Schiff in Verbindung bringen würde, trieb zumindest eine Sorgenfalte aus seiner Stirn, während sich einen Augenblick später schon wieder ein sachtes Schmunzeln auf seinen Zügen ausbreitete. Auf eine bizarre Art und Weise war ihm leider klar, dass er nicht für alle sprechen konnte. Aber wenn es nach seinem Weltbild ging, hingen sie zumindest so lange, wie sie gemeinsam auf der Sphinx segelten, gemeinsam in ihren Angelegenheiten. „Und genau da wäre vermutlich der Knackpunkt.“, versicherte er ihr indirekt seine Loyalität und warf ihr einen flüchtigen Blick zu. Das hatte nur sekundär etwas mit ihr persönlich zu tun. In seinen Augen gehörte sich das, wenn man eine Mannschaft war – vorausgesetzt, der Gegenüber nutzte das nicht scharmlos aus. Recht zufrieden nahm der Lockenkopf wahr, dass sie die Hände für den Augenblick tatsächlich von den Kisten ließ. Ihm entging nicht, dass sie haderte – ob nun, weil es ihr schwerfiel, den Gedanken zu greifen oder ihr Wissen auszuplaudern, wusste er allerdings nicht. „Du meinst, weil du es dir ausgesucht hast, ein Teil von ihnen zu sein. Und weil es sicherlich ein besseres Licht auf die eigene Familie wirft, wenn man sich gegenseitig meuchelt, als seine Tochter einfach ungeachtet ihren Weg gehen zu lassen, als hätte es sie nicht gegeben.“ Letzteres war natürlich auch keine gute Option, die sich für eine Familie gehörte, aber eine, die weitaus weniger Probleme und Mühen mit sich gebracht hatte. Die Ironie in seiner Stimme erschreckte ihn selbst ein wenig, bis er die Kiste etwas unsanft auf die untere stellte und hörbar seufzte. „Gott, dieser Adel ist wirklich widerwertig. Entschuldige.“ Wie konnte man bloß so sehr auf die Meinungen anderer angewiesen sein? Liam verstand das Gefecht der Reichen und Mächtigen wirklich nicht. Aber je mehr er darüber erfuhr, desto weniger wollte er es.
Shanaya spürte diese leichte Ziehen in ihrem Inneren, das sie davon abhalten wollte, mehr zu erzählen. So etwas fiel ihr nie leicht, aber Liam gehörte zu dem winzigen Kreis, dem sie dieses Wissen ohne vollkommen schlechtes Gefühl anvertrauen konnte. Zumindest hoffte sie, dass sie sich nicht in dem Dunkelhaarigen täuschte. Seine Worte lockten einen hämischen Ausdruck auf ihre Züge. Wenn nur jeder so denken würde... „Tja... Unfälle passieren. Da kann die Tochter, die so gar nicht ihre Rolle spielt, schonmal irgendwelchen Schlägern zum Opfer fallen. Das Gegenteil kann sie dann ja nicht mehr beweisen. Ihm ist alles Recht, solange er seinen Willen bekommt.“ Ihm war jegliches Leben egal, solange sein Ruf und sein Leben gewahrt waren. „Vielleicht würde er meine Leiche auch verschwinden lassen. Niemand weiß, wo ich geblieben bin.“ Sie grinste ein wenig breiter. „Er verlässt sich darauf, dass eh niemand nach mir suchen würde.“ Ihre Stimme klang nicht verbittert, eher amüsiert. Bis zu einem gewissen Grad hatte er da gewiss Recht mit. „Und dabei sind sie noch nicht einmal im Adel aufgenommen. Aber sie verhalten sich schon so...“
Liam fand keinen anderen Ausdruck dazu als widerwertig. Nicht einmal Ratten verhielten sich so. „Ja, Unfälle passieren.“, wiederholte er und musste gestehen, dass sie dagegen wohl oder übel machtlos waren. Kurz besah er sich ihre Gestalt aus dem Augenwinkel, merkte aber selbst, dass ein ‚Dann weiß ich, woher du das hast‘ alles andere als angebracht war. Man konnte seine Wurzeln nicht leugnen, das stimmte. Aber man konnte eigenständig die Entscheidung treffen, sich abzukapseln, nichts mit deren Angelegenheiten zu tun haben zu wollen. In Shanayas Fall jedenfalls und da hatte ihr nichts und niemand in die Entscheidung reinzureden. „Da macht er seine Rechnung wohl ohne uns.“, eröffnete er ihr ohne großes Zögern, selbst wenn er danach eine kurze Zeit lang schwieg, bis er die Kiste an einem der Pfähle vertaut hatte. „Ich weiß zwar, dass ich bei weitem nicht für jeden auf diesem Schiff sprechen kann, aber… Da, wo ich herkomme, hält man seinen Freunden den Rücken frei. Koste es, was es wolle.“