10.07.2019, 09:21
Als Lucien so leise wie möglich die Treppe zur Galerie erklomm, schüttelte er mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen den Kopf über seine Begleiterin. Von hier aus versperrten ihm eine Gruppe Kisten den Blick auf das Fenster, durch das sie gekommen waren und den Platz, an dem Shanaya sich um ihre Wunde kümmerte. Dennoch musste er sich bewusst ablenken, um das Bild der Nadel aus seinem Kopf zu verbannen, die sie wie selbstverständlich auf ihre Haut setzte. Allein das reichte im Normalfall, um sein Herz schneller schlagen und das Blut aus seinem Gesicht weichen zu lassen. Er war deshalb dankbar, dass sich ihm eine passende Ausrede anbot.
Die obere Etage war, ganz so, wie Lucien es erhofft hatte, ein wahrer Glücksgriff. Die Galerie führte an der Wand entlang zur Stirnseite der Halle und endete in einer Tür, hinter der sich ein geräumiges Büro verbarg. Ein gewaltiger Schreibtisch bildete das Herzstück des Raumes. Dahinter, an der Wand, reihte sich Aktenschrank um Aktenschrank. Links neben der Tür stand ein weich gepolstertes Sofa auf hölzernen Beinen, eingefasst von einem massiv wirkenden Schrank und einer länglichen Kommode. Letztere wurde sein erstes Ziel. Sie enthielt Schuhe und Hemden, eine Reihe in Leder gebundene Folianten, eine Schatulle mit Zigarren und eine Taschenuhr aus Messing. Die und die Zigarren ließ Lucien kurzerhand in seiner eigenen Tasche verschwinden. Dann machte er sich daran, auch den Rest des Raumes zu durchsuchen.
Verbandsmaterial in dem Sinne fand er nicht. Aber es brauchte nicht viel, um mit seinem Dolch mehrere, handbreite Bahnen Stoff aus den Hemden zu schneiden, die in der Kommode lagen. Ganz so, als hätte er das nicht zum ersten Mal getan. Er wickelte die provisorischen Verbände zu einer Rolle auf und machte sich auf den Rückweg.
In dem Moment, als das Fenster hinter den Kisten zum Vorschein kam, an dessen Fuße Shanaya hätte sitzen sollen, hielt der junge Captain unwillkürlich inne. Spannte sich. Selbst sein Herzschlag schien kurz zu stoppen. Nur um dann, als eine Bewegung viel weiter links seine Aufmerksamkeit dorthin lenkte, leicht aus dem Takt gebracht wieder einzusetzen. Verdammtes Weib! Für einen Sekundenbruchteil hatte er tatsächlich gedacht, Mardoc und sein dämlicher Schläger wären zurück gekommen und hätten sie gefunden. Halb gereizt, halb erleichtert stieß der Dunkelhaarige die Luft zwischen den Zähnen aus, setzte sich wieder in Bewegung und ließ die Treppe hinter sich.
Durch die Dunkelheit der Lagerhalle folgte Lucien der Schwarzhaarigen zu einer Regalwand und blieb in zwei Schritten Entfernung hinter ihr stehen, verschränkte die Arme vor der Brust. Auf seinen Zügen lag ein Ausdruck von Missbilligung und der verschwand auch nicht, als sie sich umwandte und ihn entdeckte. Das durfte sie ruhig wissen, auch wenn er im Endeffekt nichts dazu sagte. Immerhin war er nicht ihr Kindermädchen.
Nach kurzem Zögern griff er in seine Gürteltasche, hielt kurz die Rolle Stoff in die Höhe und warf sie ihr dann mit einer fließenden Bewegung zu.
„Die Hemden vom Chef.“, fügte er erklärend hinzu. „Oben steht ein Sofa. Wir könnten über Nacht hier bleiben und morgen vor Tagesanbruch verschwinden. Und dann verlassen wir diese Insel. Es wird ohnehin Zeit. Jetzt erst Recht.“
Sein Blick wanderte an ihr vorbei über die Regalwand. Über die einzelnen Gläser, die aufgereiht darin standen. Skeptisch zog er eine Augenbraue in die Höhe.
„Und was hast du da gefunden?“