04.07.2019, 18:36
Nichts von dem, was Shanaya ihm in diesem Augenblick erzählte, wollte Lucien gegen sie verwenden. Dazu gab es keinen Anlass. Es war auch nicht so, dass er ihre Geschichte wirklich kennen musste, um sie zu kennen. Ihre Vergangenheit mochte sie zu dem Menschen gemacht haben, der sie heute war – aber wie dieser Mensch hinter der hübschen Fassade aussah, machte er stets an ihrem Verhalten im Hier und Jetzt fest. Nicht an den Dingen, die sie an diesen Punkt geführt hatten. Vielleicht konnte er deshalb so ruhig zuhören und vielleicht fehlte ihm deshalb jedes Mitleid, das den ein oder anderen bei ihren Worten erfüllt hätte. Was nützte ihr das im Nachhinein?
Nein, alles was er wollte und auch bekam, war ein gewisses Verständnis dafür, wer dieser Mardoc war, wer ihr Vater war und womit er rechnen konnte, wenn Shanaya bei der Crew blieb. Sie schloss definitiv nicht aus – spekulierte sogar darauf – dass sie es noch einmal versuchen würden. Und Árashi Senior wusste jetzt, dass sie nicht mehr allein unterwegs war.
Der Blick des jungen Captains wanderte zurück zu Shanaya, deren todesverachtende Worte ihm ein kleines, wissendes Lächeln entlockten. Natürlich nicht. Auch das war etwas, was sie miteinander teilten. Der Tod machte ihnen keine Angst. Es gab Schlimmeres. Das war etwas, das nicht jeder verstand, doch diejenigen, die es taten, verband es miteinander. Weil es nichts mit Leichtsinn zu tun hatte und auch nichts mit Mut. Das war etwas anderes.
„Ja, offensichtlich.“, bestätigte Lucien mit sanfter Belustigung in der Stimme, als sie schließlich endete. „Aber wie es aussieht ist dich an einen potenziellen Erben zu verschachern inzwischen keine Option mehr.“
Er hielt kurz inne, bedachte sie mit einem kurzen Blick, der ihrem gelassen begegnete. Seltsamerweise hatte er überhaupt kein Problem mit charakterstarken Frauen. Doch sie hatte ihm mehr zu denken gegeben, als er in diesem Moment verriet. Nicht über diese Welt, die er ohnehin nicht ändern konnte – und auch nicht wollte. Talin und er schufen ihre eigene kleine Welt. Einen Ort, an dem ihre Regeln galten und an dem Menschen wie sie und er – und Shanaya – sein konnten, wer sie waren. Nein, die Schwarzhaarige selbst war es, die ihm zu denken gab.
Und ihre Verletzung machte ihm Sorgen.
„Dann komm.“ Nur zu bereitwillig nahm er ihren Hinweis auf das offene Fenster als Ablenkung und beschleunigte seine Schritte. Als er es erreichte – es stand nur einen kleinen Spalt weit offen – schob er vorsichtig die flache Hand ins Innere und löste den Haken, der es verschlossen hielt. Es schwang aus eigenem Antrieb nach außen auf, sodass er kurz ausweichen musste, bevor er schließlich einen Blick ins Innere werfen konnte. Stille empfing ihn. Dunkelheit.
Die tiefgrünen Augen kehrten zu Shanaya zurück, musterten sie kurz.
„Ich hebe dich hoch, du ziehst dich auf die andere Seite, einverstanden? Das tut vermutlich kurz weh.“
Sie würde es wegstecken, aber er wollte zumindest vorgewarnt haben. Und als sie schließlich nickte, legte er vorsichtig die Hände an ihre Seite, spürte unwillkürlich klebrigfeuchte Wärme an seiner Hand, und hob sie dann mit sanftem Schwung zum Fenster hoch, damit sie nach dem halbhohen Sims greifen und sich in die Lagerhalle ziehen konnte.