26.06.2019, 19:42
Als Lucien nach Dienstende in die Kapitänskajüte zurückkehrte, hatte er eigentlich nichts weltbewegenderes mehr vorgehabt, als ein paar ungestörte Minuten in die Pflege seiner Ausrüstung zu investieren und sich dann mit einer Flasche Portwein in den Schlaf zu behelfen. Zumindest für wenige Stunden und solange er ihn überhaupt noch bekam. Talin trieb sich wer weiß wo auf dem Schiff herum, hatte seine Schicht übernommen und kümmerte sich so lange, wie ihr Bruder sich ausruhte, um die Belange an Bord. Aber es sollte anders kommen...
Als die Tür aufflog und der Lieutenant herein marschierte, stopfte Lucien gerade eine mit Papier ummantelte Bleikugel in den Lauf seiner frisch gereinigten Pistole. Hob dann jedoch den Blick und hielt mit gelassener Verblüffung in den tiefgrünen Augen mitten in der Bewegung inne. Innerhalb weniger Sekundenbruchteile registrierte er den Ausdruck auf Enriques Zügen, den Schmutz und das Blut auf Haut und Kleidung und ließ ganz langsam die Waffe sinken, legte sie auf den Schreibtisch, an dem er für seine Arbeit saß.
Im nächsten Moment klatschte leise klimpernd ein Bündel vor ihm auf die Holzplatte, dicht gefolgt von Skadis Bogen. Begrub Wachtuch, Pfeifenreiniger und Pulverhorn unter sich und veranlasste den jungen Captain dazu, fragend eine Augenbraue in die Höhe zu ziehen. Aber er stellte seine Frage nicht laut – erhielt auch keine Gelegenheit dazu.
Zwei Dinge brachten den Dunkelhaarigen in der Regel dazu, aus der Haut zu fahren. Talin, bei allem, was sie tat. Und Befehle. Der Ton, den Enrique anschlug, zündete in seinem Inneren ein glühendes Inferno und die tiefgrünen Augen verdunkelten sich unter düsterem Zorn. Es verlangte ihm in diesem Moment einiges ab, dieses Gefühl im Zaum zu halten – doch selbst Lucien wusste, wann es besser war, zu schweigen. Abzuwarten.
Nun, das hier war so ein Augenblick.
Er biss die Zähne aufeinander. Fest genug, damit sich die Muskeln in seinem Kiefer vor Anspannung unter der Haut abzeichneten. Dann erhob er sich, griff gleichzeitig nach der Pistole und schob sie mit der Mündung nach oben hinten in seinen Gürtel, während er um den Schreibtisch herum kam.
„Dann los“
... ...
Den gesamten Weg bis zum Strand legten sie schweigend zurück. Zeit genug, um seine Wut zunächst unter Kontrolle zu bringen und Zeit genug, um das Gesicht des ehemaligen Soldaten eingehend zu mustern. Was auch immer es war, das Enrique umtrieb – er hätte nicht so ausgesehen, wie er aussah, wenn es nicht ernst wäre. Etwas, das – nach seinen Worten – keinen Aufschub duldete. Und Lucien stand zu dem, worauf sich der Ältere in der Kajüte berufen hatte: Sein Problem war auch das seines Captains.
Zusammen wuchteten sie das Dingi weit genug den Strand hinauf, damit die Flut es sich nicht holen konnte, dann fuhr sich der 21-Jährige mit gespreizten Fingern durch die dunklen Haare und richtete die tiefgrünen Augen auf Enrique.
„Also. Was ist los?“