25.06.2019, 20:24
Wieso bei allen Göttern dieser und jeder anderen Welt, musste dieser Lockenkopf jedes Mal aufs neue die richtigen Knöpfe bei ihr drücken? Wer war er, dass er sich so leicht in ihre Nähe begeben konnte und sie just den Drang verspürte, ihn am Handgelenk zurück zu ziehen und erneut mit dem zu beginnen, was sie noch vor wenigen Minuten beendet hatten. Liam macht sie wahnsinnig mit diesen Sprüngen aus Nähe und Distanz – und der kleine Mistkerl wusste das mit Sicherheit. Mit einem verführerischen Zucken der Augenbraue wandte sie den kurz geschnittenen Schopf bei seinem Abschiedskuss herum. Ließ das Zucken in ihrem Mundwinkel zu, das einen schelmischen Ausdruck in die funkelnden Augen legte. “Solange sie keinen Anspruch auf dich erheben ist mir das egal.“ Womöglich klangen ihre Worte eindringlicher als sie in ihrem Kopf geklungen hatten. Und Skadi glaubte auch kaum, dass sich ein Freigeist wie Liam an jemanden so ohne weiteres ketten ließ. Dennoch ließ sie ihn indirekt wissen, dass sie seinen vorzüglichen Anblick nur ungern für den Rest ihres Lebens an jemand anderen abtrat.
Eine Weile blickte sie ihm noch nach. Huschte dann selbst die Treppenstufen hinab und verschwand nahezu lautlos an die Öllampe heran. Blickte erst auf als Liams Stimme sich aus der Stille erhob und sie von dem dicken Wälze aufblicken ließ, den sie auf ihre ausgestreckten Beine gebettet hatte. Nahm ihm mit ausgestreckten Armen die Flasche ab und lächelte matt. “Du hast von der Heimatwelt des Jungen angefangen, die so winzig ist, dass nur er darauf passt. Und er war auf der Suche nach einem Freund.“ Genauer konnte sie sich nicht mehr an seine letzten Worte erinnern. Nicht einmal dann, als sie Flasche kurz an ihre Lippen legte und einen kräftigen Schluck des lauwarmen Wasser trank.
Für einen kurzen Moment noch hatte sein Blick auf ihren Zügen gelegen, hatten ihre Aussage mit einem unergründlichen Lächeln quittiert, ehe er sich gedehnt von ihr gelöst und unter Deck begeben hatte. In diesem Moment gab er nicht viel auf Wahrheit hinter ihren Worten, sondern gab sich voll und ganz dem Klang hin, der ihm das Gefühl gab, begehrt zu werden. Sie waren frei, sie wussten, was sie taten und sie taten es, weil sie sich gut dabei fühlten. Nicht mehr und nicht weniger – so hatte er jedenfalls die wortlose Absprache zwischen ihnen verstanden. Und vielleicht fühlte sich das hier so gut an, weil sie nicht andauernd neue Grenzen abstecken mussten, sondern sich voll und ganz dem hingeben konnten, was passiere, ohne gleichzeitig eine Verpflichtung einzugehen. Als er zurückkam und Skadi das Wasser gereicht hatte, schob er mit einem der Füße sein Hemd hinüber zu seinen Zeichensachen, stellte die fast abgebrannte Kerze daneben und ließ sich direkt neben ihr nieder, während sie ihm auf die Sprünge half. „Ah, ja.“, begann er und überlegte abermals, wie genau er nun am besten wieder einstieg, während er den kleinen Dolch an seiner Hose hervorzog, um den Apfel zu teilen. „Nun. Nachdem der kleine Junge den Mann so neugierig gemacht hatte, woher er denn kam, rang er sich schließlich dazu durch, genauer nachzufragen. Wie erwartet aber folgte zuerst ein langes Schweigen, ehe der Junge zu einer Antwort ansetzte. ‚Das Gute an der Kiste, die du mir mitgegeben hast, ist, dass sie auch sein Haus sein kann.‘, begann er. ‚Sicher. Und vielleicht schenke ich dir auch einen Strick und einen Pflock dazu, damit du es anbinden kannst.‘ Doch der kleine Junge sah nur irritiert drein auf diesen Vorschlag. Weshalb sollte er es denn anbinden?
‚Damit es sich nicht verlaufen kann.‘, erklärte der Mann und erntete abermals Gelächter. ‚Wo soll es denn hinlaufen?‘ Der Mann war verwirrt. Das Schaf könnte doch überall hinlaufen. ‚Das spielt keine Rolle. Bei mir zu Hause ist es sehr klein und geradeaus kann man nicht sehr weit kommen.‘ Und allmählich verstand der Mann, wovon der Junge redete. Er kam nicht aus einer Welt wie unserer. Er kam aus einer Welt, die viel ferner war, als ihm bislang bewusst war.“ Liam hob die Hand, in der er den Dolch hielt und wies ins Leere über ihnen. Auch sein Blick folgte seiner Geste zum Nachthimmel, ehe er den Kopf lächelnd zu Skadi herumwandte und fortfuhr. „Einer Welt, die wir zwar vielleicht noch sehen können, die aber unerreichbar bleibt. Ein Planet, kaum größer als ein Haus. Jeden Tag lernte der Mann etwas Neues über den Jungen und seine Reise. Ganz zufällig, wie es eben kam. Am dritten Tag fragte ihn der Junge, ob Schafe Sträucher fraßen und war sehr vergnügt darüber, dass er damit offenbar richtig lag. ‚Dann fressen sie bestimmt auch Affenbrotbäume.‘ Der Mann runzelte die Stirn und erklärte ihm, dass Affenbrotbäume so groß wie Kirchen waren und keine Sträucher. Mit einem Schaf käme er da nicht weit. Da würden ihm nicht einmal Elefanten helfen. Da musste der Junge lachen. ‚Man könnte sie stapeln!‘ Doch der Gedanke, der danach kam, war klug, denn wie alle anderen Bäume beginnen auch Affenbrotbäume klein zu wachsen. Das stimmte, doch der Mann verstand noch immer nicht, weshalb das Schaf derartige Bäume fressen sollte.“ Mittlerweile hatte Liam den Dolch tatsächlich am Apfel in seiner Hand angesetzt und ihn geteilt, hielt Skadi nun ein Stück Obst hin. „Auf dem Planeten des kleinen Jungen gab es wie auch bei uns gute Pflanzen und schädliche Pflanzen. Alles entspringt einem Samen, der unsichtbar im Boden verborgen liegt, bis er sich dazu entschließt, zu keimen. Ist es eine Erdbeere oder eine Rose, darf es wachsen wie es will.
Ist es allerdings ein Schädling, muss man ihn so früh wie möglich entfernen – so war es auch bei den Affenbrotbäumen, die ansonsten seinen ganzen Planeten bedeckt hätten. Eine Frage von Disziplin, denn er musste sich jeden Tag um die Pflege seines Planeten kümmern. Die Triebe der Bäume konnte man im jungen Zustand nur schwer voneinander unterscheiden. Doch wenn es zu spät war, konnte man die Affenbrotbäume nur noch schwerlich entfernen. Eine mühsame, aber einfache Arbeit. Und dann riet er ihm, eine Zeichnung davon anzufertigen, um den Kindern der Heimat des Mannes das Problem zu verdeutlichen. ‚Ich kannte mal einen Planeten, auf dem ein Faulpelz lebte. Er hatte drei Sträucher übersehen.‘“ Der Ältere legte den Dolch beiseite, sah sich kurz um und zog sich seine Zeichensachen auf den Schoß, fischte ein leeres Stück Pergament heraus und begann, denn kleinen Planeten zu zeichnen, der kaum mehr unter den Wurzeln der gigantischen Bäume zu sehen war. Mit einem Lächeln schob er sie weiter in das spärliche Licht der Öllampe, damit Skadi sie erkennen konnte, ehe er wieder zu seiner Geschichte ansetzte. „Stück für Stück verstand er mehr über das Leben des kleinen Jungen und am Morgen des vierten Tages erfuhr der Mann, dass manchmal nur die sanften Sonnenuntergänge ein Lichtblick für ihn gewesen waren. ‚Lass uns einen Sonnenuntergang anschauen!‘, rief der Junge da. ‚Da müssen wir aber noch warten.‘, war die Antwort. ‚Warten worauf?‘ ‚Na, warten, bis die Sonne untergeht.‘ Der Junge war überrascht, verfiel dann aber wieder in ein herzliches Lachen über sich selbst. ‚Ich vergesse immer wieder, dass ich nicht zuhause bin. An einem Tag habe ich den Sonnenuntergang ganze zweiundvierzig Mal gesehen!‘ Er schwieg kurz. ‚Du weißt doch, wenn man sehr traurig ist, hat man Sonnenuntergänge besonders gern.‘ Der Mann sah ihn an. ‚Am Tag der zweiundvierzig Mal – warst du da besonders traurig?‘ Doch der Junge schwieg darauf.“
Fasziniert hing sie bereits an seinen Lippen, kaum dass er sich niederließ und mit der Erzählung fortsetzte. So nahtlos darin überging, dass sie vollkommen vergessen hatte, dass ihre anfängliche Unterhaltung ewig her gewesen war. Das Schaf war ihr fast schon wieder aus der Erinnerung gelöscht worden. Schob sich nun jedoch wieder blöckend zurück und zauberte ihr ein Bild von weißen Wattebäuschen vor die Augen. Ein Lächeln zierte ihre Lippen, während sie seiner Geste folgte und die Sterne betrachtete. Darüber nachdachte wie viele Welten es überhaupt außerhalb ihrer eigenen und der 7 weiteren gab. Während sie sich fast in diesem Gedankenkonstrukt verlor, fuhr Liam fort und entlockte ihr ein leises Auflachen. Elefanten stapeln? Mit einem amüsierten Ausdruck auf den feinen Zügen wandte sich der dunkle Haarschopf wieder zur Seite, grinste fast schon breit bei dem Bild, das der Lockenkopf vor ihrem inneren zeichnete. Doch sie unterbrach ihn nicht. Wagte es kaum eine Frage zu stellen und horchte lieber gespannt auf die Erzählung, die irgendwie so surreal und wahr zugleich erschien. Skadi spürte das es eine tiefere Bedeutung gab, die sie womöglich noch nicht vollends begriff. Nahm fast schon zaghaft das Apfelstück zwischen die langen Finger und knabberte abwesend an der Kante. Hielt den Blick stur auf den Lockenkopf fixiert, bis dieser nach seinem Skizzenbuch griff, um etwas zu Papier zu bringen. Gespannt musterte sie ihn dabei. Lehnte sich ein Stück weit über die Öllampe zwischen ihnen und kippte den Kopf etwas zur Seite. Ein Affenbrotbaum, wie sie vermutete.Berührte fast schon zaghaft mit den Fingerspitzen die gezeichneten Linien, die Liam ihr mit einem Lächeln zuschob. Hörte beiläufig dem Rest seiner Erzählung zu, ehe sie aufblickte und nachdenklich die Augenbrauen zusammenzog. “Er fühlte sich allein oder?“ Ein jeder kannte dieses Gefühl. Nicht einmal der hart gesottenste unter ihnen würde das je verneinen können. Sie verstand also den kleinen Jungen in seinem Wunsch – fühlte sich selbst in jenem Moment an die Tage zurück versetzt, in denen sie auf die höchsten Bäume geklettert war, um die Sonnenuntergänge zu betrachten. Sich fast schon wehmütig einzugestehen, dass erneut ein Tag verloren war.
Liam nickte flüchtig, und biss nun selbst ein Stück vom Apfel ab, ehe er wieder zu erzählen begann. „Am fünften Tag offenbarte ihm der kleine Junge ein weiteres Geheimnis. ‚Wenn ein Schaf Sträucher frisst, frisst es dann auch Blumen?‘, fragte er. ‚Auch Blumen, die Dornen haben?‘ - ‚Ja, auch Blumen, die Dornen haben.‘ – ‚Aber wofür sind Dornen dann gut?‘ Der Mann war gerade damit beschäftigt, sein Boot wieder seetauglich zu bekommen. Die Vorräte wurden knapp. Ihm lief die Zeit davon. Doch der Junge widerholte die Frage. Er vergaß nie eine und gab sich auch nie damit zufrieden, keine Antwort zu bekommen. ‚Sie haben keinen Zweck, das ist reine Bosheit der Blumen‘ Er sagte irgendetwas, konzentrierte sich eigentlich viel mehr auf das, was er gerade tat als auf den Wissensdurst des anderen. Doch der gab sich damit nur kurz zufrieden, ehe er empört zu ihm aufsah. ‚Ich glaube dir kein Wort! Blumen sind schwach. Sie sind einfältig. Sie schützen sich bloß so gut sie können. Sie glauben, dass ihre Dornen abschrecken.‘ Doch der Mann war noch immer nicht bei der Sache, sorgte sich mehr um sich selbst und sein Schiff. Als der Junge abermals nachfragte, unterbrach er ihn in seinen Gedanken. ‚Ich habe das einfach nur so gesagt! Ich habe gerade wichtigeres zu tun!‘ Entrüstet widerholte der Junge, was er gerade gesagt hatte. ‚Wichtigeres. Du redest ja wie die großen Leute! Du verdrehst alles und bringst alles durcheinander!‘ Bislang hatte er den Jungen nicht so verärgert gesehen. ‚Ich kannte einen Planeten, auf dem ein Herr mit rotem Gesicht wohnte. Er hatte noch nie eine Blume gerochen oder einen Stern gesehen! Noch nie hatte er jemanden geliebt. Den ganzen Tag hat er bloß gerechnet und jeden Tag sagte er wie du, dass er ein ernsthafter Mann sei. Ein sehr ernsthafter Mann! Vor lauter Stolz war er schon ganz angeschwollen! Aber das ist kein Mann, das ist ein Pilz!
Seit Millionen Jahren wachsen den Blumen Dornen und sie werden dennoch von Schafen gefressen! Und für dich ist es nicht wichtig, dass man verstehen möchte, warum sie sich überhaupt die Mühe machen, Dornen zu bekommen. Ist dieser Kampf zwischen Blumen und Schafen etwa nicht wichtig? Ist das nicht auch ernsthaft wichtig wie die Berechnungen des roten, aufgeblasenen Mannes? Und wenn ich eine Blume kenne, die einzig in der Welt ist und die es nur auf meinem Planeten gibt und wenn ein kleines Schaf eines Morgens einfach diese Blume mit einem einzigen Bissen vernichten kann, ohne zu wissen, was es tut, ist das dann nicht wichtig? Wenn jemand eine Blume liebt, die es nur ein einziges Mal gibt auf all den Sternen, dann macht es ihn glücklich, sie nur anzusehen. Er sagt sich, dass sie irgendwo da draußen ist. Wenn das Schaf die Blume aber frisst, gingen plötzlich alle Sterne aus. Und das soll nicht wichtig sein!‘“ Liam hatte die Stimme gedämpft erhoben, um zwar aufgebracht zu klingen, aber dennoch nicht lauter zu sein als zuvor. „Und dann brach der kleine Junge in Tränen aus. Mittlerweile war Nacht geworden und der Mann legte das Werkzeug beiseite, denn jetzt musste der kleine Junge getröstet werden. Er versicherte ihr, dass die Blume, die er liebte, nicht in Gefahr war. Er würde ihm einen Maulkorb für das Schaf zeichnen, einen Zaun für die Blume, wusste nicht, was er sonst noch anbieten sollte und fühlte sich schlecht, denn er wusste nicht, wie er ihn erreichen sollte. Dann aber sollte er die Blume kennenlernen. Blumen hatte es auf dem Planeten des Jungen schon immer gegeben. Einfache Blumen, die kaum Platz brauchten und niemanden störten. Sie kamen am Morgen und verschwanden am Abend. Doch eines Tages hatte ein Samen Wurzeln geschlagen. Der Junge hatte den Spross sehr genau beobachtet, um sicher zu gehen, dass es kein neuer Affenbrotbaum war. Doch dann hörte der Stauch auf zu wachsen und bildete eine Knospe, die tagelang verschlossen blieb.
Er ahnte, dass etwas Wunderbares daraus hervorgehen würde. Sie brauchte ihre Zeit, um nicht so zerknittert auszusehen wie die Mondblumen. Sie wollte im vollen Glanz erstrahlen, als sie dann eines Morgens bei Sonnenaufgang ihre Blüte öffnete. Sie gähnte und entschuldigte sich dafür, noch so zerzaust auszusehen. Doch der Junge war gefesselt von seiner Begeisterung. ‚Wie schön du bist!‘, bewunderte er sie. ‚Nicht wahr? Und ich bin zur gleichen Zeit geboren wie die Sonne‘ Sie war nicht sonderlich bescheiden, aber unheimlich faszinierend für ihn. ‚Ich glaube, es ist Zeit für Frühstück. Hätten Sie die Güte, an mich zu denken?‘ Verlegen eilte der Junge fort, um Wasser zu holen und die Blume zu giesen. Bald schon quälte sie ihn ein bisschen mit ihrer zerbrechlichen Eitelkeit. ‚Sie können ruhig kommen, die Tiger mit ihren Krallen!‘, sprach sie eines Tages. ‚Es gibt keine Tiger auf meinem Planeten. Tiger fressen kein Gras.‘, erwiderte der Junge. ‚Ich bin kein Gras.‘, erinnerte ihn die Blume bittersüß und der Junge entschuldigte sich. ‚Vor Tigern habe ich keine Angst, aber mir graust es vor der Zugluft. Hättet Ihr denn keinen Wandschirm?‘ Der Junge runzelte die Stirn und dachte darüber nach, wie unglücklich das für eine Blume war. Sie war eben sehr anspruchsvoll. ‚In der Nacht müssen Sie mich schützen. Es ist kalt bei Ihnen zuhause. Da, wo ich herkomme…‘ Sie verstummte, denn ihr fiel auf, dass sie nichts von anderen Welten hätte wissen können. Sie hustete, um zu verbergen, wie gedemütigt sie sich fühlte, bei solch einer einfachen Lüge ertappt worden zu sein. ‚Der Wandschirm?‘, bat sie erneut, um dem Jungen ein schlechtes Gewissen einzureden. Und trotz seiner aufrichtigen Liebe zu der Blume, begann der Junge bald, an ihr zu zweifeln. Er hatte sie ernst genommen und war sehr unglücklich darüber. ‚Ich hätte nicht auf sie hören sollen! Man sollte Blumen nie zuhören, sondern ihren Duft einatmen.
Sie erfüllte meinen ganzen Planeten mit ihrem Duft, aber ich wurde nicht glücklich, weil sie mich so sehr reizte. Aber damals war ich nicht in der Lage, das zu begreifen. Ich hätte sie nach ihren Taten und nicht nach ihren Worten beurteilen sollen. Sie duftete und erglühte für mich. Ich hätte sie niemals zurücklassen dürfen! Ich hätte ihre Zuneigung erraten sollen. Blumen sind so voller Widersprüche! Aber ich war zu jung, um zu wissen, dass ich sie liebe.‘ Er entschied sich, zu gehen, brachte am Morgen noch seinen Planeten in Ordnung, riss schwermütig die letzten Triebe eines Affenbrotbaumes heraus und glaubte, nie mehr zurückzukehren. Und er goss die Blume ein letztes Mal, wollte sie zum Schutz unter eine Glasglocke stellen und fand in sich den Drang, zu weinen, als er sich von ihr verabschiedete. Sie antwortete nicht. ‚Lebe wohl.‘, wiederholte der Junge und die Blume hustete. ‚Ich war dumm. Entschuldige. Versuche, glücklich zu sein.‘ Überrascht darüber, dass sie ihm keine Vorwürfe machte, sah er sie an. Er verstand sie nicht. ‚Ja, ich liebe dich. Du konntest es nicht wissen, das ist meine Schuld. Es spielt keine Rolle. Aber du warst genauso dumm wie ich. Versuche, glücklich zu sein. Und lass die Glaskugel, ich will sie nicht mehr.‘ - ‚Aber die Tiere.‘, erwiderte er. ‚Ein oder zwei Raupen werde ich wohl aushalten müssen, um die Schmetterlinge kennenzulernen. Das wird schön. Wer würde mich sonst besuchen? Du wirst weit fort sein. Und vor den großen Tieren fürchte ich mich nicht. Ich habe meine Krallen.‘ Einfältig zeigte sie die Dornen. ‚Mach es nicht so lang! Du hast dich entschieden zu gehen. Also geh!‘ Und so begann seine Reise.“
Erinnerungen drangen hier und dort an die Oberfläche während Liam sprach und einen sehr zerstückelten und wirren Film in ihren Gedanken abspielte. Wie von selbst zogen sich die langen Beine dabei dicht an ihren Körper. Wurden an den Knien wenig später von den langen Fingern bedeckt, die beiläufig das dicke Buch in ihrem Schoß auf die Seite legten. Der Mann hatte also erst nach Tagen verstanden, was dem Jungen wirklich von Bedeutung war. Ähnlich dem kleinen Jungen selbst, der die Liebe seiner Blume erst realisierte, als sie selbst es viel zu spät ausgesprochen hatte. Nachdenklich hielt der Blick aus dunkelbraunen Augen gen Horizont, der nur noch durch die Spiegelung der Sterne im Meer auszumachen war. Der Apfel war bereits längst vergessen und baumelte verschmäht zwischen Daumen und Zeigefinger. Erst mit einem tiefen Einatmen riss sich die Nordskov los und wandte den Kopf zu Liam herum. Musterte seine Züge eindringlich als erwarte sie irgendeine Erklärung auf die verworrenen Gedanken, die seine Geschichte in ihrem Kopf hinterlassen hatten. "Es ist erschreckend wie viel Wahrheit darin steckt.", gab sie leise von sich und wandte den Blick hinab zum Apfelstück. Hob es langsam vor die feinen Züge und musterte sie kleinen Einkerbungen, die sie darauf hinterlassen hatte. "Manchmal bemerken wir zu spät, wie viel uns ein Mensch bedeutet und manchmal ist es uns einfach nicht möglich all diese Empfindungen in Worte zu fassen."
Skadi vermied just in dem Moment den Begriff "seltsam". Sie wusste selbst, dass sie nicht der emotionalste Typ Frau war, wenngleich sie durchaus wusste, was Wärme und Zuwendung bedeutete. Doch es war zumeist nicht an ihr mit Liebebekundungen um sich zu schmeißen oder jemandem Honig ums Maul zu schmieren. "Was ist mit der Rose passiert?" In einer knappen Bewegung biss die Nordskov etwas von ihrer Apfelhälfte ab und wandte sich mit ausgestreckten Armen auf den Knien dem Lockenkopf zu. "Wartete sie immer noch auf ihn? Ist sie robuster geworden, jetzt wo es niemanden mehr gab, der ihr jeden Wunsch von den Lippen ablaß?" Unter anderen Umständen hätte sie nur ein abfälliges Naserümpfen angesichts eines solchen Verhaltens übrig gehabt. Doch es war zum einen "nur" eine Geschichte und zum anderen sprach es von viel Größe, wenn sie denjenigen, den sie so sehr liebte, gehen ließ. Um seinetwillen. Und stark für ihn blieb, damit er nicht von seinem Entschluss abkam. Sogar die Narben akzeptierte, die ihr die Raupen geben würden, um die Schmetterlinge zu sehen, die aus ihnen wurden. "Denn manchmal..." Ein schiefes Lächeln zuckte just in ihren Mundwinkeln. "... lernen wir erst wer wir wirklich sind, wenn wir durch die Hölle gegangen sind. Oder nicht? Und ich glaube, dass sie kaum kampflos aufgegeben haben wird." Wieder wandte sie sich langsam in ihrem Sitz herum. Klemmte das letzte Stück ihres Apfels zwischen die Zähne und ließ den dunklen Haarschopf auf Liams Schoß gleiten. Sie konnte sich wirklich an diese Position gewöhnen. Begann wenig später den letzten Bissen ihres Apfelstücks zu zerkauen, während die dunklen Augen auf den Nachthimmel gerichtet waren.
Im Grunde hatte er diese Geschichte an jenem Abend gewählt, weil er sie in- und auswendig kannte. Damals hatte er noch nicht geahnt, wie offen Skadi dieser Erzählung sein würde. Es war keine Geschichte, die man einfach erzählt bekam und dazu einschlafen konnte. Man musste mitdenken, um zu verstehen und dennoch hatte am Ende jeder einzelne seine ganz eigene Fassung im Kopf. Weil man anders dachte, anders interpretierte und für sich ganz alleine Schlüsse zog, was man daraus mitnehmen konnte. Diffuser Weise erinnerte sich Liam daran, dass Skadi am Anfang gemeint hatte, der junge Träumer würde sie an ihn erinnern. Der Lockenkopf selbst sah sich mehr in der anderen Rolle – in der, die Wichtigkeit in ganz belanglosen Dingen sehen konnte, ohne sich groß Gedanken um die Probleme der ernsten Leute zu machen. Er interessierte sich nicht für die Machtspielchen der Adligen. Viel lieber pflegte er seine eigene kleine Welt und schützte sie vor alle dem, was ihr Böses wollte. Skadi blickte nachdenklich drein und Liam konnte nur zu gut verstehen, weshalb. Ihre Träume würde er ihr also vorerst wohl nicht nehmen können. Vermutlich hatte er sie nur noch tiefer hineingeritten. Er nickte langsam. „Es ist eigentlich eine Kindergeschichte.“, gestand er, während sein Blick kurz ihre Züge streifte und sich schließlich an einem unwirklichen Punkt im Bereich seiner Knie verlor. „Aber je älter ich wurde, desto besser verstand ich sie.“
Mit einem tiefen Atemzug reagierte er auf die Lehre, die sie zog, schwieg jedoch. Konnte man den Wert eines Menschen überhaupt erkennen, bevor man ihn verlor oder gewann er erst mit der Tatsache, dass er fort war, diese gewaltige Bedeutung für einen? Konnte man etwas derart schätzen ohne die Erkenntnis, dass man es verloren hatte? Für sich kannte Liam keine Antwort darauf. Vermutlich aber nicht, denn dazu war der Mensch einfach nicht gemacht. Erst, als sie eine weitere Frage stellte, sah der Ältere wieder auf, wandte den Kopf herum und konnte sich ein flüchtiges Lächeln nicht verkneifen. Er hätte wirklich nicht erwartet, dass jemand so mitfiebern würde. Aber es machte ihn glücklich. Ehrlich glücklich, obwohl es so einfach war. Mehr als ein angedeutetes Schulterzucken allerdings konnte er ihr darauf nicht als Antwort geben. „Der kleine Junge hatte nie die Gelegenheit, es dem Mann zu erzählen.“, umschrieb er es, um das Ende vorerst offen zu lassen. Ihr Interesse an der Blume verwunderte ihn, doch er folgte aufmerksam den Gedanken, die sie zu dieser Rolle äußerte und wandte den Blick abermals hinauf zu den Sternen, die zu etlichen über ihnen über den Himmel zur Musik des Meeres tanzten. Ein unergründliches Lächeln nistete sich in seine Mundwinkel ein, doch er schob die Frage beiseite, die ihm kam. „Immerhin fürchtete sie die wilden Tiere nicht. Sie hatte ja ihre Dornen.“, wiederholte er. Der rätselhafte Ausdruck auf seinen Zügen versteckte sich abermals unter einem deutlicheren Lächeln und als die Jüngere sich zur Seite gleiten ließ, machte er bereitwillig Platz, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.
Einen flüchtigen Moment musterte er ihre Züge, die nachdenklich gen Himmel gerichtet waren, ehe er es ihr gleich tat. Und er musste Schmunzeln beim Gedanken daran, dass sie das Ende unterbewusst bereits ahnte und sich fragte, ob dort oben irgendwo ein kleiner Junge war, der seinen Planeten pflegte und ein kleines Schaf davon abhielt, seine Blume zu fressen. Eigentlich hatte er an dieser Stelle den nächsten Schnitt setzen wollen. Doch sie erinnerte ihn ein bisschen an sein jüngeres Ich. Er hatte sich immer geweigert, Schlafen zu gehen, hatte gierig mehr und mehr hören wollen, wenn seine Mutter ihm vorm Zubettgehen einen weiteren Teil offenbart hatte. Ein bisschen vielleicht noch. Vielleicht die ersten ein bis zwei Planeten, bevor er ihrem Geist die Ruhe lassen wollte, die er brauchte. „Als er aufgebrochen war, beschloss er, die Planeten in seiner Nähe zu besuchen, um sich abzulenken und etwas zu lernen. Auf dem ersten wohnte ein König, gekleidet in Purpur und Pelz auf einem einfachen, aber majestätischen Thron. ‚Ah, ein Untertan!‘, sagte er, als er den kleinen Jungen sah, der sich unweigerlich fragte, woher der König ihn kennen konnte, obwohl sie sich nie zuvor begegnet waren. Er wusste nicht, dass die Welt für Könige eine einfache Welt war und alle Untertarnen für sie waren. ‚Komm näher, damit ich dich besser sehen kann.‘, sagte der König stolz, weil er endlich für jemanden ein König sein konnte. Der Junge sah sich nach einem Platz zum Sitzen um, doch der Pelzmantel erstreckte sich über den gesamten Planeten. Also blieb er stehen und gähnte vor Müdigkeit.
‚Es ist ein Verstoß gegen die Etikette, in der Gegenwart des Königs zu gähnen! Ich verbiete es dir.‘ Der Junge blickte verwirrt drein. ‚Aber ich kann nicht anders. Ich habe eine lange Reise hinter mir und habe nicht geschlafen.‘ Der König überegte nicht lange. ‚Ich befehle dir, zu gähnen. Ich habe seit Jahren niemanden mehr gähnen gesehen. Gähnen ist eine Rarität für mich. Mach schon! Gähne noch einmal, das ist ein Befehl!‘ Doch das machte dem Jungen Angst und er konnte nicht mehr gähnen. ‚So so! Dann sei es… Ich befehle dir, bald und manchmal zu gähnen…‘ Der König murmelte ein bisschen verärgert und schien sehr darauf bedacht, dass seine Autorität respektiert wurde. Als Monarch duldete er keinen Ungehorsam. Aber er war gütig und gab vernünftige Befehle. ‚Wenn ich einem General befehle, sich in einen Singvogel zu verwandeln und der General nicht gehorcht, so ist es nicht die Schuld des Generals, sondern meine.‘ Der kleine Junge fragte, ob er sich setzen dürfe. ‚Ich befehle es dir.‘, sagte der König und zog eine Falte seines Mantels einladend zu sich heran. Der Planet, auf dem er herrschte, war ebenso winzig. ‚Majestät. Darf ich Euch etwas fragen?‘, begann er. ‚Ich befehle dir, mich zu fragen.‘, warf der König schnell ein.
‚Über was herrscht Ihr?‘ Der König brauchte nicht lange für seine Antwort. ‚Über alles.‘ Der Junge widerholte die die Antwort fragend und bekam eine ausladende Geste über die Sterne und den Planeten entgegnet. ‚Über dies alles?‘ - ‚Über dies alles…‘ Er war nicht nur ein absoluter, sondern auch ein universeller Monarch. ‚Und die Sterne gehorchen Euch?‘ Der König nickte. ‚Natürlich. Ich dulde keinen Ungehorsam.‘ Der Junge war erstaunt über so viel Macht. Hätte er sie gehabt, hätte er am Tag nicht nur zweiundvierzig, sondern gleich hundert oder zweihundert Sonnenuntergänge sehen können, ohne auch nur einmal seinen Stuhl verrücken zu müssen. Die Erinnerung an seinen kleinen, verlassenen Planeten machte ihn ein bisschen traurig, doch so fand er den Mut, den König um Gnade zu bitten und bat darum, einen Sonnenuntergang sehen zu dürfen. Er solle der Sonne befehlen, unterzugehen. ‚Wenn ich einem General befehle, von einer Blume zur anderen zu fliegen oder eine Tragödie zu schreiben oder sich in einen Singvogel zu verwandeln und wenn er nicht gehorcht, wer trüge die Schuld – er oder ich?‘“ Liams Blick wanderte wieder hinunter zu Skadis feinen Zügen und machte eine Pause. Gespannt, ob sie ahnte, worauf es hinaus lief.
Wieso verwunderte es sie so wenig, dass diese Geschichte eigentlich für Kinder geschrieben wurde? Sollten nicht alle Erzählungen ein fröhliches Happy End haben und weniger um Verlust und den tieferen Sinn des Lebens gehen? Nun, Skadi kannte es von zu Hause nicht anders. Wann immer sie mit ihren Geschwistern ans große Lagerfeuer des Dorfes gegangen war, um den Alten bei ihren kleinen Theaterspielen zuzusehen, war es nie um weniger gegangen. Man brachte den Kindern wichtige Werte bei, in die sie mit der Zeit hineinwachsen würden, um sich dann – sollte der richtige Zeitpunkt gekommen sein – daran zu erinnern. Das Leben war ein Prozess. Ebenso wie die Geschichte des kleinen Jungen, der immer mehr Ähnlichkeiten mit Liam aufwies. Sie musste definitiv ihre erste Einschätzung revidieren. Der Mann hatte mit Ausnahme seines Zeichentalents weitaus weniger mit dem Lockenkopf gemein, dessen Züge sie immer wieder musterte, während er fortfuhr.
Betrachtete eine Weile lang die Sterne. Malte vor ihren Augen das Bild vom kleinen Planeten voller Pelz. Dem gewitzten König, der irgendwie immer versuchte sich die Wahrheit zu drehen, wie sie ihm besser zu Gesicht stand und dabei irgendwie – und das verwunderte die Nordskov für einen Augenblick – die Realität seiner Welt den Fähigkeiten seiner Untertanen anpasste. Zwar wirkte er in dem was er sagte herrisch und bevormundend… doch was er letzten Endes immer wieder korrigierte war zu 100% auf seine Gefolgschaft zugeschnitten.
“Der König sicherlich… aber wieso geht die Sonne dann so oft auf dem Planeten des Jungen unter? Tut sie es nur deshalb, weil er so traurig ist und sie ihn aufheitern möchte?“ Dieser Gedanke wirkte vielleicht etwas absurd, doch die Geschichte hatte mehr als einmal bewiesen, dass sie nicht zwingend rational und auf der Ebene der Erwachsenen logisch war. Prüfend blickte Skadi zu Liam hinauf. Spielte abwesend mit einer der metallenen Laschen ihres Bustiers und wartete gespannt auf eine Antwort. Denn das diese Frage nicht nur Teil der Erzählung, sondern ebenso auch an sie gestellt war, konnte sie seinen bohrenden, warmen Augen ansehen.