24.06.2019, 16:14
Den Degen zurück in die Scheide steckend folgte der junge Captain seinem toten Gegner nach unten. Die letzten beiden Stufen nahm er mit einem abkürzenden Sprung, landete neben der Leiche am Fuß der Treppe und hielt nur kurz inne, um ihr die abgefeuerte Pistole, einen Dolch und einen kleinen Beutel Bleikugeln samt Pulverhorn abzunehmen, die an einem ledernen Gürtel befestigten waren. Mehr Zeit, um sie nach mehr als dem Offensichtlichen, nach Gold und Wertgegenständen abzusuchen, ließ er sich nicht. Er hatte im Augenblick beileibe andere Prioritäten, als die Geldnot der Sphinx. Umso länger er brauchte, umso weiter kamen auch Shanaya und ihr Entführer. Wenn die Schwarzhaarige – und das würde ihn nicht einmal wirklich überraschen – nicht vorher für ihre Gegenwehr kurzerhand erschossen wurde.
Nicht einmal, um seine Pistole nachzuladen, blieb Lucien noch stehen. Er schob beide Schusswaffen hinten in seinen Gürtel, die Munition in seine Tasche und machte sich schnellen Schrittes auf den Weg zur Hintertür. Inzwischen längst wieder vollkommen nüchtern stieß der Dunkelhaarige die Tür auf, rammte sie dem betrunkenen Hausbesitzer beinahe frontal ins Gesicht. Er taumelte zurück, rang um sein Gleichgewicht und fiel nur deshalb nicht hinten über, weil ihn der 21-Jährige kurzerhand am Kragen packte.
„Wo sind sie hin? Dieser Typ und die schwarzhaarige Frau.“ Der Betrunkene blinzelte perplex, dann verfinsterte sich sein Gesicht. Doch bevor er zu seinem nächsten, versoffenen Fluch ansetzte, schüttelte Lucien ihn so kräftig durch, dass sein Kopf wie wild hin und her schlackerte. „In welche Richtung?“
Inzwischen lag in dem ungeduldigen Knurren eine leise Drohung und das schien zu wirken. Der Ältere streckte den Arm aus, deutete die Straße hinunter und Lucien stieß ihn grob von sich weg in die Arme seiner ebenso betrunkenen Freunde. Ohne zurück zu sehen, lief er wieder los.
Danach wies ihm der Schuss, der durch die Stille der Nacht hallte, seinen weiteren Weg. In einem Anflug hilfloser Sorge biss er die Zähne aufeinander, war fast überrascht, wie widerwillig er den Gedanken aufnahm, der Schwarzhaarigen könnte irgendetwas passiert sein. Aber er hatte auch nicht die Zeit und die Geduld, sich in diesem Moment länger damit zu befassen. Wenn Shanaya lebendig aus dieser Geschichte heraus kam – und er genauso – dann war sie ihm eine verdammte Erklärung schuldig. Mindestens das.
Das ungleiche Paar war nicht weit gekommen. So, wie es schien, hatte die junge Frau tatsächlich versucht, sich zu befreien und ihm damit ermöglicht, aufzuholen. Und sie hatte ihren Verfolger verwundet. Lucien erahnte das Blut an dessen Schulter, noch bevor er nahe genug heran war, um bemerkt zu werden. Genützt hatte es ihr allerdings wenig. Sie steckte in einer Zwickmühle und auch wenn Shanaya ganz offensichtlich bereit war, hier zu sterben, war er weniger dazu geneigt, das zuzulassen.
Mardoc stand zu nahe bei ihr, um ihn mit dem Degen anzugreifen. Doch er war so fixiert auf seine Beute, dass er den Dunkelhaarigen nicht kommen sah. Es wäre der perfekte Moment gewesen, ihn einfach zu erschießen. Aber da ihm diese Möglichkeit nicht offen stand, griff Lucien nach seinem eigenen Dolch. Einen Herzschlag später hatte er die beiden erreicht und verdankte es wahrscheinlich einzig und allein dem Überraschungseffekt, dass der Hüne ihm nicht rechtzeitig auswich, als er ihm von hinten dem Arm um die Kehle legte und einen halben Schritt von Shanaya zurück riss. Im nächsten Augenblick ruhte die Spitze seines Dolches an Mardocs Halsschlagader. Egal, was der jetzt mit der Klinge in seiner Hand anstellte – er wäre tot, ehe er auch nur den Arm hob.
„Und was ist mit dir? Lieber leben oder sterben?“
Als ob er ihm da eine Wahl lassen würde. Doch die tiefgrünen Augen huschten zunächst zu der Schwarzhaarigen, vergewisserten sich mit einem kurzen Mustern, dass sie in Ordnung war. Dann erschien eine stumme Frage in dem ansonsten kühl berechnenden Blick des jungen Captains. Was wollte sie? Ihre Entscheidung.