14.06.2019, 14:25
Selten hatte Enrique Angst vor dem Älteren verspürt, doch dieser Blick sorgte für einen Moment dafür.
"Capitán Hughes?"
Vorsichtig legte er Cornelis die Hände auf die Schultern.
"Also warst Du das. Ich erinnere mich an diesen Piraten, es wurde viel über ihn geredet, gerade nach dessen Tod. Die Marine hatte das damals 'Sir' Gerald 'Longfoot' zugeschrieben um mehr Mittel zur Jagd auf ihn zu bekommen. Ich schätze, sie haben in ihm die größere Bedrohung gesehen, nachdem Hughes fort war."
Irgendwie musste er lächeln.
"Meiner Meinung nach stimmte da was nicht und es gab andere Gerüchte. Unter anderem dass es um ihn, Feuerbart und eine Frau gegangen wäre. Das klang schon damals irgendwie logischer."
Schwer holte er Luft, ehe er die Hände löste und sich mit leichtem Aufstöhnen hinsetzte. Dann legte er seine Hand dem Rotbart auf den Unterarm und schaute ihm in die Augen.
"Ich — ich habe immer noch das Gefühl, dass ich damals versagt habe, als ich dich und Isabella verlor, dabei habe ich dich wieder und noch heute kann ich keine Krankheiten heilen. Ich verstehe also wie du fühlst und denke deshalb nicht schlechter von dir, eher bin ich froh darüber, dass du ihn für sie töten konntest. Das hat sie verdient, genauso dein Kind.
"Geister, ich möchte Russell für dich immer noch zur Strecke bringen und vielleicht gestatten es uns die Ahnen, in dem sie ihn uns irgendwann in die Hände spielen.
"Wichtiger aber ist das hier und jetzt. Ehren wir die Toten, die es verdient haben, indem wir den Lebenden von ihnen erzählen und die Lebenden, indem wir alles für sie tun, was wir können."
Enrique seufzte, versuchte sich erneut an einem Lächeln, doch es geriet etwas schief.
"Ich weiß nicht, ob es dir hilft, aber wenn du es willst, dann ist meine Tochter auch deine."
Cornelis hielt Enriques Blick und schwieg. Die Aussage zu "Sir Gerald Longfoot" ließ er völlig unkommentiert. Als Enrique dann davon sprach, die Toten und die Lebenden zu ehren, nickte er ohne ein Wort. Für Enrique war es nichts Ungewöhnliches, daß der Rotbart in solch einer Situation recht schweigsam war.
Als Enrique ihm dann das Angebot machte, daß seine Tochter auch die von Cornelis sein könnte, hob er das Kinn ein wenig von seinen Knien an und sein Blick nahm einen weichen Zug an, während er ein wenig lächelte. Dann wanderte sein Blick von Enrique ab hinaus auf die dunkle See und eine ganze Weile des Schweigens verstrich, während Cornelis seine Gefühle dahingehend zu verstehen versuchte.
Als Cornelis seinen kleinen Bruder schließlich wieder ansah, schüttelte er leicht und langsam den Kopf. "Ich danke dir für dein Angebot - es ist eine wahre Ehre für mich. Doch mein Kind ist eine Einheit mit meiner Frau und deswegen bleibt es genauso tot wie sie. Ich bin mir sicher, ich werde deine Tochter lieben wie ein eigenes Kind, doch laß sie meine Nichte bleiben. Es soll eine ganz eigene und neue Beziehung zwischen ihr und mir werden, die nicht durch dunkle Erinnerungen aus meiner Vergangenheit getrübt sein soll."
Als er geendet hatte, schwieg er erneut, dann legte er sich mit einem leichten Aufseufzen in den Sand. Seine Linke schob er unter seinen Kopf, doch seine Rechte spreizte er leicht vom Körper ab - eine unaufdringliche und doch für Enrique eindeutige Geste. Dann schloß er die Augen und wartete nur ab.
Die knapp hundert Stunden, die sie sich nun wieder hatten, reichten bei Weitem nicht dafür aus, ihre Beziehung vollständig zu wandeln. Und nichts wünschte sich Cornelis in diesem Moment mehr, als noch einmal den Kopf Enriques auf seiner Schulter und dessen Arm auf seiner Brust zu spüren so wie damals, wenn sich der Junge an ihn gedrückt hatte, wenn Cornelis oder ihn etwas bedrückt hatte. Eine Geste, die den Anschein erweckte, daß der Große den Kleinen hielt, und aus der er selbst doch schon immer so viel Kraft und Halt ziehen konnte.
Hier, am einsamen nächtlichen Strand weit außerhalb der Sichtweite des neuen Schiffes und seiner Besatzung, hatte Cornelis keine Bedenken, diese Nähe nochmals - vielleicht ein letztes Mal - zu geben und selbst zu spüren.
Enrique erwiderte den Anflug eines Lächeln mit einem unsicheren eigenen. Und auch wenn er auf eine Antwort brannte, so ließ er dem Älteren alle Zeit die er brauchte, drängte nicht, sondern malte nur von ihm selbst unbeachtete Kreise in den Sand.
Dann kam die Antwort. Leicht erschreckt richtete er sich etwas mehr auf.
"So hatte ich das nicht gemeint. Isabella sollte deines nicht ersetzen. Aber es ist auch — bien, muy bien, das sie 'nur' deine Nichte ist. Ich verstehe das."
Leicht drückte er Cornelis Unterarm als Bekräftigung. Er wusste, wenn er etwas Zeit zum darüber Nachdenken gehabt hätte, dann würde er voll hinter diesen Worten stehen und die Zurückweisung nicht als Angriff, sondern als bewusste Entscheidung akzeptieren können. Jetzt war er einfach nur etwas zu aufgewühlt dazu.
Und dann lud Cornelis ihn einfach so ein zu etwas ...
Konnte er das noch?
Durfte er?
Da stellte er auch schon fest, dass kleine, salzige Tropfen Spuren auf seiner Haut hinterließen.
'Soviel zu ich werde dann garantiert weinen. Meine Selbstbeherrschung ist doch eh schon stiften gegangen.'
Vorsichtig spähte er zum Hünen.
'Auf dem Schiff wird das nicht gehen. Vielleicht geht es sogar nur hier oder an ähnlich einsamen Orten. Vielleicht ...'
Vielleicht würde es Ewigkeiten dauern, bis sich wieder eine Gelegenheit bot und wer wusste schon, ob sie sie dann auch wahrnehmen könnte. Er wusste außerdem, der Junge lag längst dort, doch noch immer zögerte er.
Dann, als sein Bruder vielleicht schon nicht mehr damit rechnete, zwang er sich gegen seine inneren Widerstände näherzurücken und sich hinzulegen. Er konnte ja jederzeit wieder aufstehen, wenn es tatsächlich nicht ginge aber so hätte er wenigstens versucht, dem Rotbart diesen Wunsch zu erfüllen.
Unbehagen stellte sich ein und er wollte sich schon wieder aufsetzen, als sein Körper ihn einfach im Stich ließ und an diese Situation fesselte, indem er erschöpft gegen den anderen glitt. Und dann verschwand auch die Anspannung, tat es doch einfach gut. Außerdem fühlte er sich schlicht zu zerschlagen, um sich weiterhin irgendwelche Gedanken zu machen.
Er wartete eine kleine Ewigkeit darauf, ob Enrique seiner Einladung folgen würde oder nicht. Als er schon die Hoffnung aufgegeben hatte und im nächsten Moment seine rechte Hand ebenfalls nach oben unter den Kopf schieben wollte, hörte er leise schabende Geräusche und fühlte gleich darauf das Kitzeln von Enriques langen Haaren an seinem Oberarm. Ein zufriedenes Lächeln stellte sich auf dem Gesicht des Rotbarts ein, in dem die Augen noch immer geschlossen waren.
Er spürte die anfängliche Anspannung seines kleinen Bruders und hätte auch nichts gesagt, wenn Enrique sich wieder aufgerichtet hätte. Doch dann entspannte sich der Körper neben ihm und rutschte endgültig in die altgewohnte Position. An den kleinen Bewegungen Enriques konnte er erkennen, daß dieser nicht das Bewußtsein verloren hatte und mehr oder weniger freiwillig wie früher liegen blieb.
Behutsam hob er den Unterarm und legte ihn wie damals quer über den Rücken des Jüngeren - immer auf Anzeichen achtend, daß es Enrique nicht zu viel wurde. Als sich diese jedoch nicht einstellten, mußte er schmunzeln als er feststellte, daß er den Rücken des anderen nicht mehr so gut umfassen konnte wie damals. Dann mischte sich eine Spur Wehmut in sein Lächeln als er begriff, daß dies ein Abschied von dem Jungen war.
Diese Erkenntnis ließ ihn nun doch noch einmal die Augen öffnen und eine ganze Weile starrte er zu den Sternen über sich. Doch irgendwann machte sich schlichtweg die Erschöpfung bemerkbar. Das Schwimmen und die Rettungsaktion hatten seinen leicht ausgezehrten Körper ausgebrannt und die tiefgreifende Aussprache seinen Geist.
Ohne daß er es bewußt wahrnahm glitt er in die Traumwelt über, seine Augen schlossen sich erneut und Bilder von Rebecca mit seinem Kind auf dem Arm und einer kleinen Isabella, die der bekannten so ähnlich und doch anders war, begleiteten ihn für die nächsten Stunden.