13.06.2019, 22:47
Gefangen im Eisblock schrie der Ältere bei dieser Erkenntnis auf. Cornelis hatte ihn verlassen und würde nie wieder zu ihm zurückkehren.
Tot.
Enrique hatte das alles zwar schon an der Seite des Rotbarts mitbekommen und auch die logischen Konsequenzen waren ihm in den Sinn gekommen aber sein Verstand hatte sie achtlos bei Seite geschoben und erst jetzt realisierte er es, brannte sich diese Erkenntnis eisig durch seinen Körper und ließ ihn zittern.
Dieses Mal blieb ihm nicht die Illusion, er könnte jederzeit in der Tür stehen oder die Gangway herabschreiten. Nein. Es war endgültig vorbei, nach knapp zwei Wochen wiederfinden und schmerzhaftem Zusammenraufen. Sie hatte nicht einmal Gelegenheit gehabt, wie damals, einfach nur unbeschwert gemeinsam zu lachen und von der Zukunft zu träumen, war doch jeder gemeinsame Augenblick mit der Enthüllung düsterer Vergangenheit durchzogen gewesen, nie frei von Erinnerungen und Trauer.
Und dann all die Versprechen und Zusagen:
Nie gemeinsam an Deck der Onyx stehen, nie gemeinsam nach Hause zurückkehren, nie gemeinsam wirklich frei sein.
Alles was er jetzt noch für seinen Bruder tun konnte, war dessen sterbliche Hülle gebührend der See zu übergeben und nicht einmal sie wiederzusehen, geschweige denn die geliebte Stimme zu hören, die sanfte Berührung seiner Hand in den Haaren zu spüren oder von den starken Armen vor Freude fast erdrückt zu werden.
Wie sollte er ohne all das leben, wo es ihm doch gerade erst versprochen worden war, dass er das jetzt wiederhaben würde?
Es gab keine Antwort auf diese Frage. Nichts gab es mehr, nur schmerzhafte, endlose Leere, die nichts und niemand je füllen würde können. Vielleicht würde diese Qual irgendwann nachlassen und er könnte einsam in diesen Hallen stehen und die Scherben dieser Zeit ohne Tränen betrachten, vielleicht sogar über das eine oder andere Lächeln, aber ganz würde er nie wieder werden.
Es war die zweite Narbe dieser Art, die er tragen würde:
Die andere gehörte seiner Schwester und auch sie öffnete ihre Schleusen um den alten Schmerz zu dem neuen zu ergießen, denn wo Cornelis war, da waren auch seine Schwester und seine Mutter nicht fern.
Davon blieb ihm jetzt allerdings nur noch Nahia, irgendwo fern hinter dem Horizont, unerreichbar.
Kurz flackerte die Erinnerung an Peio auf, seinen Halbbruder. In seinem jetzigen Zustand sehnte er sich sogar nach ihm, obwohl es zwischen ihnen nichts als Neid und Wettstreit gegeben hatte. Es war egal, es wäre etwas Vertrautes gewesen. Doch auch der war fort.
Nur nach seinem Vater sehnte er sich nicht. Kaum dass er an ihn dachte regte sich Wut in ihm, ehe sie und das Bild Don Jorges von der Verzweiflung hinweggeschwemmt wurde.
Mit einem tiefen, klagenden Seufzen glitt das alles aus ihm heraus, ließ die Erregung nach und kehrte die Erschöpfung zurück. Bis auf das Beben, das mit jedem schwachen, erstickten Atemzug seinen Körper durchlief, lag der ehemalige Offizier für einen Moment leblos in Skadis Armen.
Und auch der Leib des Mannes im Eisblock hing wieder erschlaffte in den Ketten, ungerührt vom der Verzweiflung des Jungen, der sich panisch zusammenkrümmte und den Kopf unter seinen Armen barg.
Doch die Fremde ließ sie nicht in Ruhe sondern warf ihre Worte wie gleißende, blendende Strahlen in die Tiefe, ihre Berührung brannte auf der Haut beider und gab sie nicht frei, ließ nicht zu, dass sie vergaßen. Abermals bäumte sich der älteren auf, wehrte sich, wollte sich nicht mit der Außenwelt beschäftigen, schrie stumm in das Eis, das ihn umgab und verfluchte die Gleichgültigkeit, die ihn nicht mehr schützte.
"Ja! JA! Ich höre dich!", rief der Knabe und rappelte sich, taub vor Frost, noch einmal auf.
Mehr und mehr glaubte der Junge sich an sie zu erinnern. Freude regte sich langsam in seiner Trauer, während sich die Erkenntnis bei dem Älteren tiefer und tiefer in den Körper fraß, dass er sie kannte, und hätte er in die Knie gehen können, er wäre. So flehte er nur erstickt:
"Hör auf! So hör doch auf! Bitte! Zwinge mich nicht dazu, mich an dich zu erinnern! Du sagst es zwar, doch alles wird mir entrissen. Wenn du mich nicht im Stich läßt, dann wird dir das gleiche widerfahren und wenn ich dich mögen sollte, so zerbreche ich dann. Warum meine Qual also unnütz verlängern?!"
Im Netz über den Wassern mischte sich ein Wimmern in die unartikulierten Laute des Dunkelhäutigen. Mühsam wandte er sich unter Skadis Gewicht, hatte jedoch mit diesem jämmerlichen Versuchen keinerlei Chance die junge Frau abzuschütteln.
Überrascht stellte der Enrique von damals fest, dass es jetzt der Ältere war, der Angst zu haben schien, fragte sich in seiner Unwissenheit und Unschuld, was denn so schlimm daran sein könnte, wenn jemand Nettes für einen da wäre und einem half, den Schmerz zu vergessen.
Zögernd trat er auf den Eisblock zu, die Schatulle auf den Armen, und versuchte den Mann dort näher zu betrachten und der Frost wich zurück.
"... dann für deine Tochter ... Tochter — Tochter — Tochter ... "
Wieder und wieder halten die Worte durch die Dunkelheit. Die Kälte kreischte auf, dann dröhnte ihr flüstern abermals in den Herzen:
"Glaub mir, du willst dich nicht erinnern. Zu viel ist da, was dich bedrängen würde, so wie diese Frau. Bleib hier und verbirg dich! Lass mich meine Dunkelheit um dich hüllen, dein Herz mit Eis wieder verschließen und alles wird gut. Nichts wird dich mehr berühren, nichts braucht dich mehr zu kümmern. Nur du und ich und friedliche Stille."
"Sie wartete auf dich — dich — dich ..."
"Nein! Hör nicht hin! Vergiss das! Das wird dir nur Schmerzen bringen."
Verzweifelt versuchte der Ältere ihren Anweisungen zu folgen, sich weiter zurückzuziehen, sein Gefängnis wieder zu verschließen und zum ersten Mal seit Cornelis Tod wagte der junge es ein Wort an ihn zu richten:
"Aber das ist doch gut, wenn jemand auf einen wartet. Das heißt doch, es ist jemand für einen da."
Bei den Worten trat er noch einen Schritt vor, und auch wenn das Eis an den Ketten schmolz, so warf sich doch die Kälte zwischen sie und knurrte ihn an:
"Nicht wenn du diese Person absichtlich versetzt hast, nicht genug getan hast, um zu ihr zu kommen. Wenn du dein Versprechen ihr gegenüber nicht eingehalten hast", zischelte sie.
"Dann ist diese Person sauer auf dich und wird dich nicht willkommen heißen, wenn du zu ihr gehst. Dann ist es besser du bleibst ihr fern und vergisst sie."
"... ihren Vater — Vater — Vater ...
"braucht — braucht — braucht ...
“dich — dich — dich ... "
'Der Ältere ist ein Vater?', wunderte sich der Junge und die Schatulle knackte. Ein Riss zog sich über die Vorderseite und Licht strahlte heraus.
"Meine Tochter? Vater? Ich—"
Schamesröte färbte das blasse Gesicht des Mannes.
"Nein! Hör nicht hin. Hör auf mich. Ich bin deine Erlösung", flüsterte die Einsamkeit, aber dieses Mal war es nur ein ängstliches Flehen.
'Fürchtet sie sich davor? Davor, dass der Mann sich erinnert? Aber warum, wenn er ein so schrecklicher Vater ist, dann müsste die Kälte das doch gut finden, wenn er sich erinnert? Oder nicht?'
Zögernd wagte er es, sich selbst eine verdrängte Wahrheit ins Gesicht zu sagen:
"Weißt du, du da im Eis, wer auch immer du bist, auch wenn mein Vater auch nicht der beste ist, ich wünsche mir trotzdem, dass er für mich da ist. Also musst du zu ihr zurück. Das Einzige, was sie wirklich enttäuschen würde ist, wenn du nicht zurückkommst. Egal wie lange es dauert."
Langsam senkte sich der Blick des einen Enriques und traf den des Anderen.
"Außerdem ist da diese Frau, die für uns da ist. Ich gehe nämlich auch nicht weg. Auch nicht wenn du diese Dinger hier löst."
Der Knabe hob die Hände, und damit die Schatulle, an, um auf die Schellen an seinen Gelenken aufmerksam zu machen. Vielleicht würde der andere wenigstens ihm glauben, wo er ihn ja sehen könnte.
Dessen Augen wanderten weiter hinab, doch sahen sie nicht die Ketten. Denn im Gegensatz zum Jungen erkannte er das Kästchen, seinen Schatz, sofort.
"Isabella ..."
Mit einem deutlichen Klacken sprang die kleine Truhe auf, das Licht stieg daraus hervor und flog zu ihm hin, bis es mit dem Enrique von heute verschmolz.
Sein jüngeres Ich rechnete mit einem lauten Knall, einer Explosion oder etwas anderem, ähnlich spektakulären. Doch das war nicht der Fall. Das einzige, was geschah, war, dass der Ältere anfing zu weinen.
Draußen, in der Nacht, passierte das gleiche:
Kraftlos und fahrig griffen die Hände nach Halt und klammerten sich schwach an Skadi fest, unter qualvoller Anstrengung holte der Offizier Luft, nur um sie als erstickte Schluchzer wieder auszustoßen, während die Tränen anfingen in Strömen zu fließen und den Stoff ihres Oberteils durchtränkten.
Und es war offensichtlich, dass sie nicht so schnell wieder aufhören würden ...