12.06.2019, 09:17
Shanayas Worte ließen den Dunkelhaarigen einen Blick über die Schulter wenden. Die Zuversicht, die leise darin mitschwang, veranlasste ihn zu einem flüchtigen Lächeln, das kurz um seine Mundwinkel spielte. Allerdings nur, bis er ihre Hand entdeckte, die sie auf untrügliche Art und Weise auf ihre Seite presste und die ihm verriet, dass die Schwarzhaarige tatsächlich verwundet worden war.
Eigentlich hätte er die Zeit liebend gern genutzt, um seine Pistole nachzuladen. Wahrscheinlich war genau das hier diese eine, einzige Gelegenheit, die er dafür bekommen würde. Doch die Überraschung und wohl auch Sorge über eine mögliche Verwundung ließen Lucien einen winzigen Augenblick zu lange zögern. Wenige Herzschläge zu lange den Blick auf seiner Begleiterin ruhen und letzten Endes wohl auch langsamer werden, als er hätte werden dürfen.
Gerade, als er die oberste Stufe erreicht hatte, brachte eine kalte Stimme und das unmissverständliche Klicken zweier Pistolen die Flüchtenden zum Stehen. Selbst Lucien, der sich selten genug von einer Waffe verunsichern ließ, stoppte dieses Mal. Einerseits, weil Shanaya stehen blieb, andererseits weil die Überraschung darüber, wie verflucht schnell ihre Verfolger waren, ihn in einem Anflug von Verblüffung innehalten ließ.
Sein Blick folgte dem Shanayas, fand die beiden Männer am Fuße der Treppe und die Mündungen der beiden Pistolen, die zu ihnen hinauf deuteten. Selbst wenn der Dunkelhaarige es mit einem gewagten Sprung auf den oberen Treppenabsatz schaffen würde, aus der Schussbahn zu kommen – die Schwarzhaarige saß in der Falle. So oder so. Vielleicht war es in dieser Situation das einzig Richtige, nachzugeben. Um nicht erschossen zu werden. Doch als die junge Frau zu ihm hinauf sah und Lucien – durch die Bewegung aufmerkend – ihrem Blick begegnete, schüttelte er in stummen Widerwillen den Kopf. Er sah ihr an, was sie vor hatte, lange bevor sie sich wieder herum wandte und ihre Worte an Mardoc richtete. Und es passte ihm ganz und gar nicht.
Sein Griff schloss sich fester um den Griff seines Degens, an den seine Hand irgendwann in den letzten Sekunden reflexartig gewandert war, bis die Knöchel weiß hervor traten, während sein Verstand in rasender Geschwindigkeit seine Möglichkeiten auslotete. Besonders viele waren es nicht. Genau genommen... hatten weder er noch Shanaya eine Chance, sich zu wehren, ohne vorher erschossen zu werden. Außer, er warf seine Pistole mit so viel Kraft gegen den Kopf des Hünen, dass er davon bewusstlos wurde...
Die frustrierende Machtlosigkeit, mit der er ansehen musste, wie die Schwarzhaarige die Stufen hinunter schritt, ließ ihn die Zähne zusammenbeißen. Er verabscheute dieses Gefühl aus tiefstem Herzen. Doch letzten Endes überzeugte er sich selbst davon, dass abwarten gerade das beste war, was er tun konnte. Wenn die beiden Männer mit ihrer vermeintlich sicheren Beute das Haus verließen, bot sich ihm möglicherweise eine bessere Gelegenheit...
„Kümmere dich um ihn.“
Die Worte rissen Lucien zurück in die Gegenwart. Sein Körper spannte sich unwillkürlich an, als die tiefgrünen Augen von Shanaya und Mardoc zu dem Mann mit dem Degen wanderten, dem die Aufforderung offensichtlich gegolten hatte. So viel zu ihrer Bitte 'ihn aus dem Spiel zu lassen'. Ehrlich gesagt hatte er ohnehin nicht damit gerechnet, dass man ihrem Wunsch entsprach.
Er zog den Degen erneut aus der Scheide, nahm mit einem vorsichtigen Schritt rückwärts die letzte Stufe und zog sich in die Dunkelheit der oberen Etage zurück. Schön. Sollte er kommen. Dann fanden sie eben jetzt heraus, wie gut er noch mit der Klinge war – und wenn er sich beeilte... konnte er Shanaya und ihrem Entführer hoffentlich noch folgen.