27.05.2019, 08:28
„Du meinst, weil du ein so zurückhaltender Esser bist?“, fragte er ungläubig schmunzelnd und schüttelte daraufhin langsam den Kopf. Das würde ihr bedauerlicherweise niemand glauben. Niemand, der sie kannte, jedenfalls. „Der eine Teil kennt dich diesbezüglich. Beim anderen Teil kannst du vielleicht noch hoffen, dass sie sich auf dein vertrauenvolles Auftreten verlassen und niemand von uns in Gelächter ausbricht. Du weißt ja – Betrunkene sagen immer die Wahrheit.“
Und manche waren weitaus besser dabei als beispielsweise Farley oder er. Trotzdem – Liam war ganz froh, dass sie Shanaya dabeihatten. So musste sich nämlich weder der Jüngere noch er groß auf den Weg konzentrieren. Er wäre der Schwarzhaarigen vermutlich überall hin gefolgt, ohne sich groß Gedanken zu machen. Na, bis zum Stadtrand jedenfalls, dann würde er womöglich doch stutzig werden. Der Lockenkopf hatte mittlerweile nach einem weiteren Spieß gegriffen, um seinem Angebot an Farley etwas Nachdruck zu verleihen. Doch kaum, dass er es an seinem Gesicht vorbei in die Richtung ihres Begleiters reichen wollte, schlug ihm eine zierliche, aber recht entschlossene Pfote das Häppchen aus der Hand. Sineca hatte die Krallen darin vergraben, zog es an sich heran und drehte sich vorsichtshalber so herum, dass ihre Rute aufdringlich im Gesicht ihres einstigen Retters hing. Liam hatte von Anfang an nicht vorgehabt, sich nun mit der Ginsterkatze um die geklaute Beute zu streiten. So war sie wenigstens beschäftigt.
„Na, sag das doch! Ich bin dir gerne behilflich. Du würdest das Gleiche immerhin für mich tun.“, unterstellte er ihr kurzerhand und schob sich mit der freien Hand den gefleckten Pelz aus dem Gesicht. Shanaya hatte sich mittlerweile halbherzig vor ihm in Sicherheit gebracht, doch das war nichts, was er akzeptierte. „Fleisch, Gemüse, Käse, Brot?“
Ganz automatisch führte ihn sein Weg ebenfalls leicht schräg der Bewegung der Jüngeren hinterher, während er aufzählte, welche Arten von Spießen er im Licht der Nacht erkennen konnte. Die Spieße, die mit Fisch gespickt waren, ließ er von vornherein aus. Doch Liam wartete nicht auf eine Antwort, fischte abermals einen Spieß von der ihm zugewandten Platte und hielt ihn der Dunkelhaarigen so weit vor die Nase, dass er ihr einerseits nicht das Auge ausstach, sie ihn aber andererseits recht einfach mit dem Mund erreichen konnte. Liam war ein wenig überrascht darüber, wie viel Konzentration es mittlerweile tatsächlich benötigte, ihr das Essen möglichst gleichmäßig vorzuhalten und gleichzeitig weiterzulaufen, ohne über eine Kante des Kopfsteinpflasters zu stolpern, welches den Boden zierte. Ganz so nüchtern, wie ihm sein Kopf bei all der Frischluft glauben machen wollte, war er also definitiv nicht.
„Du weißt noch, wo wir hinlaufen?“, fragte er schließlich an Shanaya gewendet. „Ich habe nämlich absolut nicht aufgepasst.“
Auf dem Hinweg nicht, weil er mit dem plötzlichen Überangebot an Sauerstoff beschäftigt war und bis hierher nicht, weil ihn die Häppchen ein kleines bisschen abgelenkt hatten. Aber nur ein kleines bisschen!