22.05.2019, 15:48
In ihm war es genau so wüst und leer, wie die äußere Welt für ihn geworden war. Dort hatte ihn die See bereits geschluckt und hinabgezogen, hatte ihn mit Vergessen und Stille tief in die Dunkelheit gelockt, bot ihm Schutz und Geborgenheit vor seinem Schmerz und schlang Tentakel um Tentakel besitzergreifend um ihn, nur um ihn noch tiefer zu ziehen.
Es kümmerte ihn nicht. Zu schwach war die Erinnerung daran, dass er dort draußen nicht alleine war. Der Frost in seinem Herzen verdrängte jegliches Denken an diese Anderen, deren Gefühle, ja sogar an sein eigenes Wohlbefinden.
'Keine Sorge, ich bin hinter dir. Wohin du auch gehst, immer nur einen Schritt hinter dir.'
Wieder und wieder hallten die Worte durch seinen Geist. Warum hatte er sie nicht umgesetzt? Es war doch eh alles gleich und es wäre so viel einfacher!
So sehr der 26jährige sich das allerdings auch wünscht, ein Teil von ihm war noch nicht besiegt, wollte immer noch leben:
Sein junges, damaliges ich, in dem das Herz des unzähmbaren, wilden Wolfes noch immer kräftig schlug, dessen Verstand immer frei gewesen war und der nie unter der Tyrannei anderer gelitten hatte, dieser Junge, der er in seinen Träumen immer noch war, lag betäubt und angekettet zu den Füßen des Eisblockes, der sein älteres Ich von der Außenwelt abtrennte, dort, am Grunde dieser seltsamen See.
Bliebe er in diesem Zustand, so würde sich das bald ändern, denn bereits jetzt hatte das Eis angefangen Kettenglied um Kettenglied mit Frost zu überziehen und mit eisigen Fingern nach ihm zu greifen.
Als Skadi in das Netz glitt, wirkte das Schaukeln wie ein Tropfen, der in die stillen See seines erstarrten, ausgehöhlten Verstandes fiel und leicht Wellen schlug. Jemand oder etwas war zu ihm gekommen.
Der Ältere zog sich noch mehr in sich zurück, wollte nicht gestört werden. Wie die Stacheln eines Seeigels spreizte der Block Eiszapfen ab.
Der Junge von damals erschauderte zunächst unter der Wucht der Kälte, die plötzlich um ihn toste. Als er darin jedoch die Welle spürte, regte er sich überrascht, fragte sich, wer es wohl wäre. Mühsam versuchte er die Augen zu öffnen und die Dunkelheit zu durchdringen. Überrascht stellte er jedoch fest, dass er selbst dann, wegen eines schimmernden Kästchens, was er an sich gedrückt hielt, nichts sehen konnte.
'Was ist das?'
Eine wage Erinnerung sagte ihm, dass das, was auch immer darin war, ausreichen würde, die Kälte zu vertreiben, doch er wusste nicht was noch wie die Schatulle zu öffnen.
Knarrzen ließ ihn sich herumdrehen und sehen, wie nah das Eis ihm schon war, und wie dick es um diesen Fremden sich gebildet hatte, mit dem ihn die Ketten verbanden.
Wer war das? Und warum ließ er ihn nicht einfach gehen?
Aufgestört von der Angst, genau so zu erfrieren, zog der Junge verzweifelt an seinen Fesseln, doch je mehr er sich wehrte, um so schneller wuchs ihm das Eis entgegen.
Erneute glitten Wellen sacht durch die Leere als sie sich neben ihm zusammenrollte. Tränen standen in den Augen des Jungen, jene, die der ältere nicht weinen konnte.
Dann drangen sacht die ersten Töne herab.
Die kannte er doch! Oder? Und die Frau, die da summte auch?
Ein Zucken ging sowohl durch den Körper im Eis, als auch durch den des Knaben. Sehnsucht nach verlorenem stellte sich ein und durchdrang wie ein Hauch die Finsternis, entfernte Erinnerungen traten schemenhaft an den Horizont. Früher hatte das jemand für sie getan. Auch eine Frau. Nein, zwei. Eine ältere und ein Mädchen. Doch es war keine von beiden.
Dennoch versuchte der Junge verzweifelt nach ihr zu greifen, sich an Licht und Wärme zu klammern und so der kalten Finsternis zu entfliehen, in die Enrique sich so bereitwillig gestürzt hatte.
Nach außen drang wenig von diesem Kampf:
Ein leises Stöhnen, ein zucken der Hand vor Skadi, ein silbernes Glitzern, als sich ein einzelner Tropfen salziger Flüssigkeit aus dem Augenwinkel löste und kurz darauf in der Nacht unter ihnen verschwand.