21.05.2019, 11:50
Lucien stieß in gespieltem Erstaunen die Luft aus, tat ganz offensichtlich so, als würde ihn die Härte in der Stimme des Fremden mächtig beeindrucken. Dass tatsächlich so etwas wie Neugier in ihm aufstieg, ließ sich jedoch nicht verleugnen. Der 21-Jährige kam nicht umhin, sich zu fragen, was es mit dieser Situation auf sich hatte, in der er sich unversehens wieder fand. Wer war dieser Kerl, der Shanaya verfolgte? Jemand, dem sie früher an diesem Abend auf irgendeine Art und Weise auf den Schlips getreten war? Oder jemand, den sie schon länger kannte? Beides konnte er nicht ausschließen. Immerhin waren sie schon vor wenigen Tagen einem Mann begegnet, dem die Schwarzhaarige offensichtlich in ihrer Vergangenheit bereits begegnet war. Tatsächlich tippte der junge Captain auf diese zweite Möglichkeit. Er machte es schlicht und ergreifend an ihrem Blick fest. Und der Tatsache, dass sie floh und der Gefahr nicht lachend ins Gesicht sprang. Auf ihrem Gesicht hatte nicht der Hauch eines Lachens gelegen. Das hier war anders als das Scharmützel mit den Soldaten vor nur ein paar Tagen.
Der Fremde trat einen Schritt näher und wie von selbst wanderte Luciens Hand zum Knauf seines Degens. Er zog die Waffe nicht, aber er war bereit, es innerhalb eines Sekundenbruchteils zu tun. Was für eine gewaltige Dummheit. Sein Verstand wusste das nur zu gut. Der Mann, dem er gegenüber stand, überragte ihn noch und der 21-Jährige hatte lange Zeit schon keinen Degen mehr benutzt. Von der Tatsache, dass er nach vier Wochen noch immer nicht genug Gewicht auf den Rippen hatte, ganz zu schweigen. Aber einem anderen Teil in ihm war das vollkommen egal. Ein kleiner Krampf, der ihn an den Rand der Erschöpfung brachte? Die ein oder andere Verletzung, die ihn daran erinnerte, dass er durchaus noch dazu in der Lage war, Schmerzen zu empfinden? Warum nicht?
„Du meinst die Wirtstochter? Verdammt, und mir hat sie erzählt, sie wäre noch Jungfrau.“
Er hatte die Chancen für eine erfolgreiche Finte bereits grob im Kopf überschlagen. Sie ging gegen null. Deshalb hörte man ihm auch an, dass er keine Sekunde daran glaubte, es ginge hier um die Wirtstochter. Dennoch huschte Luciens Blick in diesem Moment zu der Tür zurück, durch die diese verschwunden war und auf die nun einer der beiden Schläger zusteuerte. Genau. Geh ruhig rein. Trink ein Bierchen...
Dass sein Gegenüber ihn überhaupt in diese Richtung geschickt hatte, versicherte dem Dunkelhaarigen zumindest, dass Shanaya außer Sicht gegangen war, bevor ihre Verfolger die Gasse betreten hatten. Sie wussten also nicht mit Gewissheit, wohin sie verschwunden war – und er hütete sich, ihnen die Richtung zu weisen, indem er auch nur daran dachte, dorthin zu sehen.
Schwieriger war dabei allerdings der zweite Mann, der dazu ansetzte, sich an dem jungen Captain vorbei zu drängeln und der Schwarzhaarigen damit zu folgen. Stellte er sich ihm jetzt in den Weg, würde er ihren Aufenthaltsort verraten und die ganze Gruppe auf ihre Fährte bringen. Ließ er ihn passieren, hatte es Shanaya nur mit einem Gegner zu tun. War sie bewaffnet gewesen? Er hatte nicht darauf geachtet. Allerdings... wann war sie jemals nicht bewaffnet?
Also ließ er zu, dass der Typ ihn grob mit der Schulter zur Seite stieß und sich damit an ihm vorbei drängelte. Folgte ihm nur noch kurz mit dem Blick, als wollte er sich vergewissern, dass er ihn nicht hinterrücks erstach. Dann richteten sich die grünen Augen wieder auf den Mann, der allem Anschein nach ihr Anführer war.
„Und was genau habt ihr vor, wenn ihr sie gefunden habt?“
Auf seinen Lippen lag ein grimmiges Lächeln. Er wusste ganz genau, dass er diese Männer nicht loswerden würde. Der hier schien ihm gerade genug Grips zu haben, um sich nicht durch eine Lüge auf den falschen Weg bringen zu lassen. Aber er konnte die Gruppe aufsplitten und zumindest einen Teil von ihnen so lange es ging ablenken. Und mal sehen, wie gut er mit der Klinge noch umzugehen vermochte...