21.05.2019, 06:15
„Mein lieber Trevor“, sagte Lissa und Trevors Knie gaben unter ihm nach. Irgendwie kam er auf einer Truhe oder so was zum Sitzen, aber er wäre auch anstandslos auf den Boden gesunken. Mein lieber Trevor, so fingen ihre Briefe immer an, so hatte er seinen Namen lesen gelernt, er sah die Worte vor seinem inneren Auge auf hunderten von verschiedenen Briefen, die Aranne ihm über all die Jahre hinweg geschickt hatte. Auf manchen waren die Buchstaben hübsch geschwungen, auf anderen hastig hingekritzelt, manchmal von Wind und Wasser zerfressen, manchmal, als hätte sie sie gestern erst niedergeschrieben.
Trevor zuckte heftig zusammen, als im bewusst wurde, dass er gerade die nächsten Sätze völlig verträumt hatte. Er sprang auf, wollte Lissa unterbrechen, traute sich nicht, fuhr sich verzweifelt durch die Haare, bekam die Augenklappe zufassen und kippte wieder zurück auf seine Truhe. Von da an hing er Lissas Lippen, mucksmäuschenstill, nur seine Hände bewegten sich und drehten das Band der Augenklappe um seine Finger. Er hatte die Augen so weit aufgerissen, dass man ihm vermutlich ansehen konnte, wie es dahinter ratterte. Eine Insel mit trockener Luft? Auf welcher Insel gab es denn trockene Luft, eigentlich konnte Trevor sich überhaupt gar keinen Ort mit trockener Luft vorstellen, was war denn das für eine Kombination und wer bitte schön verbat Aranne Scovell, etwas zu erzählen?! Und sie hielt sich auch noch daran! Aber Abenteuer, Abenteuer klang klasse, es sei denn, man konnte die nicht erleben, weil man eine Aufgabe hatte, was war denn das für eine dämliche Aufgabe, bei der man keine Abenteuer erleben durfte?! Oder war Aufgabe dasselbe wie Mission, das hörte sich schon besser an, Solasnawas?! Und was denn jetzt für Pflanzen, sie wollte doch von dem Schiff erzählen, dass sie zurücklassen mussten! Man ließ doch sein Schiff nicht zurück! Und Daniel war verletzt?! Aber wohl irgendwie auf lustige Weise, was Trevor ein kurzes, schiefes Grinsen entlockte, er war nämlich auch verdammt gut darin, sich auf lustige Weise zu verletzen.
Und dann hörte Lissa auf zu lesen. Trevors Grinsen rutschte von seinem Gesicht, verdattert starrte er sie an. Erst als Gregs Hand in seinem Blickfeld erschien und nach den beiden Papieren griff, verstand er, dass der Brief zu Ende war. In Liebe, deine Mutter Aranne. Ungläubig sah er zwischen seinem Bruder und dem Brief, dem Brief und Lissa, Lissa und Greg hin und her und schließlich tatsächlich nach oben über seinen Kopf, weil er sichergehen wollte, dass es nicht aus seinen Ohren rauchte. Das wäre jetzt irgendwie passend gewesen. Ihm war ein bisschen nach Weinen zumute. Aber er war nicht mehr der fünfzehnjährige Junge, der auf den Horizont starrte, bis seine Augen anfingen zu tränen. Er war jetzt erwachsen, jawohl. Also holte er stattdessen tief Luft – und explodierte.
„EINE GEHEIMMISSION! ICH WUSSTE ES! ICH HAB‘S GESAGT, HAB ICH‘S NICHT GESAGT, GREG?!“
Er war wieder auf den Beinen, brauchte eine Sekunde, um seine Hände vom Band der Augenklappe zu befreien, das hatte er völlig vergessen gehabt und jetzt bluteten seine Hände wieder heftig, aber egal, er riss seinem Bruder den Brief aus den Händen. Mein lieber Trevor, er las die Worte nicht, er erkannte sie wieder –
„‚Mein lieber Trevor!‘, das steht da, oder Greg, das steht da! Mein lieber Trevor!“
Er presste den Brief an die Brust, dann sah er ihn sich wieder an und diesmal fiel ihm das Blut auf und seine Augen wurden groß und seine Atem stockte und er wusste nicht wohin mit dem Brief und irgendwie gab er ihn Greg zurück, aber wohin jetzt mit ihm selbst?! Umarmen, Umarmen war eine klasse Idee, Greg! Er fiel erst seinem Bruder um den Hals, dann packte er Lissa, wirbelte sie herum, küsste sie, bevor sein Blick auf die Kiste voller Papiere fiel und er die junge Frau losließ, als er hätte er sie plötzlich völlig vergessen.
„Es fehlt ein Blatt, oder? Aranne meinte, es sind drei, aber es sind nur zwei, ich hab sie gezählt, du hast es bestimmt nur übersehen!“
Im nächsten Moment hatte er die Kiste schon auf den Kopf gedreht, Papier regnete, Trevor kniete auf dem Boden und wühlte nach– eigentlich hatte er keine Ahnung, irgendwas eben, was den anderen Blättern ähnlich sah, was hatte Aranne zuletzt gesagt oder zuerst, die Pflanzen hatten ihnen das Leben gerettet, die Pflanzen –
„GREG!“
Er fuhr zusammen, als hätte ihn die Erkenntnis buchstäblich getroffen. Als hätte er gerade bemerkt, dass er tatsächlich daran gezweifelt hatte.
„Greg! Sie sind am Leben!“
Zumindest waren sie das gewesen, als Aranne den Brief geschrieben hatte, wann war das noch gleich gewesen, war ja auch egal, so oder so, sie hatten keine Zeit zu verlieren! Schon war er wieder auf den Füßen, stolperte beinahe über den verletzten Knöchel, fing sich mit einer halben Pirouette und weil er Greg am Hemd packte.
„Solaswerweißwas war aus der fünften Welt, oder? Die fünfte Welt, Greg! Das sind nur vier Welten von hier, oder sogar nur drei, keine Ahnung, verwirrend, aber auf jeden Fall braucht man nur eine Hand zum Zählen! Das ist gar nicht so weit! Wir – wir müssen mit Talin reden! JETZT!“
Ohne einen Blick zurück zerrte er seinen Bruder hinaus auf die Straße. Notfalls würden sie sich eben ihr eigenes Boot kapern und bis in die fünfte Welt paddeln!
[ An Lissas Stand || bei Lissa und Gregory ]