20.05.2019, 20:58
Die Frau, die Lucien an die Wand gedrückt hatte, war kurz in Shanayas Unterbewusstsein aufgetaucht. Einen kleinen Moment, einen Herzschlag lang. Sie hatte keine Chance, sich auch nur einen Hauch länger damit zu befassen. Auch dass der Dunkelhaarige ihren Namen ausgesprochen hatte, war ihr nicht entgangen, hielt sie jedoch nicht auf. Sie hasste es. Jede Faser in ihrem Körper sträubte sich dagegen, nicht die Waffe zu ziehen, sich umzudrehen und auf die Ankunft der Männer zu warten. Die Narben, die unter ihrer Bluse unangenehm kribbelten, hielten jedoch ihren gesunden Verstand wach. Sie waren zu viele – und mindestens einer von ihnen würde keine Sekunde zögern, sie zu töten. So, wie er es schon oft genug fast getan hätte.
Sie lief also wieder los, die Frage der fremden Frau hätte sie in einem anderen Moment vielleicht dazu gebracht, die Augen zu verdrehen. Aber nicht jetzt. Sie war unwichtig, und auch Lucien beachtete sie nicht mehr. Nur seine Worte, die er noch an die Fremde richteten nahm sie unterbewusst wahr. Einen Augenblick lang fragte sie sich, wieso er sie fort schickte. Wieso er nicht einfach weiter machte, wo er aufgehört hatte. Aber auch dieser Gedanke verging viel zu schnell wieder, ihr rasendes Herz trieb sie weiter, gab keine Ruhe. Auch wenn ihre Füße ihr längst den Dienst versagen wollten. Aber die letzten Worte des Mannes führten dazu, dass sie mit dem nächsten Herzschlag um eine Ecke bog, keuchend zum stehen kam. Sie hätte weiterlaufen sollen, aber dieses eine, bestimmte Gefühl hielt sie davon ab. Das hier war nicht Luciens Problem – und trotzdem... Es war nicht ihre Art, dass andere ihre Angelegenheiten regelten, während sie selbst weglief. Auch, wenn sie ganz genau wusste, wieso sie diesen Weg wählte. Trotzdem blieb sie hier, lauschte. Die Schritte kamen näher, wurden leiser und Luciens Stimme drang erneut an ihre Ohren. Er hielt sie auf. Er wollte ihr Zeit verschaffen. Einen Moment konnte diese Tatsache sie erwärmen, brachte sie hauchzart zum lächeln. Aber ihre Hand wanderte zu ihrem Degen, schloss sich sicher um den Knauf. Es konnte ihr egal sein, wenn jemand verletzt wurde, auch wenn sie Lucien mochte. Allerdings nicht, wenn es hier um sie ging.
Mardoc wurde langsamer, als der junge Typ sich ihm und seinen Männern in den Weg stellte. Er hatte das Licht aus der Taverne gesehen, das nur noch durch den Spalt der Tür gefallen war, in dessen Nähe der Mann stand. Seine braunen Augen ruhten fest auf Lucien, seine Worte hatten ihm ein kaltes Lachen entlockt.
„Versuch nicht, mich für dumm zu verkaufen. Wo versteckst du das kleine Flittchen?“
Er nickte zwei seiner Männer zu, ehe er noch einen Schritt näher an Lucien heran trat, zu seiner ganzen Größe aufgebaut. Einer der Männer trat in die Richtung der Tür, die in die Taverne führte. Der andere machte sich auf den Weg, die Straße entlang. Weit konnte sie nicht gekommen sein. Mardoc selbst hielt Lucien fest im Blick. Die Waffe hielt er fest umklammert, hob sie jedoch nicht an.
„Wir finden sie, davon wirst du uns auch nicht abhalten.“
Shanaya hörte die Stimme des Mannes, die ihr einen eiskalten Schauer durch den Körper jagte. Sie trat einen Schritt näher zur Straße, blieb jedoch weiterhin versteckt. Sie würde erst eingreifen, wenn es nötig wurde. Vielleicht wurde Lucien die Gruppe irgendwie los. Sie hoffte es, auch wenn sie Zweifel daran hatte. Aber sie war bereit, vor allem als sie die Schritte vernahm, die sich wieder in Bewegung gesetzt hatten. Sie rechnete mit allem, lauschte zeitgleich aber auch darauf, was bei Lucien passierte.